Die Tuberkulose-Frauen
„Die Vergangenheit ist der Zukunft ähnlicher als das Wasser dem Wasser.“
Ibn Khaldun
A
Die Schritte der schwer beladenen Pferde zerteilten das Mondlicht und streuten es über die Felsen und Steine am Fuße des Mardin-Gebirges. Kalo ließ sein Pferd frei, das wiehernd auf der in weißem Licht liegenden Wiese zu grasen begann. Er pustete kräftig auf die Fackel, um sie anzufachen, und ließ ihr Licht über die Felsen gleiten, als wolle er deren Inneres ergründen. Schließlich verweilten seine Augen auf einer Sonne, die in einen der Felsen eingraviert war. Er drehte sich zu Silteh um und rückte den Verband an seinem linken Handgelenk zurecht. Dort hatte er sich mit seinem Dolch geritzt und dann Salz in die Wunde gestreut. Der Schmerz sollte ihm helfen, in den nächsten Nächten den Schlaf zu besiegen. Kalo hob die Fackel, deren Licht nun auf sein Gesicht fiel, und fuhr sich mit der linken Hand über seinen langen gefärbten Bart. Silteh stieg vom Pferd, seufzte unter dem Schal, der ihr Gesicht bedeckte, und ergriff die Fackel. Die Lichtstrahlen tanzten wie die Flügel eines Schmetterlings um ihren Kopf. Sie blickte zu Kalo, der mit seinem Dolch in der Erde neben dem Felsen herumstocherte und schließlich eine Metallkiste von der Größe seiner Hand aus dem Boden holte. Dann löschte er die Fackel mit etwas Erde und sie setzten ihren mühevollen Aufstieg auf die im Mondlicht liegende Bergkette fort.
– Wann kommen wir an, Tante?
Silteh konnte Aischanes heisere Stimme kaum von den Geräuschen der Hufe unterscheiden, die sich durch die Dunkelheit geheimer Pfade ihren Weg bahnten. Sie dachte über die Frage des Kindes nach, die wie ein Vogel auf sie zugeflogen war, der plötzlich aus dem dichten Laub eines Baumes aufflatterte. Das Mädchen fragte sie erneut, diesmal noch eindringlicher:
– Wann sind wir endlich da, Tante?
– Warum fragst du, Töchterchen?
Die Tante hatte noch immer ihren weißen Schal vor dem Gesicht, er war feucht und ihre Stimme voller Angst.
– Ich bin müde, ich möchte schlafen, lasst uns eine Weile anhalten, sagte das Mädchen. Ihr Tonfall verriet, dass sie an den Ort dachte, den sie verlassen hatten. Sie wollte so lange wie möglich in der Nähe ihres Geburtsortes bleiben und gab deshalb vor, schlafen zu wollen. Vielleicht hielt der Schlaf die Zeit an?
– Lass uns hier zwischen den Felsen bis zum Morgengrauen ausruhen, Kalo.
Siltehs brüchige Stimme drang in Kalos Ohren, als klopfte sie ihm dabei begütigend auf die Schulter. Er lief vor ihnen und zog sein Pferd hinter sich her. Ohne sich umzudrehen oder nachzudenken, so als hätte er sich die Antworten auf alle Fragen, die während ihrer Reise gestellt werden würden, schon lange vorher überlegt, sagte er:
– Am Tag werden uns die Soldaten der osmanischen Armee entdecken. Wir laufen jetzt weiter und ruhen uns dann bei Tagesanbruch aus. Wir können jetzt nicht rasten, Chanum.
Aischane gab sich geschlagen, sie würden also bis zum Morgengrauen weiterlaufen. Sie legte ihren Kopf auf den Hals der Stute und umarmte sie mit beiden Armen.
– Schlaf nicht auf dem Pferd ein, Aischane, du fällst sonst herunter, sagte Silteh in einem Ton, der an den Knall einer Pferdehaarpeitsche erinnerte, und ging auf sie zu, um sie von der Stute herunterzuholen.
Alles erschien wie der Schatten vergangener Dinge, jeder Gedanke, jeder Kieselstein, jeder Felsen, jede Handvoll Erde, jeder Schritt, jedes Murmeln, alles war eine Last auf ihren gebeugten Rücken und begleitete die drei Pferde, die von einem Kind, seiner Tante und ihrem Diener hinter sich hergezogen wurden, auf ihrem Weg in die Fremde.
Kalo war zwölf gewesen, als ein osmanischer Offizier seinen Vater erschoss. Der Vater hatte sich bei dem Offizier beschwert, weil die Soldaten neben dem Backofen der Familie vor dem Haus urinierten. Kalo weinte damals nicht. Er und seine Mutter verließen ihr Dorf in Richtung der Felder und Gärten der jesidischen Dana-Stämme in der Region von Mardin, wo die Mutter ein Jahr später an Tuberkulose sterben würde, isoliert und allein in einer Lehmhütte am Rande der Obstgärten. Niemand wusste etwas über ihn, keiner hatte ihn jemals etwas gefragt, und das beunruhigte und beschäftigte ihn. Viele Male hatte er vor dem Schlafengehen auf seinem Kissen vor sich hin gemurmelt: „Es ist ganz egal, ob es mich gibt. Nur Steine, Bäume und Waisen fragt man nichts.“
Er wünschte sich oft, dass jemand ihn etwas fragen würde, nur um antworten zu können: „Ich weiß es nicht.“ Darauf hatte er sich in den drei Jahrzehnten seines Dienstes im Palast des Anführers Kasu vorbereitet.
