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Rachel, die Außergewöhnliche

Ali Al-Kurdi
© George Ahmad (2020), unter Verwendung einer Fotografie von Bonfis, Haus des Sham’aya Afandi, 1870 © Aga Khan Documentation Center

Noch nie hatte Rachel Gefallen an der Lebensart ihrer drei Schwestern gefunden, Firdaous, Marcel und Esther, die ihre Jugend mit Arbeit vergeudeten. Sie arbeiteten tagein, tagaus in der Schneiderei gegenüber vom Shamaaya-Palast. Minuten, Stunden, Tage, Wochen und Jahre vergingen in tödlicher Monotonie: Die drei Schwestern träumten davon, genug Geld für die Mitgift, die sogenannte dota, für den zukünftigen Bräutigam aus ihrer jüdischen Gemeinde zu sparen. In einer Zeit, in der junge jüdische Männer einer nach dem anderen verschwanden. Auf höchst mysteriöse Weise tauchten sie in bleierner Verschwiegenheit unter. Niemand konnte Auskunft geben über deren Verbleib und die Art und Weise, wie und wo sie verschwunden waren.
Das galt auch für die drei Brüder von Rachel, welche unter unerklärlichen Umständen verschwanden und eine Totenstille in dem Haus hinterließen, in dem Rachel und ihre Schwestern ein Leben als alte Jungfern mit Träumen und Begierden fristeten.
Der Vater der Mädchen, der alte Rafoul, starb kurz nachdem seine Söhne verschwunden waren. Kurz danach starb auch seine Frau, sie starb an Kummer. Sie konnte das Auseinanderbrechen der Familie nach dem Tod ihres Mannes und das Gefühl der Vereinsamung nicht ertragen. Es machte sie mürbe zu wissen, dass ihre Töchter nun in einer hoffnungslosen Isolation lebten.
Rachel unterschied sich merklich von ihren Schwestern. Man könnte gar sagen, dass sie sich von allen jüdischen Mädchen im Viertel abhob. Vielleicht weil sie realistischer war und ihr Leben ohne Illusionen oder Selbsttäuschung führen wollte.
Sie war ein reizendes Mädchen, feurig und rebellisch, hörte auf den Ruf ihrer Seele und ihres von Bedürfnissen überwältigten Körpers. Sie harrte nicht vergebens aus, sondern stellte sich bewusst ihrem Alltag und war frei von romantischen Träumen, von denen sie von vornherein wusste, dass sie niemals Realität werden würden.
Rachel lehnte den Status quo ab und wollte sich ihm niemals fügen. Nie schwamm sie mit dem Strom. Sie breitete ihre Flügel für Wind und Regen aus, überwand Grenzen und Hindernisse, Mauern, Widrigkeiten, Monotonie und sinnlose Wartereien. Sie wusch sich mit den Wässern der Liebe und schmolz mit dem Feuer der Begierde, welches ihre Seele entflammte. Die Gefühle ließen ihren Körper wie eine Knospe erblühen. Sie spürte, dass sie ein Mensch mit Bedürfnissen war, die zu stillen waren, damit sich der Lebenskreis schließt.
Rachel traf sich selbstverständlich mit den jungen Männern aus dem Shamaaya-Palast, palästinensische Nachbarn. Sie führte mit ihnen alltägliche Gespräche, tauschte Witze und Neckereien voller Zuneigung aus. Sie war zu allen freundlich, tolerant und offen. Sie spielte mit den Kindern, unterhielt sich mit den palästinensischen Frauen und lachte aus vollem Herzen vor allem mit den jungen Männern. Die alten Menschen grüßte Rachel stets mit Respekt und Würde. Dank ihrer Art genoss Rachel – anders als ihre Schwestern – bei ihren palästinensischen Nachbarn eine überwältigende Anerkennung. Verkapselt und abgeschnitten lebten ihre Schwestern weiter in Wunschbildern, Zweifeln und Ängsten.
Rachel empfand auch keine Scham, als die Frauen im Shamaaya-Palast begannen, über ihre Beziehung zu Marwan zu tratschen. Im Gegenteil, sie stand sehr oft mit ihm vor ihrem Haus neben dem Shamaaya-Palast, sie unterhielten sich und lachten unbeschwert, laut und lange. Sie kümmerte sich nicht um die verzweifelten Blicke ihrer Schwestern oder die der jungen Männer im Viertel, die schon wussten, dass Rachel und Marwan auch zusammen ins Kino oder ins Schwimmbad gingen, wo sie den ganzen Tag mit Genuss und Entspannung verbrachten.

