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Mein Vater ist ein Foto mit Rahmen

Ali Al-Kurdi
Übersetzung: Suleman Taufiq
Fotomontage: Hala Namer / Studio Yalla (2017)

Ich wuchs allein mit meiner Mutter auf. Lange begriff ich nicht, warum sie darauf bestand, dass ich jeden Morgen, wenn sie mich weckte, „Guten Morgen, Vater“ sagte. Dabei deutete sie auf ein Schwarzweißfoto, das meinem Bett gegenüber an der Wand hing. Es zeigte einen Mann mit dicken Schnurrbart. Wenn ich den Gruß wie ein Papagei wiederholt hatte, huschte ein strahlendes Lächeln über ihr Gesicht. Sie nahm mich auf den Arm und überschüttete mich mit ihren warmen Küssen. Ich liebte ihren Duft, er machte mich glücklich. Noch nach fünfunddreißig Jahren entzückt mich die Erinnerung an den Duft meiner Mutter. An sie, die es so schwer hatte und ein Leben voller Leid und Warten ertrug.

Meine Mutter schien immer in Eile zu sein. Nach dem Waschen zog sie mich an und bereitete schnell das Frühstück zu. Danach machte sie sich fertig und stopfte meine Spielsachen in ihre Tasche. Dann nahm sie mich bei der Hand und wir hasteten die Treppe hinunter zur Straße, um den Bus zu erwischen, der zu ihrer Arbeit fuhr. Ich wurde in den Betriebskindergarten gebracht. Die Kindergärtnerin bekam meine Sachen überreicht und meine Mutter wechselte mit ihr ein paar Worte, die ich nicht verstand. Doch ich ahnte, dass sie etwas mit mir zu tun hatten. Dann ging sie. Meine Augen blieben an der Tür haften, bis die Kindergärtnerin nach mir rief und mich aufforderte, mit den anderen Kindern zu spielen. Jeden Tag wiederholte sich das, im Sommer und im Winter, nur an Feiertagen war es anders, da ließ mich meine Mutter lange schlafen. Aber sie vergaß nie, mich beim Aufstehen zu bitten, das Bild meines Vaters zu begrüßen.

So wuchs ich auf. Mein Vater war ein Foto an der Wand. Erst später begriff ich, dass dieser Foto-Mann im Gefängnis saß. Er saß dort, nicht weil er ein Räuber gewesen wäre, sondern weil seine Ansichten dem Regime nicht gefallen hatten. Ich konnte stolz auf ihn sein, denn er und seine wenigen Freunde hatten Mut bewiesen. In der Zeit des Schweigens und des Sich-Duckens hatten sie geredet. Doch Oppositionelle wurden damals einfach als „Vaterlandsverräter“ bezeichnet und für Jahre hinter Gitter gebracht. Niemand wagte, nach ihnen zu fragen oder gar die Freilassung zu fordern. Auch nach meinem Vater fragte keiner.
Als ich meine Schulbücher und Hefte zum ersten Mal in die Hand nahm, begegnete mir weiteres Bild von einem Mann. Es war rätselhaft und unheimlich und der Mann mürrisch. Er trug einen eng anliegenden Anzug. Die ganze Schulzeit begleitete mich dieses Bild. Überall begegnete mir dieser finstere Blick: am Schultor, im Klassenzimmer oder im Büro des Schuldirektors. Warum ich diesen Mann nicht mochte, wusste ich nicht. Doch ich hatte das Gefühl, dass er mich beobachtete, selbst beim Schreiben meiner Hausaufgaben.

