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Im Zenit der Nacht

Bahram Moradi

 

© Parastou Forouhar; aus der Serie Portraits, digitale Zeichnung, Digitaldruck auf Turner-Papier (2014)

Teheran, im Zenit der Nacht. Erschöpfte Lichter. Hilflose Schatten. Lauernde, geheimnisgeschwängerte Stille. Die Absurdität auf dem Höhepunkt. Mitten auf einer Seitenstraße, Nord-Nordwest hinter der Stadtautobahn, ist etwas Schwarzes auf den Boden gefallen.

Auf einem Balkon im zehnten Stock stehen eine Frau und ein Mann und rauchen.

„Wann hat das ein Ende?“, fragt die Frau.

„Warum immer über das Ende nachdenken?“

„Weil da, wo wir stehen, wohl kaum der Anfang ist“, sagt sie und starrt in den Zenit der Nacht.

„Fang nicht wieder davon an.“

„Reg dich nicht auf.“

„Ich krieg Kopfschmerzen.“

„Die hast du immer.“

„Immer dann, wenn du mit diesem Wann-endet-das?-Gejammer anfängst“, sagt der Mann und zündet sich eine weitere Zigarette an. Er läuft den Balkon die Länge nach ab und redet mit gesenkter Stimme. Bei der Frau kommen nur noch Bruchstücke an:

„… woran fehlt es dir? … dass das nicht geht … .“ Seine heisere Stimme wird nach und nach immer lauter.

Naeem, sagt die Frau mit einem Mal. Der Mann beachtet sie nicht.

„… eine Scheißsituation … „

„Naeem, Naeem, komm mal.“

„Zeitehe … völlig normale Sache … Frau und vier Kinder … nicht verlassen.“

„Naeem, hörst du nicht, du sollst kommen.“

Ein rätselhaftes Schaudern in der Stimme der Frau. Sie starrt vom Balkon in die Tiefe. In der fest um das Balkongeländer gekrallten Faust steigt aus einer heruntergebrannten Zigarette träge Rauch auf.

„Deine Finger“, sagt der Mann.

„Das dort, was ist das?“, fragt die Frau verängstigt. Der Mann zieht den Zigarettenstummel zwischen ihren Fingern heraus und wirft ihn fort.

„Was ist was?“

„Das da, das Schwarze da mitten auf der Gasse?“ Der Mann starrt hin.

„Pfütze oder so.“

„In dieser schmuddeligen Hitze?“

„Ein Schatten ist das.“

„Obwohl es so dunkel ist? Das sieht wie Kleidung aus.“

„Ich hab dir gesagt, trink nicht so viel.“

„Und die Hunde und Katzen … Was ist da unten los? Komm, sehen wir mal nach.“

„Spinn nicht rum, komm, ich hab noch was vor mit dir“, sagt der Mann, greift der Frau an den Po und zieht sie in die Wohnung.

Im Zenit der Nacht verzaubert das ausgestreckte Schwarze mitten auf der Straße die Hunde und Katzen der Teheraner Finsternis.

Einige Straßen weiter Richtung Süd-Nordwest geht ein Mann stockenden Schrittes im Wohnzimmer auf und ab.

„Jetzt sprich endlich. Wo warst du? Wenn dir in dem Chaos da draußen etwas zugestoßen wäre, was hätten wir dann gemacht?“

„Beruhige dich“, sagt die Frau, die auf dem Sofa neben einem jungen Mädchen sitzt.

„Du mischst dich da nicht ein, hab ich gesagt“, sagt der Mann.

„Sprich leiser.“

„Ich muss dieser Dame hier heute Nacht eine deutliche Ansage machen“, sagt der Mann und deutet in Richtung des Mädchens, die ihre Beine zu sich herangezogen und den Kopf auf die Knie gelegt hat. An einigen Stellen ist ihre Hose zerrissen, ihr weißes Hemd ist nicht mehr weiß. Schwarzes, zerzaustes Haar verdeckt ihr Gesicht. Ihre Brille hält sie fest umklammert in der rechten Hand.

„Herumschreien hilft dabei nicht“, sagt die Frau.

