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Flashback

Abdalrahman Alqalaq
© Ramin Parvin, Mixed Media auf Leinwand, 215 x 200 cm (2018)

„Jeder hat sein Granada“[1] und jeder sein Damaskus, das er liebt und verlor.

 

Hier in diesen Gassen am Rhein nachts allein nimmst du alles wahr. Hinter den Fenstern wohlgeordnet weiße Orchideen. Drinnen das Licht ausgeschaltet – weil die Bewohner es so möchten und nicht weil sie Razzien befürchten. Die Stores sind aufgezogen. Denn hier lauert hinter der Scheibe nicht ungeduldig der Tod.

Der Weg verliert sich im Dunkeln. Außer dir ist niemand draußen. Du erspürst deine Umgebung: eine einsame Straßenlaterne, akkurat gebrochene Pflastersteine, Glasscherben, Biergeruch, der dem Asphalt entsteigt. Poetische Bilder spulen sich vor dir ab, kleinteilig bis zum Überdruss. Es ist, als beherrschten deine Sinne den Raum. Geschichte ist an diesem Ort offenbar abwesend, verbannt hinter den elfenbeinernen Vorhang, schattenlos.

Hier die Straße zu nutzen, ist - im Gegensatz zu dort - unbedenklich. Du kannst gehen, herumstehen, nichts tun. Kannst leben wie ein Mensch der nördlichen Hemisphäre oder überstürzt sterben. Du nimmst das Leben ernst, folgst ihm wie ein Prophet, verhöhnst den Tod, weil er nichts ausrichten kann gegen Rettungshubschrauber und Schrittmacher in Herzen, erschöpft von der Maskerade des Wohlstands und menschenfeindlicher Industrie.

Jetzt hier allein kannst du ins Hier eintauchen oder dem Dort nachhängen. Denn die Straße gehört den Fußgängern, die sich über die kommenden Generationen Gedanken machen und nicht darüber, wer die Bleihäuser errichtet hat.

 

In Damaskus dagegen gehören die Straßen der Vergangenheit samt ihren Katastrophen. Es kommt selten vor, dass man auf ihnen niemanden antrifft - Bettler und Obdachlose nicht mitgezählt. Und sind sie ausnahmsweise doch einmal leer, ist man dennoch nie ganz allein. Aus dem Nichts taucht der Schatten eines anderen auf, läuft neben dir her, kreuzt deinen Schatten, vereitelt dir das Recht auf einen einsamen Tod oder ein normales, geregeltes Leben.

Damaskus überlagert deinen Schatten mit dem seinen, oder ich möchte lieber sagen: dem ihren. Es ist, als hätte die Stadt ein allmächtiges Dasein.

Mythos? Oder Verkörperung einer erhabenen Frau, die uns zusieht, wie wir die Kleider verschleißen, die sie seit Anbeginn der Schöpfung trägt? Einer Ewigkeit, in der Damaskus zig Namen hatte: Ra’s Bilad Aram, Gillaq, Gairun, Ain Asch-Scharq, Hadirat Ar-Rum, Dhat Al-Imad, Fustat Al-Muslimin, Bab Al-Kaaba, Al-Faiha‘, Al-Adhra‘. All die Jahrtausende hindurch begleitete jener Frauenkörper das Leben der Stadt, kreuzte die Wege seiner Bewohner, läutete mit Erschütterung neue Epochen ein. Die Menschen, vom Geschehen verunsichert, führten und führen alles Unbegreifliche auf Geschichte und Religion zurück. Schriftsteller und Künstler dagegen begegnen dem Ganzen mit kreativer Sensibilität und surrealen Bildern, was der Sache jedoch nicht dienlich ist.

An dieser Stelle drängt sich mir eine Frage auf: Wie verhält sich die Beziehung zwischen dem Geist einer historischen Stadt und ihren Bewohnern? Wie kommt es, dass die materielle Welt solche Verhältnisse schafft, dass das Schicksal beider miteinander verschmilzt?

Ich wälze die Fragen wie ein Rätsel, merke, dass ich mich in abgehobenen Gedankenspielen verrenne. Wohl der Chauvinismus eines Menschen, der eine Stadt wie Damaskus kennengelernt hat und von ihr verleugnet wird. Na ja - jeder hat sein Granada und jeder sein Damaskus.

Mir fährt durch den Sinn, was die Stadt durchmacht, und ich schäme mich, so abgedriftet zu sein. Im nächsten Moment wird mir die Wucht ihrer Grausamkeit bewusst und ich muss über meine sprachlichen Ergüsse lachen. Für einen solchen Flashback bin ich wohl noch nicht bereit.

Es ist, als würde ich im Hier noch dem Dort nachhängen.

Hier – schleppe ich einen Körper, der von Sehnsucht und Reise entkräftet ist.

Dort – hüte ich die Angst, die meine Mutter mir mit der Haarnadel in den Rucksack nähte.