Rachel war bezaubert von Marwans Schönheit. Er war das älteste Kind einer palästinensischen Familie und gebräunt, unbeschwert, redegewandt und studierte Medizin. Er war zwei Jahre alt, als seine Eltern 1948 aus Palästina vertrieben wurden. Wie alle jungen Flüchtlinge trieb ihn die palästinensische Sache um. Er diskutierte, war emotional, und alle Ereignisse gingen ihm nah. Trotzdem hatte Marwan starke Gefühle für Rachel. Ob er wohl wusste, dass eine Beziehung zu Rachel aussichtslos war? Dafür gab es viele Gründe, die mit den beiden selbst allerdings nichts zu tun hatten, weder mit ihm noch mit ihr. Keiner der beiden war jedoch in der Lage, seine stürmische Zuneigung für den anderen zu kontrollieren. Marwan hatte deswegen viele Probleme mit seinen Eltern und musste sich ironische Kommentare seiner Freunde anhören, obwohl einige von ihnen sogar Verständnis zeigten.
Marwan konnte dem starken Druck, der auf dieser Beziehung lag, nach einiger Zeit nicht mehr standhalten. Er wagte es nicht, Rachel zu heiraten, und beschloss nach Ägypten zu gehen, unter dem Vorwand, er wolle dort sein Studium fortsetzen.
Rachel war enttäuscht, niedergeschlagen und untröstlich. Es drohte ihr das Schicksal ihrer Schwestern, die Isolation. Aber Rachel, das starke Mädchen, stand wieder auf und erlangte ihre Vitalität wieder. Kurze Zeit darauf war auch sie aus dem Viertel verschwunden, ebenfalls unter strenger Geheimhaltung. Niemand wusste, wohin sie gegangen war.
Viele Jahre später traf ich Mahmoud, der damals auch im Shamaaya-Palast gelebt hatte. Er war inzwischen in die USA emigriert und hatte ein kleines Restaurant in New York eröffnet, in dem er arabische Spezialitäten wie Fattah, Hummus, Falafel und vieles mehr anbot. Er erzählte mir Folgendes: „Während ich mich eines Tages mit einem meiner amerikanischen Kunden unterhielt, betrat eine Dame das Restaurant, bei der ich gleich das Gefühl hatte, sie zu kennen. Ich fühlte mich magnetisch zu ihr hingezogen und drehte mich zu ihr. Sie schaute mir in die Augen und wir waren beide sprachlos.
Sie sagte: ‚Mah…moud?‘
Ich fragte: ‚Rachel?‘
Wir umarmten uns und weinten.
Wir setzten uns an einen kleinen Tisch in einer Ecke des Restaurants und unterhielten uns mehr als zwei Stunden lang miteinander. Es war, als wäre der Shamaaya-Palast mit seinen Gerüchen, als wäre das jüdische Viertel in Damaskus mit einem Mal wieder ganz da. Rachel erzählte mir von ihrer ungestillten Sehnsucht nach dem Viertel und nach den Damaszener Abenden. Sie beschwor Situationen und Dinge herauf, die ich schon längst vergessen hatte. Als ich sie vorsichtig nach Marwan fragte, schaute sie mich gebrochen an und erwiderte mit gedämpfter und trauriger Stimme: ‚Marwan hinterließ eine tiefe Wunde in meinem Herzen, die selbst die Zeit nicht heilte. Aber ich vergebe ihm. Ich habe nie Hass gegen ihn gehegt, denn ich weiß, dass die Sache größer ist als er oder ich. Jahrelang lebte ich in der Hoffnung, ihn wiederzusehen. Ich bemühte mich, seine Adresse in Ägypten herauszufinden, vergebens. Und im Laufe der Jahre blieb von ihm nichts weiter als die Erinnerung, die manchmal verblasst und wieder aufflammt. Alles erinnert mich dann an diese tiefe Wunde in meinem Herzen.‘ In diesem Moment berührte Rachel ihre Brust. Nach einer kurzen Stille fuhr sie weiter fort: ‚Als ich Syrien nach dem Scheitern meiner Beziehung zu Marwan verließ, kam ich in die USA. Ich ließ mich in Brooklyn nieder, wo es eine große jüdische Gemeinde aus Syrien gibt. Man bot mir an, nach Israel zu gehen, und machte mir großzügige Offerten. Ich lehnte ab. Ich arbeitete als Krankenschwester in einem Altenheim, aber trotz der Annehmlichkeiten und des Wohlstandes, den ich hier habe, fühle ich, dass mein Leben voller Leere ist. So vergehen die Tage, die Monate und die Jahre … Ohne dass ich sie spüre. Ich habe nie geheiratet und habe keine Kinder bekommen. Und wenn ich die alten Menschen im Altenheim betrachte und ihre Einsamkeit sehe, denke ich, mein Leben wird auch so enden: Eine alte, gebrochene Frau lebt ein kaltes Leben, ohne Wärme und ohne Familie, die sie betreut oder die sich um sie kümmert. In diesen Momenten erinnere mich an unser Leben damals in Damaskus, an meine Schwestern, und ich weiß, dass auch sie mit ihrem Leben hadern. Ich frage mich: Was ist uns widerfahren? Warum diese ganze Zerstörung?‘“

 

Auszug aus dem Roman „Shamaaya-Palast“, 2010 (bislang nur auf arabisch erschienen).

Ali Al-Kurdi Martin Kordić

Ali Al-Kurdi & Martin Kordić

Ali und Martin trennt so viel wie sie vereint: eine Generation, die Kriege in ihren Herkunftsländern und das unterschiedliche Herangehen an ihren Stoff: Ali konkret und dokumentarisch, Martin schwebend und poetisch.

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