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Shamaaya-Palast

Ali Al-Kurdi
Übersetzung: Mustafa Al-Slaiman
Mixed Media Majd Suliman, Titel: Shamaaya (2019); Historische Bilder:
© George Ahmad, Shamaaya, mixed media (2019); Historische Bilder: Felix Bonfils, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (Public Domain)

„Landkarte“ war unser Lieblingsspiel, als wir noch Kinder waren. Meine Freunde aus dem jüdischen Viertel und ich teilten uns in zwei Gruppen auf: Die erste begab sich außer Sichtweite, während die zweite mit Kreide die Gassen des Viertels auf den Boden malte, um in diesem Netz jenes Feld festzulegen, in dem sie sich bewegen würde. Dann begaben sich die Mitglieder der zweiten Gruppe in das auf der Landkarte verzeichnete Gebiet und versteckten sich in dem Labyrinth. Kam die erste Gruppe zurück, las sie die Karte und suchte die, die sich nun versteckt hielten. Es galt, die anderen zu fangen, bevor sie zurückkehren und die Spuren der Landkarte verwischen konnten.

Das Laufen, Fangen, Manövrieren und die Taktiken beim Verstecken machten das Spiel so spannend, vor allem, weil die Gefahr, bei der Rückkehr gefangen zu werden, stets präsent war.

Bei aller Aufregung dachten meine Freunde und ich nicht daran, dass wir in einer Stadt lebten, die voller verschiedener Religionen, Ethnien und Kulturen war. Als wir die Windungen der engen Gassen unseres Viertels und seine sonderbaren Labyrinthe mit Kreide auf den Boden von Damaskus malten, dachten wir auch nicht daran, dass wir uns in einer Region bewegten, in der seit tausenden Jahren Menschen gelebt und ihre Spuren hinterlassen hatten. Weder ich noch eins der anderen palästinensischen Flüchtlingskinder wussten damals von den Leiden unserer eigenen Familien, die sich im Jahr der Nakba nach einer qualvollen Odyssee in diesem Teil der Stadt niedergelassen hatten und seit dem Jahr 1948 zu deren Vielfalt beitragen. Irgendwann aber denken wir alle über unser Leben und unsere Herkunft nach, entdecken Neues, erfahren von den Dingen, die wir nicht beeinflussen konnten, erfahren von dem, was uns zusteht und wozu wir verpflichtet sind.

Wie tausenden anderen auch kam meiner Familie der Beschluss der syrischen Regierung Anfang der fünfziger Jahre zugute, einige Flüchtlingsfamilien in Häusern von Juden und Nichtjuden unterzubringen, die Syrien verlassen hatten. Das Los teilte meinen Eltern ein geräumiges und helles Zimmer im Shamaaya-Palast zu – ein schönes damaszenisches Haus, das im Jahre 1865 von dem reichen Juden Shamaaya Effendi erbaut wurde. Seine Erben hatten Syrien mit anderen Juden verlassen und so wurde das Haus unter den Besitztümern der „ausgewanderten Juden“ gelistet. Dieses und andere Häuser wurden palästinensischen Flüchtlingen, die man zuvor auf Moscheen, auf Schuldächer und in Zelte verteilt hatte, als Unterkunft zur Verfügung gestellt.

Erst nach und nach stellte ich fest, dass wir uns durch vieles von den Menschen in unserem Umfeld unterschieden: durch den Klang unseres Dialektes, den wir von unseren Vätern gelernt hatten; auch durch unsere UNRWA-Grundschule, die anders war als die öffentlichen oder privaten Grundschulen, die für syrische Kinder vorgesehen waren. Und dadurch dass nur wir, weil wir Flüchtlinge waren, am Ende des Monats zum „Zentrum für Versorgung mit Grundnahrungsmitteln“ gingen, um Nahrungsmittel zu erhalten. Nur für uns gab es eine Arztpraxis mit der blauen UNRWA-Aufschrift, die wir kostenlos besuchen konnten. Nur für uns gab es ein „Zentrum für die Verteilung von Milch“, das den gleichen Schriftzug trug.
Ich weiß nicht, warum ich bereits von früher Kindheit an eine starke Aversion gegen alles hatte, was mit der UNRWA zusammenhing, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, die wir nur „die Agentur“ nannten. Vielleicht, weil sie der Beweis unseres Elends war. Ich hasste den blauen Ausweis. Meine Mutter zwang mich oft, morgens mit diesem Ausweis zur Arztpraxis zu gehen, um für sie oder meine Geschwister eine Nummer zu bekommen, mit der sie die Praxis später besuchen konnten. Mit Frauen, Männern und Kindern stand ich in einer langen Schlange und wartete auf eine Nummer. Mein Bruder und ich stritten täglich darum, wer von uns beiden die Ration Milch holt und wer die Wartenummer.