–––

 

Die Angst in Damaskus

Menschen rennen, die Angst fällt ihnen aus dem Gesicht wie die Basmala-Formel Müttern aus dem Mund, die nachts auf die Heimkehr ihrer Söhne warten.

Du musst nur kurz vom Boden aufschauen und schon blickst du der Angst ins Auge. Du eilst weiter. Die Hast in Damaskus hat andere Ursachen als die Geschäftigkeit in der Wirtschaftsmetropole Frankfurt.

In Damaskus eilt, nein - rennt man ohne ersichtlichen Grund. Mit Existenzsorgen hat das wenig zu tun. Denn auch Kinder sind auf der Flucht. Fliehen vor dem Erbe, dem Fluch der Angst. Sie entwinden sich dem Griff des Vaters, der in seiner Panik die zarten Handgelenke fast zerquetscht.

Auch Müttern ergeht es nicht besser. Von Gebet und bangem Lächeln begleitet, stürmen sie los, um Tomaten und Zucker zu beschaffen. Denn Lebensmittel dürfen laut Weisung des Checkpoints ausschließlich um sechzehn Uhr ins belagerte Viertel gelangen – und nur in begrenzten Mengen.

Wie ein gefügiger Hund kauert die Angst nachts an deinem Bett. Damit du in Ruhe schlafen kannst, wirfst du ihr deine Augäpfel hin. Am Morgen, wenn du das Kalenderblatt vom Vortag abgerissen hast, bekommst du deine Augen zurück. Du wirst mit deinem Bild in den Nachrichten gezeigt und die Welt lechzt begierig. Am Abend legt sich die Angst an deinem Bett zum vergangenen Tag. Denn das Gestern ist noch immer da. Seit Beginn des Krieges besteht es fort, verrinnt nicht, macht sich keine Gedanken darüber, welchen Titel künftige Geschichtslehrbücher tragen sollen, findet keinen, der sich als Nationalheld zur Verfügung stellt. Stattdessen zeigt es sich nach Explosion und Massaker am nächsten Morgen erneut. Feist grinsend wie ein moderner Kriegstreiber kämmt es sein Gedächtnis mit vorsintflutlichem Messer.

 

Allgegenwärtig ist dort die Angst.

Du fürchtest dich vor der Angst der anderen, versuchst nicht herauszufinden, was sie beunruhigt. Von religiösen Gesetzen geschürt, haben die Menschen die Angst verinnerlicht, sie zur Tugend gemacht. Angst hat viele Erscheinungsformen: Sie kann sich als Auszeichnung manifestieren, als göttlicher Wille, als Verzweiflung. Verzweiflung einer Mutter, die ihren einzigen Sohn vielleicht nie mehr wiedersieht. Oder sie zeigt sich in Form eines Lehrers, der sich notgedrungen der Baath-Partei angeschlossen hat, das eigene Leben rettet, indem er einen Satz nachplappert, den er auf einer vom „Obersten Genossen“ einberufenen Konferenz aufgeschnappt hat. Meistens aber zeigt sich die Angst in Gestalt eines feisten Körpers, der dich anrempelt, sobald du den Fotoapparat hebst.

„Wie kriegst du diese Fotos hin?“, fragte ich Niraz Saied einmal. „Wie kannst du all das mit dem Auge einfangen: Wirklichkeit, Traum, Fantasie, Enttäuschung, Licht, Schmerz, Freude, Leid, Rache? Verrate es mir.“

Auch wenn Niraz und ich uns in Jarmuk immer wieder über den Weg gelaufen waren, so hat uns nicht das Flüchtlingslager an sich zusammengeschweißt, sondern dessen Belagerung. Eile und Misstrauen waren unser gemeinsamer Nenner. Nicht die Liebe zu dem Ort verband uns, sondern der Zorn auf ihn. Getrennt wurden wir ebenfalls von Damaskus. Mich vertrieb die Stadt an einem heißen Augusttag, ihn verbannte sie am 2. November ins Gefängnis, wo er unter Folter den Tod fand.

 

Am Morgen nahm ich Abschied von meiner Mutter. Ob ich meinen Personalausweis eingesteckt habe, fragte sie, statt mich wie sonst immer an das Thymianbrot zu erinnern. Dann kam der Checkpoint, der nun anstelle der Bäume dastand und Teil der Straße geworden war. Ich wünschte, ich wäre eine Barrikade oder ein Baum, dachte ich. Aber nein, stattdessen muss ich ein Junge aus Fleisch und Blut sein und mir die Füße wund stehen, weil ich mir ein romantisches Ende ausmale, das mich schmückt. Dabei reicht meine dichterische Vorstellung nicht weit - nur für Stromschläge, misshandelte Genitalien, ausgerissene Fingernägel, Vergewaltigung, Gefangenschaft in einer überfüllten Zelle zusammen mit Leichen – solchen, die noch am Leben sind, und solchen, die ihr Recht auf den Tod erhalten haben.