Es sei das Bild „des Führervaters“, erklärte man mir. Dabei sah er ganz anders aus als mein Vater mit seinem zärtlichen Blick. Seinetwegen hätte mich meine Mutter sicher nie mit Küssen überschüttet. Stattdessen schwieg sie, wenn sie sein Bild auf meinen Schulheften ansah. Meine kindliche Intuition sagte mir, dass ich keine Fragen stellen sollte. Als ob die Angst und das Schweigen zwischen uns bereits die Antwort auf meine ungestellte Frage wäre. Ich habe dieses Bild gehasst und auch die Hymne am Morgen, das Skandieren der Losungen und Parolen, die militärische Schuluniform mit ihrer Einheitsfarbe, die mich überall begleitete. Eine Farbe, die unseren Geschmack für Farben und unsere Seelen zerstörte und uns in Marionetten verwandelte, die leere Worte wiederholten, die nichts mit irgendeiner Farbe ihrer Gefühle zu tun hatten, nur mit der Farbe der Angst.

Jahre später lernte ich ein zweites Gesicht meines Vaters kennen. Es gehörte einem Mann mit breiten Schultern und zeigte ein bezauberndes Lächeln. Der Mann war blass und stand hinter einem schwarzen Metallgitter. Meine Mutter und ich standen ihm gegenüber hinter einem zweiten Gitter. Ich erinnere mich, wie er einmal seine Hand zwischen den Gittern hinausstreckte. Auch ich streckte meine kleine Hand aus, bis unsere Finger sich berührten. Ich spürte eine Wärme in meinem Körper, die mich glückselig machte, und ein heimliches Gefühl des Sieges. Ich verstand nicht, warum meine Mutter Tränen in den Augen hatte und das Gesicht meines Vaters rot wurde. Verwirrt wandte ich mich ab und flüchtete ins Schweigen.

Achtzehn Jahre lang lebte ich mit meiner Mutter allein. Ich war zu ihrem kleinen Mann geworden, ohne ihren Sorgen und ihrer Trauer gewachsen zu sein. Ihre Anspannung wuchs jedes Mal, wenn sich der Termin für den Besuch im Gefängnis näherte. Sie versank dann in den Einzelheiten der Vorbereitung. Sie rechnete ihr Haushaltsgeld ab und versuchte, hier und da zu sparen, um etwas für den Besuch kaufen zu können. Allmählich bemerkte ich auch die schwere Last, die auf meinem Vater lag. Wie oft hatte er sie gefragt: „Wie kommst du zurecht?“ Und jedes Mal beruhigte sie ihn: „Uns geht es gut. Mach dir keine Sorgen.“ Mit der Zeit sah ich, wie meine Mutter langsam verblühte und blass wurde. Sie war früh gealtert. Als mein Vater nach achtzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte ich gerade mit dem Studium angefangen. Die Welt war nicht groß genug für die Freude und das Glück meiner Mutter, nach all den Jahren des quälenden Wartens.

Doch ich freute mich nicht und meine Gefühlskälte überraschte mich. Ich fand keinen logischen Grund für meine Distanziertheit und fragte mich ständig, was mit mir los ist. War es die Enttäuschung über die Begegnung mit meinem Vater? Ich hatte gehofft, dass es zwischen uns wärmer und inniger würde, doch er beschäftigte sich nur wenig mit mir. Stattdessen redete er viel mit seinen Geschwistern und Freunden über ihre gemeinsamen Erinnerungen. Sie lachten und amüsierten sich. Ich stand am Rand. Meine Mutter war im Mittelpunkt des Geschehens, glücklich und heiter. Sie begrüßte und verabschiedete die Besucher und bewegte sich unter den Gratulanten wie eine fleißige Biene. Ich half ihr schweigend, aber in meinem Kopf tummelten sich die Fragen zu dieser unklaren, seltsamen Beziehung zu meinem Vater; wie würde es in Zukunft sein?
Ich versuchte mich von der negativen Energie zu befreien, aber sie kam immer wieder. Das schlechte Gewissen würde mich von nun an wie ein Schatten verfolgen.

Ali Al-Kurdi Martin Kordić

Ali Al-Kurdi & Martin Kordić

Ali und Martin trennt so viel wie sie vereint: eine Generation, die Kriege in ihren Herkunftsländern und das unterschiedliche Herangehen an ihren Stoff: Ali konkret und dokumentarisch, Martin schwebend und poetisch.

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