Ein Schwarz-Weiß-Gedächtnis
Es ist die Passion des Anfangs. Es ist das frühe Gefühl für das eigene Selbst und die Entstehung von Freundschaften. Es ist der unreife Geschmack der ersten Liebesgeschichten. Das Schwarz-Weiß-Gedächtnis erweckt die Knospe zum Leben, bevor die Sonne sie verändert und mit ihren sengenden Strahlen schonungslos trifft.
Es ist auch der durchsichtige Beginn der Genesis, bevor die Gesichter ihre Masken aufsetzen. Es ist das befreiende, gellende Lachen, bevor es vom Staub im Keim erstickt wird.
Es ist der Traum, bevor der Tod in seinem vergilbten Kleid an die Tür klopft. Das Schwarz-Weiß-Gedächtnis ist nichts anders als die leuchtende Hoffnung, bevor sie erbleicht.
Es ist mein schwer befrachtetes Gedächtnis, das tiefe Narben in mir hinterließ. Ich weiß nicht, ob meine Erinnerungen es verdienen, bloßgelegt zu werden. Womöglich sind sie dermaßen veraltet, dass sie nur auf das Ableben des Körpers warten, um mit meinen ebenfalls veralteten Heften für immer begraben zu werden.
Ich erwachte vor Sonnenaufgang, nach nur wenigen Stunden Schlaf. Träume und Alpträume erschwerten mir das Weiterschlafen. Bevor ich mich von meinem Bett erhob, dachte ich an die blaue Mauer, an die Nachricht von den Toten, an die trostlosen Straßen und an unser Land, das ohne Hochzeiten und ohne Freuden nur noch in Trauer und Tod versinkt.
Ich sah die Trümmer, die Leichen, das Blut und die Kondolenzwünsche der Freunde. Alle fielen wie Blätter vom herbstlichen Baum.
Ich bin des Kondolierens an der blauen Mauer müde geworden. Ich bin der Wiederholungen überdrüssig geworden: „Friede ihrer oder seiner Seele.“ Ich stelle mir gerade meinen eigenen Leichnam vor. Ich will dabei sein, wenn meine Freunde zu Grabe getragen werden. Ich will mein Mitgefühl und meine Solidarität persönlich zum Ausdruck bringen. Ich will das Rezitieren von Koranversen in den Trauerhäusern vor Ort erleben. Ich will dem Trauergottesdienst in der Kirche beiwohnen. Ich will auf dem Friedehof dabei sein. Unsere Gräber sind inzwischen auf der ganzen Erdkugel verteilt.
Meine Erinnerungen häufen sich. Ich erinnere mich an die Worte meines Vaters: „Die Sonne hat nun die Bergspitze erreicht. Nur noch ein Augenblick, und sie geht unter.“ Vielleicht stehe ich kurz vor dem Untergang. Das Leben zieht wie in einem Schwarz-Weiß-Film an mir vorbei. Ich höre das Echo des Gelächters, schreiender Kinder, klagender Frauen und sehe das traurige Gesicht meiner Mutter mit ihrem sorgenerfüllten Blick. Ich rieche die Wäsche auf der Leine. Ich erinnere mich an die hitzigen Diskussionen mit Freunden und an die schönen, aber auch an die verletzenden Momente in meinem Leben.
Und ich erinnere mich an ein Atelier auf dem Dach eines Hauses in der Altstadt von Damaskus in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Dort trafen wir uns, wir jungen Künstler, angehende Schriftsteller, Journalisten und Herumtreiber, und träumten von der Liebe und einem besserem Leben. Ich kann mich an das Knacken und Knarzen der Holztreppe unter unseren Schritten erinnern, wenn wir hoch und runter gingen. Es überkam uns ein banges Gefühl, wenn wir die Stufen erklommen, und wir waren erleichtert, wenn wir ohne Zwischenfälle oben ankamen.
Viele Bilder von früher kamen zusammen und durcheinander; die Wände meiner Gefängniszelle, die Ängste, die Träume, die Dunkelheit und die Enge der Zelle, die Verfolgung davor und die Festnahme, die Vernehmung und die Folter in den Kerkern der Geheimdienste danach.
Ist das, was heute passiert, nicht das, was schon gestern war? Warum schweigt man sich darüber aus? Vielleicht ist es die Angst, diese ewige Angst, die tief in allen Syrern sitzt. Es fällt uns nicht leicht, erneut den Preis zu zahlen, den wir bereits entrichtet haben.
Als die Menschen in meinem Land sich erhoben, versuchte jeder von uns, seinen Beitrag zu leisten. Doch das Land wurde vor den Augen der ganzen Welt in ein riesiges Gefängnis verwandelt. Wir hörten auf, über unser früheres Leid zu reden, da die gegenwärtige Tragödie unsere Erfahrung um einiges übertrifft.
Nachdem wir aus den Gefängnissen der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts entlassen wurden, betrachtete man uns wie eine ansteckende Krankheit. Wir lebten isoliert und jeder von uns ging allein und einsam seinen Weg, um den Rest seines Lebens wiederherzustellen. Wir waren gewiss keine Helden. So ist das Leben nun einmal. Doch gewiss ist: Die Zeit der Kirschenblüte in unserem Land wird kommen, die Sonne wird leuchten, die Früchte werde reifen. Freude, Liebe, Freiheit und Würde werden uns eines Tages alle erfassen.