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Die Tuberkulose-Frauen (II)

Reber Yousef
Bild von © Adel Dauood, Aufnahme, Acryl auf Leinwand, 140 x 140 cm (2017)
© Adel Dauood, Aufnahme, Acryl auf Leinwand, 140 x 140 cm (2017)

 

Das Ibn-Nafis-Krankenhaus war umgeben von einer Mauer, aus der ein Metallzaun ragte. Unter seiner abblätternden grünen Farbe kam Rost zum Vorschein, überdeckt von Efeu- und Jasminblättern. Das Ganze wirkte wie Tätowierungen auf dem Körper einer Frau, deren Kinder im Krieg gestorben waren.

Auf der Schwelle des Tors, das ins Krankenhaus führte, umarmte Sairaneh die Krankenschwester, die Tränen der Trauer und der Freude zugleich vergoss, und flüsterte ihr ins Ohr:

- Ich hab dich gern, ich habe dich so gern, wie ich dieses Krankenhaus hasse. Ich werde dich vermissen!

Dann ging sie mit Asbied und seiner Frau hinaus. Die Krankenhausverwaltung hatte ein Telegramm an Kaloschs Geschäft in Ra‘s al-Ain gesendet, in dem stand, Sairaneh sei von der Tuberkulose genesen und jemand solle kommen, um sie abzuholen.

Schon bald waren die drei dem Blick der Krankenschwester entschwunden, die am Tor stehengeblieben war und darüber nachsann, ob sie und Sairaneh einander vermissen würden. Sairaneh drehte sich nicht mehr um. Mit großen Schritten ging sie davon, als würde sie von einem unsichtbaren Monster verfolgt, und gelobte sich, nicht noch einmal hierher zurückzukehren, überhaupt nie wieder die Hauptstadt zu besuchen. Dieser Ort war zu einem Dorn geworden, der ihr ins Herz stach. Er war für immer mit den Tagen und Nächten verbunden, die sie im Krankenhaus verbracht hatte. Sie blickte nicht mehr zurück, sah nur nach vorn, auf die Straße, die sie in den Nordosten des Landes führen würde, in ihre Stadt, zu ihrem Mann, ihren beiden Töchtern, ihrem Zuhause, ihren Freundinnen und Nachbarn. Sie blickte nicht mehr zurück, als wolle sie die Orte, an denen sie vorbeikam, gar nicht erst in ihr Gedächtnis aufnehmen, als wolle sie die Hauptstadt wie einen bösartigen Tumor aus ihrer Erinnerung streichen.

Sie setzte sich auf ihren Platz im KARNAK-Bus. Als der Bus durch Damaskus fuhr, schaute sie nicht aus dem Fenster und bat Asbieds Frau, sich nach vorn neben ihren Mann zu setzen. Sie wollte allein sein. Sie hatte Angst zu fragen, warum Najef sie nicht abholte, denn sie befürchtete, die beiden würden ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie wollte sich voller Hoffnung den Augenblick vorstellen, in dem sie zu Hause ankam. Sicher war alles in Ordnung. Sie legte den Kopf an die Fensterscheibe und schloss die Augen vor dem roten Sonnenlicht, das nun unter ihren Augenlidern hüpfte wie Kinder. Sie spürte die Bewegung des Busses in ihrem Herzschlag, er fuhr schnell und ihre Atmung beschleunigte sich, als sie ihrer Stadt und ihrem Zuhause näherkam. Sie ließ sich vom Klang des Busradios ablenken, von den Nachrichten aus aller Welt, sie wollte sich mit Dingen beschäftigen, die nichts mit dem Krankenhaus und der Hauptstadt zu tun hatten. Sie wollte die Orte austauschen, die in ihrem Kopf gefangen waren, ihr Gedächtnis sollte sich an den Klang der Namen anderer Städte gewöhnen. Sie dachte an Najef und fragte sich, ob er wohl mit dem Bus oder mit dem Zug nach Ra‘s al-Ain zurückgekehrt war, nachdem er sie besucht hatte. War es vielleicht derselbe Bus gewesen? Hatte er auf demselben Platz gesessen? Sie berührte das braune Leder des Sitzes und sah die Schweißspuren ihrer Finger, als hätte sie ein Geheimnis darauf geschrieben und wieder gelöscht, indem sie mit der Handfläche über die Sitzfläche fuhr, als folgte sie Najefs Spur. Sie wusste nicht, dass Najef an jenem Tag mit dem Zug zurückgefahren war. Die ganze Zeit hatte er das Tuch in der Hand gehalten, auf das Salma seinen Namen gestickt hatte.

Zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen leisem Weinen und Lächeln, mit einem Gefühl der Verlorenheit und der Sehnsucht saß sie da und blickte von Zeit zu Zeit zu Asbied und seiner Frau hinüber, die schräg vor ihr saßen. Sie musste sich vergewissern, dass sie tatsächlich mit ihnen nach Hause fuhr. Sie nickte ein, träumte, wachte wieder auf und sah erneut zu Asbied und seiner Frau hinüber. Als wären sie Zeugen ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, versicherte sie sich ihrer Anwesenheit, sooft Zweifel sie überkamen und sich nach kurzen Nickerchen Traum und Realität vermischten. Dann versank sie von neuem in der Erinnerung. Sie dachte an Najef und ihre beiden Töchter und konnte es kaum erwarten, den Fuß über die Schwelle ihrer Wohnung zu setzen, die noch so weit entfernt schien und doch so nah war wie die Spur von Sternen in den Augen in einer endlosen Nacht. Sie ließ ihre Gedanken schweifen und ihre Augen blickten nachdenklich auf den Euphrat, den der Bus unter der heißen Sommersonne überquerte. Ihre Seufzer wurden lauter. Das fließende Wasser erinnerte sie an die Zeit, als sie zum ersten Mal nach Ra‘s al-Ain kam.

