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Die Tuberkulose Frauen (IV)

Reber Yousef
Bild von Nagham Hodaifa: Titel: Esseulé, Mixed media on paper 14,8×21 cm (April 2020)
© Nagham Hodaifa: Einsam, Mischtechnik auf Papier, 14,8 x 21 cm (2020)

 

### Achtung: Dieser Text beinhaltet explizite Darstellungen von Gewalt und Grausamkeiten ###

 

Hinter den dichten Wolken hervor warf das blasse Licht mit dem Regen Schatten auf die Erde. Die Umgebung hier in den Sindschar-Bergen war für die Soldaten und ihre Pferde nur undeutlich zu erkennen. Der Führer, der der Kavallerie voranritt, murmelte dem Kommandanten etwas zu, der daraufhin am Rande des Dorfs Dschidala den Befehl zum Halten gab. Die Pferde gruben ihre Hufe in die Spiegelungen der Schwerter und Gewehre in den Wasserlachen am Boden. Der Kommandant zeigte mit der Peitsche in seiner Rechten auf einen Offizier und forderte ihn auf zu sprechen. Der Offizier zügelte sein Pferd. Es erzitterte, seine Nüstern dampften und es warf seinen Kopf nach hinten, um den Druck des Zaumzeugs auf seine Maulwinkel zu lindern. Es schnaubte, als der Offizier zu sprechen begann:

– Soldaten Gottes, Soldaten unseres Herrschers, des Sultans Ghazi, und des Beherrschers der Gläubigen, Abdulhamid II. Im Namen Allahs des Allmächtigen.
Allah sagte in seiner Offenbarung: ‚O die ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und den Befehlshabern unter euch.‘ Gott, der Erhabene, hat die Wahrheit gesprochen.
Soldaten des Sultans, unser Herrscher hat im Yıldız-Palast dem tapferen Kommandanten und Diener unseres Herrn, Ayyub Bey, die Aufgabe anvertraut, die Jesiden zu unterwerfen und den Islam unter ihnen zu verbreiten. Jene, die zum Islam übertreten, haben nichts zu befürchten, jene jedoch, die sich ihm verweigern, werden wir im Feuer brennen lassen, wir werden ihnen die Kehle durchschneiden und die Bäuche ihrer schwangeren Frauen aufschlitzen. Dies ist der Befehl unseres Herrschers, des Sultans. Ihr werdet euch in den euch zugewiesenen Gruppen über die Dörfer verteilen, bis wir ihr Heiligtum in Lalisch erreichen. Dort werden wir, so Gott will, das Siegesgebet verrichten.

Die Pferde bewegten sich unter lautem Wiehern und Schnauben schneller. Die Anführer der Trupps führten die Soldaten in verschiedene Richtungen, bis nur noch Ayyub Bey mit seinem Trupp zurückgeblieben war. Er bewegte sich mit seinen Soldaten auf Dschidala zu, begleitet von den Trommelklängen der Militärkapelle, während die heiseren Stimmen der Soldaten ihre Hymne sangen:

„O glorreiche Armee, glorreicher Soldat
Mutig bist du, siegreich auch auf dem Meer
In der einen Hand den Schild, in der anderen das Schwert
Geh auf die Feinde zu, du glorreicher Soldat
Selbst auf dem Meer werden wir siegen
Wir werden rufen: Gott ist groß
Allahu akbar, Allahu akbar
Möge unsere Armee immer siegreich sein“

Wenn sie bei der letzten Zeile angekommen waren, begannen sie wieder von vorn, bis die Spiegelbilder der Pferde in den Pfützen, die sich nach dem Regen in der Mitte des Dorfplatzes gebildet hatten, zur Ruhe kamen. Der Dorfscheich Tamr stellte sich direkt vor Ayyub Bey auf, während die Augen der Frauen, Kinder und Männer durch die Ritzen der Holztüren an den Lehmhütten blitzten wie die Namen der Toten auf den Zungen der Geretteten. Ayyub Bey überbrachte dem Dorfscheich die Worte des Sultans Abdulhamid II. Sie brachen wie die Steine eines Vulkans über ihn herein. Er schleuderte dem osmanischen Anführer seine Erwiderung entgegen:

– Habt ihr vielleicht meine Vorfahren unterwerfen können? Wir ziehen den Tod vor, wie schon unsere Ahnen. In eurem heiligen Buch heißt es doch: Es gibt keinen Zwang im Glauben.