 

Meine Fantasie lässt mich im Stich. Ich blende alles aus: Fantasie, mich selbst, meinen Körper, den Checkpoint, den Soldaten vor mir. Alles blende ich aus und denke an das Gesicht meiner Mutter.

 

Meine Fantasie lässt mich im Stich! Ich, ein verträumter Dichter voller Visionen, bin noch nicht einmal imstande, mich vor meinen eigenen Gedanken zu retten: Dass der Soldat meinen Namen vielleicht auf der Schwarzen Liste findet. Dass ich, auch wenn ich das Nadelöhr passiere, aufs Übelste verunglimpft aus meiner Haut, meinem Namen und der Reihe meiner Ahnen katapultiert werde.

Aus einem unerfindlichen Grund notierte ich die Beleidigungen, die ich mir von Soldaten am Checkpoint und von einem Bewohner unseres Viertels anhören musste. Letzterer, der hervorragend bei den Schlägertrupps aufgehoben gewesen wäre, hängte den Schimpfworten, die er gegen mich richtete, immer eine weibliche Endung an, insbesondere, wenn sie sexueller Natur waren.

Trotzdem bemühte ich mich, das Weibliche nicht aus meinen Gedichten zu verbannen und den Orten das Attribut des Weiblichen zuzugestehen.

Auf diese Weise widersetzte ich mich intuitiv dem männlichen Krieg gegen die weibliche Stadt und gegen die Frau in mir – also gegen mich.

Und nun liege ich in einem weit entfernten Land unter einem Spiegel, sehe, dass mich Damaskus überzieht und ich mit der Stadt verwoben bin, und zähle ihre Gesichter in meinem Körper.

Ich schiebe die Stadt von mir, versuche sie auf Abstand zu halten, stelle mir vor, mein schmächtiger Körper sei eine Burg und meine Hände die Tore. Ich öffne die Tore. Dann stehe ich auf und betrachte mich in der Vertikalen. Nun kann ich mich selbst durchsuchen – zum ersten Mal entspannt und frei von Checkpoint-Phobie.

Ich durchsuche mich selbst. Nichts da. Nur zerknitterte Zettel in den Taschen, ein Schwarm blauer ineinanderfließender Zeilen. Die Pupillen geweitet trotz der Autoscheinwerfer der Grenzpolizei, die mich verletzen – jedes Mal, wenn der Tod einem Angehörigen ins Gesicht schaut.

Ich durchsuche mich selbst erneut, zähle wie besessen meine Augen. Mir wird bewusst, wie schwierig es ist, sich selbst ein drittes Auge ins Fleisch zu bohren. Ich muss lachen. Meine Hände haben es geschafft. Wie sonst könnte ich dich sehen, meine Liebe?

Ich zähle meine Zähne und beiße aus einem inneren Bedürfnis heraus in meinen rechten Unterarm. Ich muss zugeben, dass Bücher mir nicht die Kraft verliehen, die ich mir gewünscht hätte, als ich in der Grundschule von einem Mitschüler verprügelt wurde. Dafür verdanke ich den Büchern handwerkliches Ungeschick.

Ich durchsuche mich selbst. Nichts da, nur der Körper eines Zwanzigjährigen – laut Schätzung.

Angeblich tragen wir dich in uns. Wo bist du also?
Ich sehe nur den schmächtigen Körper eines Mannes, der die Gesichter vieler Frauen trägt: Mutter, Schwester, Dua‘, Yara, Khitam. O Gott! Wieso habe ich nicht auf sie reagiert? Sie riefen mich mit den Augen. Aber ich hatte nicht den Mut, die Autotür zu öffnen und umzukehren, hatte nicht den Mut, mich selbst zurückzuwerfen.

Ich war nicht Manns genug, die Frau in meinem Körper zu verteidigen, nicht Manns genug, das weibliche Damaskus aus meinem Körper zu verbannen.

Heute bin ich hier – dort.

Ich habe einen Flashback und werde mir bewusst, dass diese Erfahrung, wenn auch überstanden, weiterhin Konflikte in mir auslösen wird.

Ich werde mir bewusst, dass neue Situationen folgen, die unausweichlich Enttäuschung mit sich bringen. Dass nur ein Kompromiss dich vor dir selbst retten kann.

Ich bereue meinen ersten Kompromiss nicht, auch nicht das Chaos, in dem ich ihn erschaffen und getötet habe.

Ich bereue nicht das Mitgefühl, das ich für die Umwelt habe, bereue nicht meinen Glauben an die Dinge und die Menschen.

Es war mein erster und einziger Weg, mich dem Leben zu stellen.

 

[1] „Es ist Geschichte“, schreibt Louis Aragon. „Alles hängt stets mit der Geschichte zusammen. Welche Bedeutung hatte Granada für François-René de Chateaubriand? Was bedeutet die Stadt mir?“, fragt sich Aragon und stellt fest: „Jeder hat sein Granada.“

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