„Was hilft denn dabei, mh? Mittags geht sie aus dem Haus und seitdem ist ihr Handy aus. Jetzt kommt sie in diesem Zustand zurück.“

„Sie ist heil wieder nach Hause gekommen, das reicht mir für heute.“

„Weiß du, was da draußen los ist? Weißt du, wie viele junge Leute ich diese Gorillas mit meinen eigenen Augen in die Vans hab werfen sehen?“ Er bleibt hinter dem Kopf des Mädchens stehen. „Wenn dir etwas zustoßen würde, weißt du, wie wir dann dastünden? Dass wir die Untersuchungshaftanstalten, Gefängnisse und Friedhöfe nach dir absuchen müssten?“

„Hör auf damit“, sagt die Frau, „schrei nicht so. Die Nachbarn werden wach.“

„Sollen sie mal. Das hier sind schließlich unsere vier Wände.“ Er packt das Mädchen fest bei den Schultern, zieht sie vom Sofa hoch und schüttelt sie. „Wo bist du die ganze Nacht gewesen? Was ist passiert?“ Die Frau steht auf und legt dem Mädchen den Arm um die Schultern. Das Mädchen hebt den Kopf. Sie starrt den Mann an. In ihren Augen ist etwas, das ihm das Blut in den Adern stocken lässt. Kraft, Klarheit und Wut in ihrem Blick wühlen ihn auf. Er bricht zusammen. Die Frau presst das Mädchen fest an sich.

Klebriger Zenit der Nacht. Etwas Schwarzes auf der Straße hinter der Stadtautobahn.

Am äußersten Nord-Nordosten Teherans stehen zwei Männer neben einem Van mit Kühlzelle und rauchen. Beide betrachten das einzige große Gebäude im Umkreis, das in einem Kranz fahlen Lichts steht.

„Pass auf, was du denen sagst“, sagt der eine, ohne den anderen anzusehen.

„Ich?“, fragt der andere und schweigt darauf einige Momente lang. „Im Ernst, Morteza, zieh mich nicht in diese Angelegenheit hinein. Ich war hier nur der Fahrer. Ich weiß von gar nichts.“ Morteza baut sich vor ihm auf.

„Also, dann spitz mal schön die Ohren, Herr Fahrer. Ich-war-nicht-dabei, Ich-weiß-von-nichts und Schönfärberei gibt es bei uns nicht. Verstanden? Und jetzt geh und mach die Kühlzelle sauber.“

„Ich allein?“

„Es ist dein Van.“

„Es ist der Van vom Stützpunkt.“[1]

Morteza tritt den Zigarettenstummel aus und macht sich daran, zu gehen.

„Alles gründlich sauberschrubben“, sagt er noch.

„Das ist Blut. So leicht geht das nicht weg.“

„Mit dem Druck aus dem Wasserschlauch wird’s schon gehen.“

„Da drinnen ist es stockduster“, sagt der Fahrer.

„Der Pförtner dort hat eine starke Taschenlampe. Hadsch Naeem hat angeordnet, dass er sauber ist, bevor es dämmert.“

Ein schwarzer Körper ist in den Zenit der Nacht gestürzt.

In einer Straße ganz in der Nähe öffnet ein Mann die Tür zu einer Wohnung und tritt auf Zehenspitzen ein. Als er das Licht in der Küche brennen sieht, späht er hinein. Da hüpft ein kleines Mädchen von fünf Jahren hinter der Küchentür hervor. „Papi, warum kommst du erst so spät nach Hause?“ Sie springt dem Mann in die Arme. Eine Frau mit Kopftuch und in langen Kleidern steht im Türrahmen der Küche und schaut den Mann fragend an. Sie begrüßt ihn schmallippig: „Ich bin hier tausend Tode gestorben.“ Der Mann zieht seine Schuhe aus.

„Ich hatte eben zu tun.“

„Was, bis jetzt? Mitten in der Nacht?“ Der Mann setzt das kleine Mädchen auf den Boden.

„Ja. Und?“

„Warum hat der eine Fuß keine Socke?“, fragt die Kleine.

Der Mann schaut ausdruckslos seine Füße an, dann Frau und Kind. Die Frau kommt näher. Sie bückt sich und beginnt, die Schuhe des Mannes zu inspizieren.