Kaum waren die letzten Worte des Scheichs durch den Regen gedrungen und vom Dolmetscher ins Türkische übersetzt worden, gab Ayyub Bey seinem Pferd die Sporen. Es bäumte sich auf und schon fiel der Kopf des Scheichs, nach einem kurzen Streich von Ayyub Beys Schwert zu Boden. Aus den Häusern drangen die durchdringenden Schreie der Dorfbewohner. Die Soldaten stiegen ab, verteilten sich wie Weizenkörner zwischen zwei Mühlsteinen und drangen mit dem Ruf Allahu akbar, Allahu akbar in die Lehmhütten ein. Sie trieben die Bewohner zum Dorfplatz und zwangen sie, sich auf den Boden zu knien. Die Hütten leerten sich, ihre hölzernen Türen schwangen hin und her. Die Männer wurden von den Frauen getrennt, die unverheirateten Mädchen von den verheirateten Frauen, die Kinder von ihren Müttern. Sie glichen Resten von zerfetzten Nestern auf den Zweigen eines Baumes. Nun waren es diese gebrochenen Schatten, die sich in den Pfützen auf dem Platz spiegelten.

Als hätten die Soldaten diese Vorführung schon viele Male geprobt, schlugen sie den alten Männern unaufgefordert die Köpfe vom Leib und rollten sie in die Mitte der nach Alter, Geschlecht und sozialem Status aufgereihten Jesiden. Ayyub Bey ging auf die Mädchen zu, die sich aneinanderklammerten und gegenseitig zu schützen suchten. Er zog eine von ihnen an den Haaren und warf ihre Kopfbedeckung in den Wind, wo sie der Regen zu Boden sinken ließ. Er zerrte das Mädchen hoch und trieb sie in die Mitte des Platzes. Dort schrie er ihr ins Ohr:

– Wie heißt du?

Sie verstand ihn zunächst nicht, denn ihre Ohren waren nur an die kurdische Sprache gewöhnt. Als der Dolmetscher auf sie zukam und ihr die Worte des Anführers übersetzte, antwortete sie jedoch sofort:

– Ich heiße Chansi.

Noch während sie das sagte, brach sie zusammen, doch der osmanische Anführer hob sie wieder auf.

– Wie alt bist du, Mädchen?

Atemlos gelang es Chansi schließlich zu antworten:

– Ich weiß nicht.

– Ich werde dir nichts tun, Mädchen, ich möchte nur, dass du genau beobachtest, was jetzt geschehen wird. Schau zu und lerne daraus, dass du mir zu gehorchen hast.

Chansi war unfähig zu denken, als sie auf ihrem nassen Gesicht den heißen Atem des Kommandanten spürte und die heisere Stimme des Dolmetschers vernahm.