Sie trug ein weißes Kleid, das man ihr für ihre Hochzeit aus Kamischli mitgebracht hatte. Hand in Hand liefen Najef und sie durch die Menge, die unablässig in ihr fremden Sprachen sang. Noch nie hatte sie jemanden auf Armenisch, Arabisch oder Assyrisch singen hören. Es war wie auf einem Festival, auf dem sich die Sprachen vereint und in eine einzige Sprache verwandelt hatten, die Sprache der großen Hochzeitsfeier, die auf der ganzen Straße vor Najefs Haus stattfand. Sie betrachtete die Frauen und Mädchen, die Hand in Hand mit Männern unterschiedlichen Alters in einem großen Kreis tanzten, in dessen Mitte sich Trommel- und Flötenspieler befanden. Sie erinnerte sich an die Hochzeiten, bei denen sie auf diese Weise in Toki, dem Heimatdorf ihrer Mutter, getanzt hatte. Sie erinnerte sich an all das, was sie seit ihrer Kindheit erlebt hatte, und vergoss ein paar Tränen, die sie schnell mit den Fingerspitzen wegwischte. Dann seufzte sie und nahm sich zusammen, um die Freude der Menschen nicht durch ihre Traurigkeit zu dämpfen. Erneut blickte sie auf den Dabke-Kreis. Noch nie hatte sie Frauen und Mädchen in kurzen Kleidern gesehen und dieses ethnische Mosaik war ihr neu, als sei sie in ein anderes Land und nicht in eine andere Stadt in ihrem Land gezogen.

Wieder lehnte sie ihren Kopf an das Fenster des Busses und senkte die Augenlider, als wäre das Erinnern eine sanfte Möglichkeit, sich vor den Klauen der Entfernung und der Sorge zu schützen. Um ihr Gedächtnis zu testen, ließ sie jene Augenblicke in Ra‘s al-Ain noch einmal Revue passieren. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Lampen sah, die mit Strom und nicht mit Kerosin erleuchtet wurden, an die breiten, regelmäßig angelegten Straßen, den Markt der Stadt und die Betonhäuser mit den sorgfältig gefertigten Bögen über den Fenstern und Türen. Sie erinnerte sich an die Momente, in denen sie Menschen anderer Nationalitäten und Religionen traf, von denen sie noch nie zuvor gehört hatte, als seien die Dörfer Schork und Toki Teil einer anderen Welt – einer Welt, in der man nur Kurdisch sprach. Sie erinnerte sich, wie sie die Tschetschenen kennenlernte, die vor der russischen Armee dorthin geflohen waren, wie sie deren Dörfer in der Nähe von Ra’s al-Ain besuchte und von ihren Frauen zubereitete Speisen aß. Sie lächelte, während sie versuchte, sich wie vor einer schwierigen Prüfung an all diese Details zu erinnern. Sie hatte Angst, die Krankheit könnte ihr Denkvermögen beeinträchtigt haben. Sie kramte in ihrem Kopf nach den Namen der tschetschenischen Dörfer und Familien in der Gegend um Ra’s al-Ain und murmelte die Namen der Familien vor sich hin, die sie kannte: Barkasch-Nika, Achta und Atij. Wieder lächelte sie, als sie sich an die Verlobungszeit bei den Tschetschenen erinnerte. Manchmal dauerte sie bis zu fünfzehn Jahren, dann entführte der junge Mann seine Verlobte und brachte sie zum Haus eines bei den Tschetschenen angesehenen Mannes, um dort darauf zu warten, ob die Familie der Braut der Heirat zustimmte. Die Entführung der Verlobten war Teil eines merkwürdigen Rituals, das Mut und Männlichkeit bezeugte.

Sairaneh stand auf und ging mit schweren Schritten zu Salmas Bett. Sie fuhr ihr mit der Hand durch ihr langes helles Haar und überprüfte ihre Atmung. Ihr Blick fiel auf ihre ausgefallenen weißen Zähne, die auf dem Kissen verstreut waren. Sie schrie und schüttelte sie an der Schulter. Salma wachte auf und blickte Sairaneh in die Augen. Sie sammelte ihre Zähne von Bett und Kissen, häufte sie in ihre Handflächen, als hielte sie ein Vögelchen, ging zum Fenster und flüsterte: „Keine Sorge, Sairaneh, alle meine Zähne sind ausgefallen.“ Sairanehs Kopf stieß an die Rückenlehne des Sitzes vor ihr. Sie öffnete entsetzt die Augen, ihr Gesicht war schweißüberströmt. Sie murmelte schnell ein Bittgebet und hoffte, ihr Traum von Salma möge Gutes verheißen. Sie ließ ihren Blick zum Untergang der Sonne schweifen, die ihre Strahlen über die Ebenen um Ra‘s al-Ain streute. Der Bus hielt an. Sie stieg aus und schaute sich nach Najef um. Dann sah sie Asbied und seiner Frau forschend ins Gesicht und rief so laut sie konnte:

- Wo ist Najef, Asbied? Wo ist er?

Asbied stotterte, seufzte und versuchte, tief durchzuatmen, um ihr zu erzählen, was passiert war. Doch Sairaneh wartete nicht darauf, dass er ausatmete, sondern fiel zu Boden wie eine Feder aus dem Flügel eines Zugvogels.

 

Der Text ist ein Auszug aus dem Roman Die Tuberkulose-Frauen, auf Arabisch erschienen im Mamdouh-Adwan-Verlag (2022). Einen weiteren Ausschnitt aus dem Roman lesen Sie hier.

 

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