Hunger
Wie einen Geisteskranken behandelten sie ihn nicht. So verlor er nach und nach den Verstand. Das sei seine Masche, dachten sie, um seine Wünsche durchzusetzen. Wünsche jenseits der Gefängnisrealität, dabei waren sie ganz alltäglich. Er saß im Al-Khatib-Gefängnis in Damaskus, in dem auch ich mehrere Monate festgehalten wurde und das dem Sicherheitsapparat unterstand.
Anwar Raslan, der kürzlich von der deutschen Justiz in Koblenz für seine Verbrechen verurteilt wurde, war dort tätig. Aber hier geht es nicht um die blutige Ära von Raslan, sondern um Ereignisse aus dem Jahr 1979. Damals folterte der syrische Geheimdienst noch, um an Informationen zu gelangen. Hatte er die Informationen bekommen, wurden die Misshandlungen eingestellt, es sei denn der Insasse verstieß gegen Gefängnisregeln. Ab 2011 hatte das Foltern dann einen anderen Zweck: zu demütigen und zu quälen, bis zum Tod.
Mein Zellennachbar damals donnerte gegen die Tür und schrie: „Ich will essen! Fleischtaschen, Fleischpizza, Fleisch!“
Solche Forderungen in den Kellern des Regimes waren zum Lachen, aber auch traurig. Jeder, der alle Sinne beisammen hatte, wusste, was für ein Nachspiel das haben würde. Unser Freund aber hatte nicht alle beisammen. Wie besessen brüllte und hämmerte er. Ein Wärter kam angerannt und machte ihn zur Sau. Als ihn das nicht beeindruckte, schlug und trat der Wärter auf ihn ein, auch seine Kollegen kamen hinzu und prügelten mit, bis Blut floss. Sobald sie von ihm abgelassen hatten, trommelte mein Zellennachbar schon wieder an die Tür. Diesmal schrie er: „Ich hab‘ Durst. Ich will trinken. Tamarindensaft, Süßholzsaft. Gesegneter Ramadan!“
Sie behandelten ihn nicht wie einen Kranken. Doch all die Gewalt brachte auch nichts. Irgendwann aber verstummte er und die Wärter fragten sich, ob ihre Maßnahmen gefruchtet hatten oder ihm nur die Lust vergangen war.
Später bekam ich ihn zu Gesicht. Er war ungewohnt ruhig. Ich erfuhr, dass er aus al-Midan stammte, einem Viertel in Damaskus. Er hatte kurz vor seinem Abschluss in Ingenieurwissenschaften gestanden und mit seinem Vater im Textilhandel gearbeitet. Außerdem gehörte er zu den besten Schachspielern in Damaskus. Etwa hundert Kilo hatte er früher gewogen, im Gefängnis aber vierzig Kilo verloren, weil man ihn, um ein Geständnis zu erzwingen, nicht nur gefoltert, sondern auch ausgehungert hatte. Jetzt war er nur noch ein Strich in der Landschaft.
Das Gefängnisessen war miserabel und spärlich, eine Schüssel Bulgur mit Steinchen und Brühe, in der ein paar winzige Stücke ungeschälter Aubergine oder Kartoffel schwammen. Sobald der Fraß kam, krempelte sich unser Freund die Ärmel hoch und fiel gierig über das Zeug her, wobei er sich um niemanden scherte. Das gab Ärger, denn er wollte den anderen partout nichts abgeben und das Gefängnis die Essensrationen nicht erhöhen. Also trat das Gesetz des Stärkeren in Kraft. Wer zu spät kam, musste hungern.
Es gab noch eine andere Anekdote über ihn, nämlich mit dem stellvertretenden Gefängnisdirektor Abu Ahmad, der für eine der 48-Stunden-Schichten zuständig war. Auch er war ein Vielfraß, ekelerregend gierig. Er und seine Mitarbeiter stahlen die Hälfte der wöchentlichen Fleischrationen, die für die Insassen gedacht waren. Neben seiner Arbeit im Gefängnis handelte er mit Gebrauchtwagen in Harasta und in al-Hadschar al-Aswad. Sein Kopf, immer kahlrasiert, sah aus wie ein Kochtopf und ging in einen monströsen Hals über, der auf einem quadratischen Körper samt Wanst saß.
