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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Mostafa Hazara & Batool Haidari > Verharren ist keine Option - Brief 2

Verharren ist keine Option – Brief 2

Batool Haidari an Mostafa Hazara, Rom, 14. August 2022

Übersetzung: Dr. Lutz Rzehak Aus dem afghanischen Persisch

Während ihrer Flucht aus Afghanistan fotografierte Batool mehrere Stationen auf ihrem Weg. © privat

 

Geht’s Dir gut, Mostafa?

Als ich Deinen Brief öffnete, fiel ein schöner und ruhiger Mitternachtsregen, ein Regen, dessen Tropfen mit ihrem Plätschern einen wohlduftenden und sonnigen nächsten Tag ankündigten. Schnell las ich Deine Zeilen im Licht des Bildschirms. Beim Lesen stockte mir der Atem. Weißt Du, Mostafa, Du hast mich wieder in die Abgründe meines Gemüts hinabgeführt, tief hinein in einen Zustand, den ich schon vor langer Zeit in mir begraben zu haben glaubte.

Vor zwei Monaten habe ich begonnen, mit einer Gruppe von Mädchen und Frauen Demonstrationen vorzubereiten, mit vielen Freundinnen in verschiedenen Ländern waren wir damit beschäftigt. Es war vorgesehen, dass wir in jedem Land einige Aktivistinnen finden, die zu öffentlichen Kundgebungen anlässlich des Todestags von Afghanistan am 15. August aufrufen. Auch in Afghanistan selbst dachten Mädchen darüber nach, wie sie nach langer Zeit wieder in den Städten demonstrieren könnten, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Und jetzt, nach all diesem Trubel und der Aufregung, starre ich auf diese Wortsalven, die Du mir geschrieben hast. Es sind Worte, die aus der Tiefe eines gebrochenen Herzens kommen. Es kommt mir vor, als ob diese Worte aus einer Sprache von uns allen stammten, als wären es die Worte von uns Frauen, die die allmähliche Erosion ihrer weiblichen Seele längst vergessen haben, einer Seele, an die man sich eigentlich mit Zärtlichkeit erinnert, einer Seele, für die Dichter Verse verfasst und Musiker Melodien geschrieben haben. Bei unseren Frauenkämpfen haben wir diese Seele verloren. Es ist, als wollten wir uns eine Zeit lang gar nicht mehr als Frauen fühlen. Unsere einzige Sorge in diesem letzten Jahr war, wie unser Kampf aussehen musste, einfach, um zu existieren, um zu überleben, um beieinander zu bleiben, um füreinander eine Brücke zu sein, Arm in Arm zu gehen und unsere weibliche Existenz auch unter dem Banner der Taliban zu bewahren.

Weißt Du, Mostafa, wir haben die Tränen in unseren Augen schon lange weggewischt. Ich glaube, unsere Tränenflüssigkeit war wegen der Verhärtung unserer Seelen schon ganz versiegt. Mit Herzen, die steinerner sind als jeder Findling, dachten wir nur an den Widerstand gegen die Macht der Unwissenheit. Jeden Tag erprobten wir neue Mittel und Wege, um die Stimme unserer Liebe zur Gerechtigkeit am Leben zu halten.

Nachdem ich die Zeilen Deines Briefes gelesen hatte, wurden mir meine eigene Heimatlosigkeit und auch meine Existenzlosigkeit als Frau aus Afghanistan bewusst. Plötzlich fand ich mich einsamer als je zuvor in einer großen Kirche wieder, einer Kirche, deren Decke voller Gemälde mit Propheten und Engeln war. Die Engel haben goldene Flügel und die liebenswertesten Gesichter und friedvollsten Augen. Ich fühlte mich so fremd und sonderbar, dass mir Tränen übers Gesicht liefen. Die Tränen riefen die Sätze Deines Briefes wieder wach und ließen sie an mir vorüberziehen. Ja, Du hast Recht: Wir sind wahrhaftig zu einem Nichts geworden. In einem Wörterbuch aus dem Nichts- und Nimmerland sind wir nur noch ein Eintrag mit der Bedeutung „Nichts“. Das Trauma, das wir erlebt haben, war so katastrophal und so tief erschütternd, dass Wissenschaftler der Organisation für psychische Gesundheit erst noch einen Namen für einen solchen Zusammenbruch der Seele finden und jahrelang an seiner Erforschung werden arbeiten müssen.

Mostafa, Du weißt nicht, wie freudlos ich in diesem einen Jahr geworden bin. Keine Seele existiert mehr in meinem Körper. Ich habe keine Lust mehr, etwas zu schreiben oder zu tippen, aber ich muss es trotzdem tun. Ich bin gezwungen, mich zu widersetzen und diesen Widerstand fortzuführen. Mir geht es wie jenem Baum, dessen Wurzeln gekappt wurden und der sich in Sturm und Wind den gewaltsamen Böen widersetzt, der standhaft bleibt und mit seiner ganzen Existenz versucht, nicht vollends aus dem Boden gerissen und weggeweht zu werden oder mitten entzweizubrechen. Dieser erschöpfte Baum möchte fest an seinem Ort verharren, auch wenn der Wind seine Blätter fortträgt und zornige Böen seine Zweige mit sich reißen und in alle Richtungen verstreuen. Selbst auf die Gefahr hin, in tausend Stücke zu zersplittern, hält er sich zäh an seinem Platz …

