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(W)Ortwechseln > Dima Albitar Kalaji & Ramy Al-Asheq > Die Kunst des Tötens - Brief 5

Die Kunst des Tötens – Brief 5

Ramy Al-Asheq an Dima Albitar Kalaji, 19. Oktober 2020

Übersetzung: Günther Orth

 

(W)Ortwechsel, Ramy Al Asheq, Dima AlKalaji, Brief 5
© Ramy Al-Asheq

Liebe Dima,

es ist schon gut, Du musst nicht alles beantworten. Wir hatten ja vereinbart, dass unsere Gespräche nicht perfekt sein müssen und dass sie auch mal in der Luft hängen dürfen wie ein Tattoo, das man sich heimlich wünscht.

In Bezug auf Deine von Dir geschilderten „großartigen Ideen“ fällt mir ein, dass ich vor einigen Tagen einen Traum hatte. Es war ein „normaler“ Traum während eines „normalen“ Schlafs in einer ruhigen Nacht, die durch keine Schlaflosigkeit und keine Panikattacken getrübt war. Einfach schlafen und träumen, das passiert mir selten genug. Es war noch dazu ein sehr interessanter Traum und mir war sogar bewusst, dass ich träume und dass es interessant ist und dass ich jetzt aufwachen möchte, um den Traum aufzuschreiben. Und tatsächlich hörte ich auf zu träumen und erwachte, aber im selben Moment erinnerte ich mich schon nicht mehr an den Inhalt meines Traums.

Ist Schreiben ein Fluch? Entweder lebt man eine Idee oder man schreibt sie auf, und wenn man sie aufschreibt, wird sie nie so sein, wie man sie eigentlich wollte, und wenn man sie lebt, dann eignet sie sich nicht fürs Schreiben.

Es gibt freie Gedanken, die von der Literatur nicht versklavt werden. Sie schweben über unseren Köpfen und beschäftigen uns, aber sie begehen Selbstmord, wenn sie zu Gefangenen von Wörtern und Buchstaben werden.

Ich weiß nicht, ob das Niederschreiben von Ideen einen zu einem großen Schriftsteller macht oder zu einem Mörder.

Ist Schreiben nicht die Kunst des Tötens? Sind wir nicht Mörder? Haben wir nicht unsere Helden und unsere Väter getötet? Haben wir nicht Idole gesteinigt, als wären wir selbst ohne Sünde?

Insbesondere Dichter sind ganz groß im Töten. Sie hacken lebendigen Ideen die Hände ab, stechen ihnen die Augen aus oder schneiden ihnen gleich den Kopf ab. Dichter sind Mörder, während die Ausarbeitung von Ideen, die Arbeit den Mutlosen überlassen bleibt.

Bevor ich aufgehört habe zu schreiben, sagte ich mir:

Wenn du jemanden töten

oder ihm die Hand abhacken

und ihm diese durch ein Glas Wein ersetzen kannst,

dann kann das Glas auch jemandem die Hand geben,

ihn umarmen,

ihn ohrfeigen

oder etwas zu Papier bringen.

Es kann zersplittern,

ohne dass es dir weh tut.

Es kann ein Haus verschlucken,

das Haus einen Wald,

und der Wald kann grün auf den Markt gehen und grau zurückkommen.

Der Markt kann auf der Schulter eines Verkäufers ruhen,

dieser kann wiederum jemanden töten,

ihm die Hand abschlagen

und sie durch ein Glas Wein ersetzen …

Wenn du aus einer Leiche

oder einem verstümmelten Körper

ein Gedicht machen

und du ein Gedicht töten kannst,

dann bist du ein Dichter!

Der Leser ist der Schöpfer, weil er dem Wort seine Stimme und seine Fantasie leiht und ihm ein Stück von seiner Seele gibt.

Der Autor begräbt die Sprache, indem er sie schafft, er trägt ihre lexikalischen Bedeutungen ebenso zu Grabe wie ihre Konnotationen, und er benutzt sie nach Gusto gemäß seiner Sprache und seinem Lexikon. Dann kommt der Leser und erweckt sie zum Leben, er trägt sie seinerseits gemäß seiner Sprache und seinem Lexikon in andere Welten.

Mögest Du allzeit Dinge tun, die Du magst.

Ramy

 

P. S.

Ich bin dankbar, dass es Rechtschreibfehler gibt, denn ohne sie wären wir nicht Freunde geworden.

P. P. S.

In meinem vorigen Brief schrieb ich Dir von Reue und davon, wie diese nie aufhört. Erinnerst Du Dich an die Geschichte mit Ali? Der, den ich so freundlich angesprochen und der so unfreundlich reagiert hatte, dass ich es bereut hatte, ihn angesprochen zu haben? Ich wollte Dir nur sagen, dass ich meine Reue mittlerweile bereue J. Denn heute hat er mich plötzlich angesprochen und sich ganz nett und freundlich nach meinen Pflanzen erkundigt.

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