„Wo ist die Socke, Arash?“

„Socke? Ach – ja. Da war was. Ich hab wohl nach der Waschung vergessen, sie wieder anzuziehen.“

„Du bist ja ganz durcheinander. Hast du schon gegessen?“ Der Mann setzt sich in Bewegung. „Ich esse nichts, ich gehe unter die Dusche.“ Das Mädchen läuft ihm nach.

„Ich komme mit!“

„Mein Schatz, es gehört sich nicht, zusammen mit seinem Baba ins Bad zu gehen.“

„Leg dich schlafen“, sagt der Mann. Die Frau hält das Kind an der Hand zurück. „Papa Arash ist müde, mein Schatz. Komm, wir gehen schlafen.“ Der Mann verschwindet im Badezimmer.

Zenit der Nacht. Schwarz in Schwarz. Eine Frau raucht auf dem Balkon im zehnten Stock eine Zigarette.

Im äußersten Nord-Nordosten, ein Zimmer in einem Gebäude auf einem Gelände, das wie ein Stützpunkt der Basidsch-Miliz aussieht. Zwei Männer sitzen sich am Tisch gegenüber.

„Lass dir nicht alles einzeln aus der Nase ziehen, Sadegh, Bruder“, sagt der mit dem Kugelschreiber in der Hand.

„Gut, also, sie hat mir den letzten Nerv geraubt, das Miststück, Hadschi.“[2]

„Behruz hat gesagt …“

Sadegh fährt sich nervös durch den Bart.

„Behruz redet Scheiße, bei Imam Hosseins durchgeschnittener Kehle, so war’s nicht.“

„Also, wie war es denn dann?“

„Ich gestehe, ich war erregt, aber …“

„Deine Hand war nicht in ihrer Hose?“

„Sie hat geflucht, diese Furie, Gott ist mein Zeuge, von dem Moment an, als wir sie festgenommen hatten, hat sie einen Radau gemacht, da verging dir Hören und Sehen.“

„Da hast du sie in den Tiefkühl-Van geworfen und dich auf sie gesetzt.“

„Es waren zwei. Die sind auf irgendwas raufgeklettert, haben ihre Kopftücher angezündet, Parolen skandiert und die anderen aufgewiegelt.“

„Und von euch Brüdern waren alle drei in der Kühlzelle?“

„Wir hatten zwei von denen im Visier. Wir haben sie im Gewühl verloren, aber nach einer Stunde tauchte dieses vaterlose Ding wieder auf.“

„Hat jemand gesehen, wie ihr sie festgenommen habt?“

„Von vorn bis hinten haben die unser System beschimpft und beleidigt, die haben ihre Kopftücher verbrannt“, Hadschi.

„Ja, das sagtest du bereits. Was ist im Van passiert?“

„Arash hat eine Socke ausgezogen und das Mädchen damit geknebelt, Gott ist mein Zeuge, Hadschi, die hat geflucht, dass es uns den letzten Nerv geraubt hat.“

„Was dann?“

Sadegh schlägt mit der Faust auf den Tisch und steht auf.

„Was dann, will er wissen! Dann hat sie wieder angefangen, um sich zu schlagen!“

„Nun erhitz dich mal nicht. Wir biegen das schon wieder zurecht.“

„Wären wir nicht auf den Straßen unterwegs, es würde keinen Tag dauern und die würden uns aufknüpfen.“

„Wir machen das, damit wir, falls morgen irgendwas davon rauskommt und die Runde macht, wissen, wie sich die Sache wieder einrenken lässt.“

„Wovor hast du Angst, Hadschi? Lass es rauskommen und den anderen eine Lektion sein.“

„Geh heim, leg dich schlafen.“

„Dann war’s das also, Hadschi, ja?“, sagt Sadegh und deutet auf Hadschis Notizbuch.

„Hab Vertrauen in Gott. Geh und schick Hadsch Morteza rein.“

Ein schwarzer Körper im Zenit der Nacht. Hunde und Katzen verschmolzen mit der Nacht.

„Beim Stützpunkt wollten sie sie nicht aufnehmen.“ Auf Sadeghs Stuhl sitzt nun Morteza.

