Flüchtlingslager, schau durch meine Augen
Flüchtlingslager, schau durch meine Augen
und weine nicht wegen mir, nicht um mich
wenn ich meine Arme von deinem Körper löse
und dich loslasse in Flughafenhallen
Weine nicht, wenn ich die Schultern hängen lasse auf der Bühne
und steif wie ein Stuhl über deine Straßen schweige
weil ich dort noch immer stehe – und einen Ausweg suche
weil ich mit deinen rastlosen Augen nach Haifa kam
um die Gespenster Haifas in meinem Kopf zu meucheln
um sie für meine letzte Erzählung zu opfern
Ach, wenn du Haifa doch nur auch gesehen hättest: wie sie mit ihrer Schönheit die Pferde versetzt
die still um den Teich meiner dämmernden Seele stehen –
würdest du weiterhin sagen, diese Wiederkehr sei der Freitod der Erzählung?
Schau mich an, wie ich in Flughäfen ein- und ausgehe
ohne dass Mutter die Gardinen des Hauses in Stücke reißen muss, auf der Suche nach einem Weg
Sieh: Sie sind alle längst gestorben, während sie hinter den Vertriebenen die Gardinen wieder flickten
während meine Eltern an der Grenze ihrer Staatenlosigkeit warten
während ich im Flughafen zwischen Weltgerichtsgeschrei hindurchgehe
und die Nägel meines Fleisches in meinen Reisepass drücke
den ich dem Kontrolleur vors Gesicht halte
der angewidert das Schlauchboot von mir pflückt
als wäre es ein eingetrocknetes Kaugummi
und ich sage: „So waren schon meine Vorväter.“
Dann lächle ich einfältig, verkünde dem Wasser meinen Hass und setze über
ohne das Meer von Haifa zu erreichen
ohne es auch nur anzusehen – wie einst mein Großvater, nur mit mehr Genuss
Keiner wird mir glauben
Aber ich werde immer wiederkehren und auch mein Körper wird sich mit dem Ritual des Übertritts anfreunden
Meine suspekte Habe werde ich in eine Plastiktüte versenken
die ich mir aber nicht um den Hals hänge
oder im Auge behalte, aus Angst vor den Augen der Meere
Als wäre ich selbst noch nie als Toter dort hineingegangen, um zu leben
Als vergäße ich / als glaubte ich, dass diejenigen, die sich auf den Weg Richtung Norden gemacht hatten
mich nicht sehen können
vor lauter Schattenspiel, das ich ihnen ins Auge warf
Sieh nur, Flüchtlingslager:
Man kann nichts mehr von mir sehen
Ich löse meinen Arm von deinem Körper
und laufe aus den Flughäfen hinaus
Dort hat mich keiner je wieder gesehen
und hier hat mir keiner geglaubt!
Ich sage mir: Weine nicht, bloß weil der Taxifahrer dich fragt, woher du kommst
Weine nicht geschlossenen Auges
du musst doch etwas sehen
Und wenn du doch weinst, dann laufe nicht
Bleib stehen und lächle übers ganze Gesicht
für den, der seine besten Jahre auf dem Beton verteilt
Lächle übers ganze Gesicht, für deine Eltern und die Steine in Wadi Salib
Schließlich bist du nicht zum Büßen hergekommen oder um Orte um Vergebung zu bitten
Du bist gekommen
weil du gekommen bist, wenn auch verspätet
durch die Reise deines Großvaters während der
dir nie einer zugelächelt hat.
Haifa, 6. August 2023