Ayyub Bey gab seinen Soldaten einen Befehl. Wie ein Schwarm Raben stürzten sie sich auf die zusammengekauerten Frauen. Mit einer Frau, die ihren Säugling in den Armen hielt, kamen sie in die Mitte des Platzes zurück. Sie zerrissen ihr vom Regen, ihren Tränen und Gebeten durchnässtes und vom Schlamm beschmutztes Kleid und steckten ihre Brustwarze in den Mund des Kindes. Das Schwert durchschnitt den gleichmäßigen Regen, als der Soldat es auf den Leib der Mutter zu bewegte, um ihr die Brust abzuschlagen. Mit Milch vermischtes Blut spritzte auf das Gesicht des Kindes, in dessen Mund sich noch immer die Brustwarze der Mutter befand. Einer hob es hoch und hisste es wie eine Fahne am Mast. Den Umstehenden wurde befohlen, genau hinzusehen. Chansi brach in den Armen von Ayyub Bey zusammen, der soeben befohlen hatte, allen Kindern, die größer als fünf Spannen waren, den Kopf abzuschlagen, und die anderen mit den Frauen und Mädchen in eine Scheune zu sperren, um sie am nächsten Morgen zum Heiligtum in Lalisch zu bringen. Die bewusstlose Frau ließ man auf dem Dorfplatz inmitten der abgeschlagenen Häupter liegen. Auf die Stelle, an der der Soldat die Brust abgetrennt hatte, streute man eine Handvoll heißen Kalk.

In einer der Dorfhütten saß Chansi auf einer Matte. Auf ihrem Gesicht und ihren Haaren flackerte das rote Licht der Öllampe, als Ayyub Bey eintrat und die Tür hinter sich verschloss. Chansi, die an Händen und Füßen gefesselt war, gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Ihr Atem wurde langsamer, als ergäbe sie sich bereits dem Tod. Wie ein Fisch auf dem Trockenen erzitterte ihr Körper in dem Licht, das über die Wände aus Lehm und Stroh tanzte. Der Anführer beugte sich über sie und flüsterte ihr auf Türkisch etwas ins Ohr. Chansi verstand ihn nicht. Sie bewegte ihre Lippen, als sagte sie ein Gebet auf, das sie vor dem retten würde, was ihr bevorstand. Der Anführer redete immer noch nahe an ihrem Ohr auf sie ein, endlose Sätze, deren Rhythmus durch lange Schlucke aus dem Weinbecher in seiner Hand unterbrochen wurde. Türkische Worte schwirrten im Zimmer umher, das Licht in der Öllampe wurde schwächer und ging schließlich ganz aus, als fürchte es sich vor dem Schrei, den der Kommandant in Richtung der Lampe ausstieß. Dunkelheit hüllte Chansis Körper ein und ließ ihre flehenden Schreie, die sich mit dem Geräusch der Kleidung des Anführers und seinem Gestöhn vermischten, um so durchdringender erscheinen.

 

Am nächsten Morgen schien die Sonne am blauen Himmel, an dem zarte Wölkchen trieben, und tauchte die Welt in ein klares Licht. Chansi wurde auf einen Holzkarren gesetzt, vor den ein graues Pferd gespannt worden war, das sich schon bald in Bewegung setzte. Der Wagenlenker hatte seine Peitsche herabsausen lassen, nachdem einer der Soldaten mit der erhobenen Fahne das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte. Der Trupp und die jesidischen Gefangenen, die mit langen Seilen aneinandergefesselt worden waren, auf ihren Leibern noch geronnenes Blut, liefen los. Ihre Blicke wandten sich zu den in der Mitte des Dorfplatzes aufgetürmten Köpfen, zu den Leichen der Kinder und Alten, zu ihren geplünderten Häusern, den Türen, die auf der Schaukel der Zeit hin- und herschwangen, stumm, als hätten sie den Ort der Tränen in ihren Herzen verlassen. Der Konvoi bewegte sich auf Wegen voran, die sich wie Wunden auf einem Körper durch die Sindschar-Berge zogen. Es waren dieselben Wege, auf denen die Menschen zwischen den Dörfern hin- und hergegangen oder geritten waren. Ayyub Bey drehte sich mit seinem Pferd, das neben Chansis Wagen trabte, zu der Menschenmenge hinter ihm. Er befahl seinem Offizier, er solle die Soldaten am Ende der Karawane auffordern, die Hunde zu erschießen, die den gefesselten, ihrem unbekannten Schicksal ausgelieferten Dorfbewohnern bellend hinterherliefen. Die Soldaten machten Jagd auf sie und erlegten einen nach dem anderen, bis das Bellen verklungen war, auch wenn es in Chansis Ohren noch nachhallte. Der Karren, auf den man sie gebunden hatte, bestand aus einem Holzbrett, an das Metallräder angebracht worden waren und vor das man ein Pferd gespannt hatte, das unter den Peitschenhieben des Wagenlenkers schnaubte. Die Soldaten nannten den Karren „den Wagen“. Ayyub Bey sah zufrieden auf die Hühner, Küken und Eier in den Holzkäfigen, die sie auf ihrem Feldzug erbeutet und auf Wagen geladen hatten. Dahinter liefen die Schafe, Ziegen und Kühe der Jesiden.

