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Die Tuberkulose-Frauen (III)

Reber Yousef
© George Ahmad (2023), unter Verwendung einer Fotografie von Max von Oppenheim, Archäologische Ausgrabungen auf dem Tell Halaf (1913) © Public domain
© George Ahmad (2023), unter Verwendung einer Fotografie von Max von Oppenheim, Archäologische Ausgrabungen auf dem Tell Halaf (1913) © Public domain

 

Der Dorfbewohner wandte sich zu Aischane um. Er ließ die Zügel sinken, damit sich die heißen Hufe der Stute abkühlten, und nahm die Peitsche aus ihrem Blickfeld. Sie beruhigte sich und wieherte. Dann ließ er seinen Blick über das Kind gleiten, das reglos dalag wie die Flügel eines nass gewordenen Schmetterlings. Er beobachtete, wie sich seine Brust schnell hob und senkte. Es lebte also noch. Er räusperte sich:

- Wir sind in Tell Halaf angekommen.

Seine Hand streckte sich zum Wasserkrug aus wie eine Schlange, die in einen großen Heuhaufen hineinkriecht.

Aischane hob den Kopf und ihr Kind verschwand zum ersten Mal, seit sie an diesem Morgen auf den Feldweg gefahren waren, aus ihrem Blickfeld. Sie sprang vom Wagen herunter. Der Dorfbewohner hob das Kind hoch und achtete darauf, den durch die Verbrennungen verfärbten Körper nicht mit den Fingern zu berühren.

- Einen Arzt, wir brauchen einen Arzt ... einen Arzt ... einen Arzt!,

rief er mit lauter Stimme, als suchte er jemanden, der in einer endlosen Menschenmenge verlorengegangen war, dann wiederholte er das Wort Arzt auf Arabisch. Er hatte noch vor Aischane und Kalo den Hügel erklommen. Sein Blick fiel auf eine Gruppe dunkelhäutiger Männer in arabischer Kleidung, deren Gesichter mit Staub bedeckt waren, was sie wie Greise aussehen ließ. Die Arbeiter kamen mit Spitzhacken und anderen Grabwerkzeugen auf ihn zu. Sie umringten ihn, machten ihm einen Weg frei und verteilten sich auf beide Seiten, wobei sie ihre Blicke auf das Kind richteten, dessen menschliche Züge durch das Feuer unkenntlich gemacht worden waren. Ein Mann erhob sich von seinem Stuhl, der vor dem geschlossenen Zelt stand. Er war hochgewachsen und trug kurze Hosen und einen großen Strohhut. Die Krempe beschattete sein bronzefarbenes Gesicht, das zerfurcht war wie die Haut einer Schildkröte. Er lief auf sie zu.

Kalo blieb draußen am Zelteingang stehen, während sein Schatten nach innen fiel. Der Arzt nahm das Kind, das nicht mehr weinen konnte und seine Schmerzen nun durch ein kurzes, flaches Keuchen ausdrückte. Er legte es auf das Bett und untersuchte seinen nackten Körper. Sein Blick fiel auf die Spuren von eingetrockneter Linsensuppe, die sich unterwegs mit den Spuren von Verbrennungen und Blut vermischt hatten, wodurch auf dem Körper verschiedene Farben entstanden waren. Aischane begann wieder zu murmeln. Ihre Lippen tanzten durch die intensive Rezitation von Gebetsformeln wie die Flügel eines Schmetterlings in der Nähe einer brennenden Lampe. Der Arzt hob den Vorhang auf der Südseite des Zeltes an und Licht strömte vom Himmel ins Zelt wie Kinder, die zum ersten Mal einen unbekannten Ort betreten. Er hatte ein Skalpell und eine Schere in der Hand und wischte sie mit einem braunen Tuch ab, auf das er eine farblose Flüssigkeit gegeben hatte. Er schnitt dem Kind die Haare ab und es erwachte aus seiner Regungslosigkeit und begann zu weinen. Der Arzt bat den Dorfbewohner, das Kind festzuhalten, damit es sich nicht bewegte. Der Dorfbewohner suchte das Kind nach Stellen ab, die von den Flammen und der Linsensuppe verschont geblieben waren, um es dort anzufassen. Der Arzt säuberte die Verbrennungen und Blasen und entfernte abgestorbenes Gewebe, bis das Kind wie ein Vogel aussah, dem man gewaltsam die Federn ausgerupft hatte. Er streute Bismutpulver auf die verbrannten Stellen und verband den Kopf, die Hälfte des Gesichts, die gesamte Brust, den Bauch, die Hände und das rechte Bein mit dicken Mullstücken.