– Wartet hier. Ich schaue mich mal um.
Augenblicke später kehrte Kalo zurück und sie gingen in eine Höhle hinein, die so tief war wie die Bittgebete von Menschen, die sich in Gefahr befanden.
Wie Föten im Mutterleib bewegten sie sich im Bauch der Höhle, das Rascheln ihrer Kleidung vermischte sich mit dem Echo ihres Atems und drang durch die finstere Nacht. Die Geräusche ihrer Bewegungen waren die alleinigen Anzeichen für ihre Existenz an diesem Ort. Kalo fragte sich, ob ihre Pferde im Stehen oder im Liegen schliefen. Silteh, die auf dem Boden saß, hatte Aischane auf ihre Knie gelegt, den Kopf zwischen den Handflächen, die so zart waren wie aus der Erde sprießende Pflänzchen.
Silteh atmete lauter, um Kalo durch ein stärkeres Echo in der Höhle zu zeigen, dass sie noch nicht schlief. Auch Kalo änderte den Rhythmus seiner Atmung. Silteh spielte den Ball zurück. Sie atmete noch schneller ein und aus und wartete erneut auf Kalo. Dann traute sie sich, ihm eine Frage zu stellen, die durch die Dunkelheit in seine Ohren polterte:
– Du schläfst noch nicht, Kalo!
– Du auch nicht, Chanum.
– Wirst du später nach Mardin zurückkehren?
– So habe ich es ihnen versprochen.
Silteh atmete wieder ruhiger, sie hatte sich etwas beruhigt, nachdem sie begonnen hatte, mit Kalo zu reden. Sie drehte ihren Kopf in seine Richtung, um ihn nicht zu verlieren. Beide versuchten herauszufinden, wo in diesem Dunkel der andere saß, indem sie dem Echo der Stimme folgten.
– Ich wollte mit dir über etwas reden, was Aischane nicht hören soll.
– Versuch zu schlafen, Chanum, wir reden später.
– Bist du müde?
– Nein, aber es ist besser, wenn du zusammen mit Aischane schläfst, damit sie sich beim Aufwachen nicht einsam fühlt.
– Ich habe Angst, dass die große Einsamkeit sie verschlingen wird, Kalo, das beschäftigt mich die ganze Zeit.
– Beruhige dich jetzt, Chanum, denk nicht an alles auf einmal, das ermüdet dich nur.
– Gelingt dir das etwa?
– Männer sind anders als Frauen, Chanum. Im Moment bin ich allein damit beschäftigt, euch zu beschützen und vor schlimmen Dingen zu bewahren.
– Hör mir gut zu, Kalo. Wenn wir ankommen, musst du unsere Geschichte, unsere Abstammung und unsere Religion vor den Menschen dort verheimlichen.
– Wie soll das gehen?
– Überleg dir eine Geschichte und präge sie dir gut ein, damit du sie den Leuten erzählen kannst.
Kalo atmete wieder unregelmäßig und ließ das Echo in diesem Käfig aus Stein schneller werden, als wäre er über Worte gestolpert, die er nicht verstand.
– Ich bin nicht gut darin, mir Geschichten auszudenken, Chanum.
– Bitte überleg dir etwas. Unsere Flucht ist umsonst, wenn die Leute erfahren, wer wir sind. Dann hätten wir auch in unserem Dorf in Mardin bleiben können, Kalo. Denk dir irgendeine Geschichte aus.
Das Echo erstarb für einige Momente, bis Siltehs zitternde, heisere Stimme die Stille des Ortes erneut unterbrach:
– Dann tu einfach so, als wärst du taub, so ersparst du dir die Fragen der Männer.
– Das ist eine gute Idee, aber dann lastet es auf dir allein, Geschichten zu erzählen und dir Antworten auszudenken, sagte Kalo nach langem Schweigen, das Silteh als den Versuch deutete, ihre Idee auszuprobieren.
– Mach dir keine Sorgen, Kalo, Frauen fragt man nicht wie die Männer nach Religion und Abstammung. Tu einfach so, als wärst du mein Ehemann.
Das Echo sank wieder herab wie ein Vogel vom Himmel. Dort im Inneren der Höhle im Mardin-Gebirge, dessen andere Seite auf weite Ebenen mit kleinen Dörfern, Lagern kurdischer Beduinen und ihren Tieren hinausging, kreisten die Gedanken der beiden um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und dort auf den Ebenen würden neue Geschichten erzählt werden, um die alten zu verbergen. Wurde man geboren, um sich zu erinnern und dann zu vergessen und zu verschwinden?
* Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Roman „Die Tuberkulose-Frauen“, auf Arabisch erschienen im Mamdouh-Adwan-Verlag (2022).