„Warum nicht?“

„Weil mehrere festgenommene Frauen und Mädchen dort waren und die Brüder Sorge hatten, dass dieses Mädchen sie mit ihrer schamlosen Art aufwiegeln könnte.“

„Was hast du dann gemacht?“

„Ich hab Hadsch Naeem angerufen, der meinte, wir sollen sie ins Evin-Gefängnis bringen.“

„Was passierte im Van?“

„Gott kennt die Wahrheit, ich hab vorn gesessen, neben dem Fahrer.“

„Aber den Lärm hast du ja wohl gehört.“

„Etwas habe ich gehört.“

„Und da bist du nicht nachschauen gegangen, was los ist?“

„Da gab’s nichts nachzuschauen, Hadschi. Letztlich mussten sie ihr das Maul stopfen, nichts weiter.“

„Alle haben mitgemacht, richtig?“

„Wallah, Hadschi, plötzlich ist mir aufgefallen, dass es ganz still ist, da hab ich dem Fahrer gesagt, halt mal an, bin nach hinten in die Kühlzelle, man konnte die eigene Hand nicht vor Augen sehen, also mach ich die Taschenlampe an und seh alle drei mit Schlagstöcken in der Hand da vor sich auf den Boden starren und das Gesicht des Mädchens voller Blut.“

„Behruz sagt, er hätte nicht zugeschlagen.“

„Just in dem Moment hat er noch gesagt, dass er in der Dunkelheit nicht unterscheiden konnte, was was ist, und einfach zugeschlagen hat.“

„Was hast du dann gemacht?“, fragt der Hadschi.

„Ich hab das Mädchen aus der Kühlzelle geholt, hab ihr Gesicht bisschen saubergemacht, aber mit der war’s vorbei; dann hab ich Hadsch Naeem angerufen und er meinte, wir sollen sie in irgendeine verlassene Seitenstraße werfen.“

Im Zenit der Nacht beugen sich ein Mann und eine Frau über einen dunklen Schemen. Die Frau presst sich an den Mann. Ihre Fingernägel bohren sich in seinen Arm.

„Sie blutet überall. Ruf die Polizei, Naeem.“

„Sie wird eine Anwohnerin sein.“

„Sie hat Schuhe an. Da ist auch ihr Rucksack. Die haben sie umgebracht, Naeem.“

„Bullshit, sie ist von dort oben runtergestürzt, hat sich das Leben genommen.“

„Jemand der von dort oben runterstürzt, sieht der denn noch so intakt aus, wenn er unten ankommt?“

„Woher soll ich das wissen? Vermutlich war das eine dieser drogenabhängigen, elternvergessenen Ausreißerinnen, von denen in Teheran Abertausende herumlaufen, weißt du, wie viele von denen sich jeden Tag umbringen?“ Die Frau weicht vor dem Mann zurück. Sie schaut hinauf in den Himmel. Der Wind weht aus Süden.

Eingeschmolzenes Teheran, im Zenit der Nacht.

 

 

 

 

 

[1] Gemeint ist ein Stützpunkt der Basidsch, eine Freiwilligenmiliz, die sich überwiegend aus den unteren sozialen Schichten der iranischen Gesellschaft rekrutiert. Die Milizen, s.g. Baidschi, erhalten für ihren Dienst nur eine niedrige oder gar keine Besoldung, dafür aber viele Vorteile, z.B. in Form von Studienplätzen, Stipendien oder beruflichen Beförderungen. Die Basidsch ist heute überwiegend dafür zuständig, in den Dörfern und Städten die Einhaltung des rigiden Moralkodexes der Islamischen Republik durchzusetzen. Dafür haben sie allerorts mehr oder weniger gut ausgestattete, kleine Stützpunkte errichtet. [A.d.Ü.].

[2] Respektvolle Anrede älterer Männer, bei denen aufgrund des Alters davon ausgegangen wird, dass sie der religiösen Pflicht der Pilgerfahrt nach Mekka (‘Hadsch‘) bereits nachgekommen sind, unabhängig davon, ob die so bezeichnete Person die Pilgerfahrt tatsächlich gemacht hat oder nicht [A.d.Ü.].

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