Noch bevor der Sonnenuntergang überall seine roten Vögel hatte ausschwärmen lassen, beruhigten sich die Bewegungen des Kindes und es fiel in einen tiefen Schlaf. Es atmete wieder normal, nachdem seine Mutter es mit ihrem Schal bedeckt und ihm die Brust gegeben hatte.

Die Arbeiter zerstreuten sich und gingen zu ihren Zelten, die mit ihren verschiedenen Formen willkürlich am Fuße des Hügels angeordnet waren. Auf Stühlen aus Rohrgeflecht saßen sie nun vor dem Zelt, in dem das Kind schlief, im Kreis um einen kleinen Tisch herum, auf dem Gläser mit Tee standen: der Dorfbewohner, der Arzt, Aischane, Kalo und ein großer, schlanker deutscher Mann mit Bart. Der Arzt stellte ihn als den Leiter dieser archäologischen Expedition, Baron Max von Oppenheim, vor. Der Dorfbewohner fragte, ob Baron sein Vorname sei. Der Arzt antwortete:

- Nein, das Wort Baron bedeutet so etwas wie bei euch zum Beispiel Agha, das ist nicht sein Name.

Aischane wiederum wartete auf eine Gelegenheit, um ihren Mut zusammenzunehmen und den Arzt durch den Dorfbewohner nach dem Gesundheitszustand ihres Sohnes zu fragen. All diese Gespräche interessierten sie nicht. Sie ähnelte den überall verstreuten, umgeworfenen Statuen. Ständig rückte sie ihre weiße Kopfbedeckung zurecht und von Zeit zu Zeit strich sie mit den Fingern über ihren blonden Pony, der darunter hervorlugte. Manchmal blickte sie aus den Augenwinkeln zu Kalo, der jedes einzelne Detail um ihn herum beobachtete und dabei perfekt die Rolle des Gehörlosen spielte. Als der Arzt erfuhr, dass sie aus dem Dorf Schork gekommen waren, fragte er den Dorfbewohner in gebrochenem Arabisch:

- Woher wussten Sie, dass wir hier sind? Woher kennen Sie den Ort?

- Ich bin hier vor etwa einem Jahr nach einem Besuch bei meinen Verwandten in Kurd Dagh vorbeigekommen,

stammelte der Dorfbewohner. Er zögerte und beschloss, dem Arzt nicht zu erzählen, dass er mit Tabak handelte und deshalb oft an den verschiedenen Orten dieser Region vorbeikam, in denen viele Tschetschenen lebten, die vor den Grausamkeiten der russischen Armee aus dem Kaukasus geflohen waren. Die Osmanen hatten sie in diese Region gebracht und für sie die Stadt Ra‘s al-Ain wieder aufgebaut, die in der Zeit der Abbasiden ein Handelszentrum und eine Raststation für Karawanen gewesen war. Der abbasidische Kalif Al-Mutawakkil hatte sie als Sommerresort genutzt und Saladin war zur Erholung hierhergekommen. Schließlich war sie auch ein Ziel für die Anführer einiger Reiche, die sie teilweise zerstörten und vernichteten, zuletzt die Mongolen.

Aischane flüsterte dem Dorfbewohner etwas auf Kurdisch zu und er übersetzte ihre Worte. Der Arzt schüttelte den Kopf und lächelte, so dass seine weißen Zähne sichtbar wurden. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund:

- Macht euch keine Sorgen, er wird auf jeden Fall überleben. Die Wunden sind nicht gefährlich, obwohl er blond und hellhäutig ist. Daher sehen die Verbrennungen so schrecklich aus. Ihr werdet drei Tage hierbleiben und dann wird das Kind den Karren mit euch in euer Dorf zurückkutschieren.

Mit diesen Worten beendete der Arzt seine Antwort und sprach dann auf Deutsch mit dem Expeditionsleiter, der jedoch völlig schweigsam dasaß. Aischanes Lippen tanzten erneut und murmelten Bittgebete, nachdem der Dorfbewohner ihr die Worte des Arztes übersetzt hatte, der sich wieder seiner Pfeife zuwandte. Der aufsteigende Rauch hatte die Form einer Gazelle, die sich nicht entschließen konnte, ob sie stehen oder sitzen wollte. Der Arzt forderte Aischane und Kalo auf, mit ihm ins Zelt zu kommen. Er bedeutete ihnen, sich neben Schukri zu stellen, das Kind, das in dem Metallbett schlief. Er drehte ihre Köpfe in die richtige Position und forderte sie auf zu lächeln. Aischane lächelte nicht. Sie rückte erneut den Schal auf ihrem Kopf zurecht und ein Lichtstrahl fiel auf ihren blonden Pony, der so deutlich sichtbar war wie der Schmerz der Verbannten. Er bat sie, die Augen aufzulassen, und zählte laut bis drei. Der Dorfbewohner übersetzte ihnen die Zahlen ins Kurdische. Das Klickgeräusch der Kamera drang an Aischanes Ohren und sie befürchtete, es würde ihr Kind wecken, das neben ihnen schlief. Der Arzt bat den Dorfbewohner um Übersetzung:

- Dieses Bild wird für alle Ewigkeit bleiben.