Diese Äußerlichkeiten waren nicht der einzige Unterschied zwischen uns und den anderen. Es gab unzählige andere Geschichten und Beispiele, die in mir Gefühle hinterließen und innere Kämpfe auslösten, für die ich damals keine Erklärung fand. Warum trugen nur wir Brotfladen, die unsere Mütter aus Mehl von der „Agentur“ geknetet hatten, auf unseren Köpfen zu den öffentlichen Backöfen, um sie backen zu lassen?

Ich spürte die verstohlenen Blicke der anderen, wenn ich mit dem Blech auf meinem Kopf zum öffentlichen Backofen und später mit dem fertigen Brot zurück nach Hause ging. Diese Blicke voller Mitleid und Erstaunen, die mir das Gefühl gaben, anders zu sein. Weder verstand noch begriff ich damals den Begriff der „Identität“. Diese Blicke waren wohl die erste Walze, die den Weg für viele Fragen in mir ebnete; Fragen über Flucht und Vertreibung, die palästinensische Frage, Zugehörigkeit und was es heißt, ein palästinensischer Flüchtling zu sein, der inmitten der Vielfalt der Altstadt von Damaskus lebt, was zu einer Besonderheit führte, die uns wiederum von anderen Flüchtlingsgruppen unterschied, die in ihren Flüchtlingslagern eine gewisse Homogenität erlebten.

Der Shamaaya-Palast selbst war einzigartig und unterschied sich von anderen viel bescheideneren Häusern, die einst Juden gehörten, weil er Platz für viele bot. Was anfangs positiv erschien, wandelte sich mit der Zeit in eine Katastrophe für die Bewohner des Palastes. Konnten die bescheideneren Häuser zwar weniger Menschen aufnehmen, bedeutete das doch auch weniger Probleme. Der Shamaaya-Palast bestand aus zwei Gebäuden mit offenen Innenhöfen und einer Synagoge in deren Mitte und konnte mehr als fünfzig Flüchtlingsfamilien beherbergen. Jeder Familie stand nur ein Zimmer zu, da einige Zimmer regelrechte Säle waren. Die Wände waren mit Dekorationen und schönen Schnitzereien verziert, in die Böden war italienischer Marmor eingelassen. Ein paar Zimmer waren sogar so groß, dass darin Trennwände aufgestellt wurden, damit mehr Flüchtlingsfamilien dort Platz fanden. Man teilte sich dort so einiges: Gerüche, Stimmen, Streitereien, Stöhnen und Raunen.

Ich erinnere mich noch genau an die anderen schönen Dinge im Shamaaya-Palast: Bitterorangen-, Zitronen-, Cedrat- und Granatapfelbäume und zwei Wasserrinnen, die in der Mitte des Hofes verliefen, prächtiger Wandschmuck an den Mauern, ziegelrote Dächer. Wie konnte dieser schöne Palast all diesen Trubel ertragen?

Es war den Flüchtlingsfamilien erlaubt worden, das Dach der Synagoge zum Aufhängen der Wäsche zu benutzen. Einige der Zimmer in den oberen Etagen hatten Fenster aus Glas, die wiederum auf den Innenhof der Synagoge blickten. Auch unser Zimmer gehörte dazu.