Aus Sicherheitsgründen schloss Abu Ahmad das Gefängnistor gewohnheitsmäßig von innen ab. Wer rein wollte, musste klingeln, selbst Ermittler und Offiziere. Abu Ahmad war deswegen in der Regel gelassen, nur während der Verhöre war er wie ausgewechselt.
Nach dem Mittagessen, wenn die Gefangenen von der Toilette zurück waren, das Geschirr gespült und die Flure geputzt hatten, saß Abu Ahmad vor dem Verhörraum auf dem Flur. Er trank Tee und brüstete sich lautstark mit seinen Erfolgen auf dem Gebrauchtwagenmarkt, die er der Tatsache zu verdanken hatte, dass die Händler sich ihm anbiederten. Im Verhör dagegen wurde er zu einem Folterknecht der übelsten Sorte, zum bedingungslosen Handlanger des Ermittlers. Doch außerhalb des Verhörraums interessierten ihn nur Essen und Autos – übrigens im großen Unterschied zu dem anderen Schichtleiter, einem Ideologen und Sektierer, der die Insassen bespitzelte und sie bei jeder Gelegenheit in die Pfanne haute.
Ich weiß nicht, was Abu Ahmad geritten hat, als er hörte, dass unser Freund einer der besten Schachspieler von Damaskus war. Offenbar glaubte er, ihn mit links besiegen zu können, und forderte ihn zum Spiel heraus. Als Gegenleistung versprach er ihm eine große Portion Hühnchen und eine Dose Halwa gegen seinen Heißhunger. Eins stellte er dabei klar: Sollte er Abu Ahmad gewinnen lassen, würde er ihn am Galgen aufknüpfen. Trotzdem spielte unser Freund nur mit halber Kraft, zog das Ganze in die Länge. Abu Ahmad verlor ein Spiel nach dem anderen, wollte aber weitermachen. So ging es mehrere Tage. Abu Ahmad setzte sich zu unserem Freund in die Zelle, auf den Boden. Er reihte die Figuren, von den Gefangenen aus Teig gefertigt, auf und starrte konzentriert auf das Brett. Sein Gegner brauchte nicht großartig nachzudenken. Gebannt schauten wir zu, hin und wieder zeigte sich ein neugieriger Wärter. Währenddessen stand die Zellentür offen, so dass wir ein- und ausgehen konnten. Es waren entspannte Momente, denn es waren keine Schreie zu hören, es wurde nicht gefoltert.
Abu Ahmad hielt sein Versprechen und gab unserem Freund eine Schüssel randvoll mit Hühnchen, abgezwackt von den Portionen der anderen Gefangenen und zehnmal so groß, plus eine Dose Halwa. Hemmungslos machte er sich über das Festmahl her, ohne sich von unseren Blicken irritieren zu lassen. Er schlang alles in sich hinein, bis er sich kaum mehr rühren, kaum noch atmen konnte. Er hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Abu Ahmad sah sich schon als Sieger und war ganz bei der Sache, spielte zielsicher seinen Zug. Auf einmal hob unser Freund den Hintern an und ließ laut einen fahren. Wir brachen in Gelächter aus. Abu Ahmad blickte auf, verzog keine Miene, sagte nur: „Nun spiel schon!“ Sein Gegner machte ein gequältes Gesicht, er schwitzte, zitterte. Unvermittelt sprang er auf und rannte zur Tür. „Ich muss aufs Klo“, bettelte er, „sonst mach ich mir in die Hose!“
Unruhig starrte Abu Ahmad auf das Brett, vielleicht um noch ein Schlupfloch in der Verteidigung des Gegners zu finden, bevor dieser zurückkam. In diesem Moment klingelte es am Gefängnistor. Abu Ahmad stolperte barfuß los. „Bring mir meine Schuhe und schließ die Zellentür ab“, brüllte er zum Wärter.
Eine schwere, gespenstische Stille legte sich auf das Gefängnis. Und dann kamen Schreie.