Aischane dachte über die Wörter Bild und Ewigkeit nach, sie hatte sie noch nie gehört. Ihr Blick wanderte über die Bilder von Menschen, die im Zelt hingen. Sie befürchtete, dass auch ihr Bild aufgehängt werden und damit für Fremde sichtbar sein würde. Wieder rückte sie ihren Schal zurecht, verschränkte die Finger und sah den Dorfbewohner an, als wollte sie ihn bitten, ihre Besorgnis zu übersetzen.

Unter einem Himmel, an dem die flackernden Sterne wie Kaninchen herumzuhüpfen schienen, deren Fell Feuer gefangen hatte, fiel der Dorfbewohner in einen tiefen Schlaf. Sie hatten für ihn ein Bett vor dem Zelt aufgestellt. Aischane jedoch verbrachte die ganze Nacht auf einem Stuhl neben dem Kopf ihres Sohnes, der auf dem langen Metallbett schlief. Sie hatte noch nie ein Bett gesehen. Von Zeit zu Zeit holte sie heimlich ihre Brust heraus und drückte sie, bis Milch herauskam, um sich zu vergewissern, ob sie noch welche hatte. Dann schob sie sie wieder in ihr langes grünes Kleid zurück und wischte mit der rechten Handfläche die warmen Milchtropfen auf ihrem linken Handgelenk weg. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass es ihrem Sohn bald besser gehen würde, machte sie sich Sorgen um ihre Milch. Sie befürchtete, dass sie wegen ihres Schrecks versiegen würde. Deshalb trank sie zwei Tassen Schafsmilch und aß zehn Datteln und ein halbes Fladenbrot. Sie tauchte es in die Butter, die von den Frauen der beduinischen Arbeiter hergestellt worden war, die Max von Oppenheim aus der Gegend von Dschabal Abd al-Aziz mitgebracht hatte – die Tschetschenen in den Dörfern von Ra‘s al-Ain hatten sich geweigert, bei den Ausgrabungen der deutschen Expedition mitzuarbeiten. Sie glaubten, dass die archäologischen Funde Unglück brachten und die Geister aus der Erde holten. So half ihm der Scheich eines arabischen Stammes aus, der damit die Männer und Frauen seines Stammes in diesen harten Jahren der Dürre, Epidemien und Kriege vor dem Hungertod bewahren würde. Dem deutschen Baron wiederum war das gerade recht, zumal die Beduinen im Vergleich zu christlichen Männern für niedrige Löhne arbeiteten. Aischane lauschte den Gesprächen zwischen dem Dorfbewohner und einem großen, breitschultrigen, muskulösen jungen Kurden, der seine Haare abrasiert hatte und eine weite Hose trug, die sich an den Knöcheln verengte und der Hose des Barons ähnelte, so dass sie zunächst dachte, er sei mit ihnen aus Deutschland gekommen. Er sagte, er sei einer der Ausgrabungswächter. Sie nahmen das beduinische Essen zu sich, auch wenn Aischane keinen Appetit hatte und nur aß, weil sie sich Sorgen wegen ihrer Milch machte. Sie fragte den jungen Kurden:

- Gibt es hier viele Frauen?

Vielleicht konnte sie eine von ihnen um Hilfe bitten, falls ihre Milch ausblieb. Sie würde eine zweite Mutter für ihren Sohn beschaffen, damit es ihm gut ging.

 

 

Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Roman „Die Tuberkulose-Frauen“, auf Arabisch erschienen im Mamdouh-Adwan-Verlag (2022). Der Roman zeichnet über vier Generationen hinweg das Schicksal der Frauen einer jesidischen Familie nach, die die Rituale ihres Glaubens heimlich praktizieren muss. Er erzählt von Verfolgung der Anhänger der jesidischen Religion, dem andauernden Kampf gegen die Tuberkulose sowie die miteinander verbundenen Leben der Jesiden, Armenier und Aramäer nach den Massakern, die das Osmanische Reich an ihnen verübte.

 

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