Mit Ehrfurcht in unseren Herzen und großer Neugier haben meine Geschwister und ich die Nachbarn heimlich beobachtet, wenn sie dort an Samstagen und zu jüdischen Feiertagen ihre Gebete verrichteten. Sie kamen frühmorgens, Männer und Jungen, die die kleine Kopfbedeckung trugen. Nach Momenten der Stille erhoben sich die Stimmen und sie rezitierten Psalme in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Unsicherheit und Angst warfen Fragen in unseren kleinen Köpfen auf, Fragen über diese Rituale, zu denen wir keine ausreichenden Antworten erhielten. Da waren sie, Juden: Nachbarn und Menschen wie wir. Sie waren einfach mitten unter uns. Sie sprachen dieselbe Sprache wie wir. Da war Abu Jacques, der Eier verkaufte und eine orientalische Pluderhose trug. Er hatte einen Gürtel um seinen herabhängenden Bauch gebunden und trug auf dem Kopf einen roten Tarbusch, so dass es schwierig war, ihn von den anderen Männern im Al-Shaghour-Viertel zu unterscheiden. Er hatte ein Zimmer in der Synagoge, in dem er seine Ware sortierte, bevor er sie an die Geschäfte in der Umgebung verteilte. Manchmal rief er meiner Mutter zu: „Frau Nachbarin, schick mir den Jungen. Ich habe einige zerbrochene Eier zu einem guten Preis.“

In jenen Jahren blieb das jüdische Viertel von Damaskus mit ihnen und uns gefüllt, voller Vielfalt und Bewegung. Es unterschied sich darin von anderen Vierteln. Es grenzte an das Ameen-Viertel, in dem überwiegend Schiiten lebten, und an das Al-Shaghour-Viertel, das vor allem von Sunniten bewohnt war. Im Nordwesten lag das christliche Viertel Bab Touma. Mit dem Zuzug von uns Flüchtlingen hatte es den Anschein, als wäre die ganze Stadt eine sonderbare Zeitparadoxie.

Immer wieder erweckte der Anblick der älteren jüdischen Frauen meine Neugier, wenn ich sie auf dem Weg zur Alliance-School beobachtete, wie sie in ihren Vorgärten voller Blumen und Pflanzen ihren Morgenkaffee tranken. Es gab keinen Grund für meine besondere Neugier, nur mein Gefühl für diese Andersartigkeit, das sich mit der Zeit immer weiter vertiefte. Ich beobachtete Frau Widad mit ihrem französischen Haarschnitt und die Ehefrau des alten Rafoul, der sich immer über den Lärm und die Streitereien der Kinder ärgerte, und Umm Jacques, die dicke alte Frau, die immer freundlich war und ständig lachte, so dass sie ihren letzten übriggebliebenen Zahn entblößte, während die jungen eleganten und bezaubernden jüdischen Mädchen morgens zu den Nähstellen gingen, die es im Viertel reichlich gab. Die meisten von ihnen waren unverheiratet und rackerten sich den ganzen Tag ab, um die Mitgift für den erhofften Ehemann zu sammeln.

In ihrer Nähe und mit ihnen zusammen lebten eben wir, als Flüchtlinge. Wir erlebten die neuen Ereignisse und die daraus entstandenen traurigen Veränderungen. Wir feierten und trauerten. Auf die Mauern des Shamaaya-Palastes malten wir die Landkarte von Palästina und schrieben darunter in fetter Schrift: „Wir kehren zurück“. Dann irgendwann hängten wir Informationen über die ersten Widerstandskämpfer auf und Fotos von den Märtyrern. In den Alliance-Schulen brachte man uns Flüchtlingskindern zusammen mit dem Alphabet den „Traum von der Rückkehr“ nach Palästina bei, von unseren heiligen Stätten, die sich in unsere Herzen eingravierten. Es war wie ein Mantra, das ein wenig Ruhe in unsere geschundenen Herzen einkehren ließ, die die Hoffnung nicht verloren, irgendwann in unsere Häuser zurückzukehren, die in der Erinnerung unserer Väter schweben und doch irgendwann verblassen werden, je älter der Traum wird.

 

Der Text ist ein Auszug aus dem gleichnamigen Debütroman von Ali Al-Kurdi, der 2010 auf arabisch erschien.

– Rachel, die AußergewöhnlicheLesenراشيل خارج السرب
– Ein Schwarz-Weiß-GedächtnisLesenذاكرة بالأسود والأبيض!
– Mein Vater ist ein Foto mit RahmenLesenوالدي صورة في إطار
Ali Al-Kurdi Martin Kordić

Ali Al-Kurdi & Martin Kordić

Ali und Martin trennt so viel wie sie vereint: eine Generation, die Kriege in ihren Herkunftsländern und das unterschiedliche Herangehen an ihren Stoff: Ali konkret und dokumentarisch, Martin schwebend und poetisch.

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