Als sie die Berge verlassen hatten und in die Ebene gelangten, traf Ayyub Beys Konvoi auf andere, die ebenso jesidische Gefangene mit sich brachten – Frauen, Männer und Kinder, aber auch Geld, Tiere und Möbel aus den geplünderten Häusern. Konvois, die jene mit sich führten, die sich dem osmanischen Sultan nicht unterworfen hatten. Je näher sie dem Heiligtum in Lalisch kamen, desto größer wurden die Menschenzüge. Wer von den Mühen des Wegs, an den Schlägen und Vergewaltigungen oder vor Kälte und Hunger starb, wurde zurückgelassen. Die überall verstreuten Leichen schienen wie für immer in die Erde eingraviert zu sein. Das alles spielte sich vor Chansis Augen ab, die des Nachts in das Zelt von Ayyub Bey gebracht und am Tag auf einer Decke zum Wagen zurückgetragen wurde, da sie nicht mehr zu laufen vermochte. Doch sie konnte sich umsehen und die gefesselten Menschen ihres Volkes betrachten, unter denen sie nach ihrer Familie suchte. Sie schöpfte Kraft aus den Gesichtern der Gequälten und murmelte vor sich hin:

– Ich bin nicht die Einzige.

Alle nur erdenklichen Fragen des Lebens gingen ihr durch den Kopf, als suche sie nach einer besonders großen, die noch keiner gestellt hatte, einer Frage, die ihren Körper beherrschte, der durch Ayyub Beys Schläge und Bisse bedeckt war von getrocknetem Blut. Alle diese Fragen begleiteten Chansi etwa eine Woche lang. In den Nächten vergnügten sich die osmanischen Soldaten damit, den Jesiden die beiden Glaubensbekenntnisse des Islam vorzutragen. Ein paar Gefangene sprachen sie ihnen aus Angst nach, doch viele zogen es vor, zu sterben und Opfer der grausamen Tötungsmaschinerie der Osmanen zu werden, statt ihren Glauben aufzugeben. Etwa eine Woche lang betrachtete Chansi die ausgedehnten Ebenen und Hügel, auf denen sich erste Frühlingsboten zeigten. Auf der Westseite des Tigris, der das Sindschar-Gebirge vom Gebiet des Heiligtums von Lalisch trennt, zwang man die Frauen, den Soldaten zuzusehen, wie sie sich im Fluss nackt das Blut ihrer Angehörigen abwuschen. Chansi beobachtete, wie sich eine Gruppe aneinandergefesselter Frauen in den Fluss stürzte, als die Soldaten mit ihnen die Holzbrücke überquerten, die von großen, mit eisernen Ketten aneinandergereihten Booten getragen wurde. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Chansi das Geschehen und auf ihr blutverkrustetes Gesicht trat ein Lächeln. Sie murmelte Gebete vor sich hin, um die Frauen zu verabschieden, sie beneidete sie, als sie sah, wie die Strömung des breiten Flusses ihre aneinandergebundenen Körper mit sich riss.

 

Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Roman „Die Tuberkulose-Frauen“, auf Arabisch erschienen im Mamdouh-Adwan-Verlag (2022).

 

– Die Tuberkulose-Frauen (III)Lesen (III) نساءُ السّل
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