Mostafa, ich bin gezwungen, weiter zu lächeln und auf jede Sprachnachricht antworten, die mir die Mädchen zu jeder Tages- und Nachtzeit auf WhatsApp schicken. Ich muss ihnen antworten, und zwar mit der kräftigsten Stimme und im wärmsten Ton. Ich muss ihnen gute Nachrichten vom Einsetzen eines ruhigen Morgens und vom Beginn eines grün erblühenden Tages überbringen. Manchmal muss ich mich in die Tiefen ihrer verängstigten Herzen begeben und stundenlang den Morast ihrer Besorgnisse und ihres Zorns wegräumen. Ich muss das tun, damit sie mir auch weiterhin davon berichten, was die Taliban ihnen zufügen, damit sie von den Qualen erzählen, nicht zur Schule, zur Arbeit oder an die Universität gehen zu können: damit sie mir einfach erzählen, was ihnen widerfährt, damit sie mir erklären, warum es manchmal gefährlicher ist, zu Hause zu bleiben, als einen Zufluchtsort aufzusuchen. Nachdem ich mir ihr Leid angehört habe, wende ich Tausende psychologischer Tricks an, um ihnen einen kleinen Ausweg zu zeigen und zu verhindern, dass sie im Schlamm und Sumpf ihrer Depressionen versinken.

Weißt Du, Mostafa, sobald ein Gespräch zu Ende geht und das Leben wieder einsetzen lässt, wenn jenseits der Grenzen dieses Barbaristans namens Afghanistan auch nur der geringste Hoffnungsschimmer aufscheint, wenn ich dann mein Internet am Telefon ausschalte, wenn nach einer solchen Nacht der Morgen kommt und mein Kissen feucht von Tränen ist, dann bin ich unruhiger und verwirrter als jeder nachtwandelnde Frühaufsteher. Ich öffne meine Augen in Richtung der aufgehenden Sonne, um die Hoffnung wiederzubeleben und mir den nächsten Tag, der noch in schwarzer Farbe erscheint, in tausend und einem Farbton auszumalen und Setzlinge zu pflanzen. In meinen allerschwersten Tagen, seit ich die Heimat verlassen hatte, ist dies zu meiner Arbeit und zu meinem Handwerk geworden. Nur Gott weiß, wie viel Kraft mir das abverlangt. Aber noch bin ich nicht vernichtet. Noch mühe ich mich wie eine Ertrinkende, die sich selbst zu retten versucht und ohne eine helfende Hand ans Ufer gelangen muss. Ich setze Hoffnung auf das Morgen. Ich sehe kleine Sterne, die mich aus der Ferne anfunkeln, und ich spüre den Duft der Morgenbrise.

Mostafa, ich weiß nicht, ob Du bemerkt hast, wie groß die Welt ist und wie bunt. Mir war das zuvor nicht klar. Ich war der kleine schwarze Fisch von Samad Behrangi[1], der das Bächlein, in dem er lebte, nicht verlassen konnte, nicht verlassen durfte. Und dann gelangt dieser Fisch trotzdem bis zum Meer und wundert sich über das üppige Grün der Ebenen, die er auf seiner Reise gesehen hat. Mostafa, Du weißt nicht, dass ich Berge und Flüsse, Himmel und weite Felder überquert habe, um wieder atmen und Licht auf mein Leben, nein: auf das Leben meiner Söhne und Töchter werfen zu können und es wieder auferstehen zu lassen – auch abseits des ganzen Trubels, den die Religion mir bereitet hat.

Am Vorabend des ersten Jahrestages des Untergangs von Afghanistan möchte ich aufstehen und erhobenen Hauptes die Sonnenstrahlen begrüßen. Gerade jetzt, da die Morgendämmerung den Himmel über Rom leuchten lässt, muss ich wieder zu einer starken Frau werden, einer Frau, die ihre Kraft nicht mehr darauf verwendet, zu weinen und zu stöhnen. Verharren ist keine Option, Mostafa. Zum Jammern fehlt mir die Geduld. Ich möchte mit diesem Morgen, der sich gerade anschickt, sein Licht zu verströmen und diese finstere Stadt zu erhellen, wieder zu einer Frau werden, die die Stimmen anderer Frauen wahrnimmt, die Arm in Arm mit ihnen auf dem Weg der Gerechtigkeit und der Gleichheit kämpft und laut die Trommel schlägt, die die Finsternis der religiösen Herrschaft entblößt. Aus jedem Fenster, das sich öffnen lässt, soll das Licht des Wissens und des Lebens erstrahlen.

Batool

[1] Samad Behrangi, 1939 – 1967, iranischer Schriftsteller, Lehrer, Journalist und Bürgerrechtler

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Verharren ist keine Option - Brief 2

Batool Haidari an Mostafa Hazara: Als ich Deinen Brief öffnete, fiel ein schöner und ruhiger Mitternachtsregen, ein Regen, dessen Tropfen mit ihrem Plätschern einen wohlduftenden und sonnigen nächsten Tag ankündigten. Schnell las ich Deine Zeilen im Licht des Bildschirms. LesenText im Original

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