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(W)Ortwechseln > Dima Albitar Kalaji & Ramy Al-Asheq > Eine schöne, geneigte Schrift - Brief 6

Eine schöne, geneigte Schrift – Brief 6

Dima Albitar Kalaji an Ramy Al-Asheq, 28. Oktober 2020

Übersetzung: Leila Chammaa

© privat

Lieber Ramy,

ich stand gerade vor dem Spiegel, als eine frisch nach Berlin gezogene Freundin anrief und unsere Verabredung absagte. Die lange Wegzeit, die man hier einplanen muss und die den ganzen Tagesablauf beeinflusst, überforderte sie offenbar noch. Ich zog den Kajalstrich zu Ende und machte mich auf den Weg in das Café, in dem das Treffen stattfinden sollte.

„An einem Sonntag im August“ – ich liebe diesen Namen. Er versetzt einen unwillkürlich an den Anfang einer Geschichte. Ich setzte mich auf die Seite links der Tür in einen vermeintlich bequemen Sessel. Kaum aber lehnte ich mich zurück, spürte ich die Sprungfedern im Rücken, so als wollte das Sitzmöbel seine Berliner Identität bekräftigen. Ich beobachtete jede einzelne Geschichte, die eintrat, kurz überlegte, an welchem Tisch sie Platz nehmen sollte, und sich dann mitteilte.

Als ich das erste Mal hier im Café war, recherchierte ich den Hintergrund des Namens. (Googeln ist eine Angewohnheit von mir, die sich hin und wieder als ungut erweist.) Denn Wissen raubt den Geschichten im Kopf den Zauber. Auch wenn am Anfang vielleicht eine Überraschung steht, so ist das Geheimnis unwiderruflich gelüftet, dahin. Genauso ist es mit den Menschen in unserem Leben. Die Geschichten, die wir um sie herum weben, sind uns lieber als die, die wir mit ihnen erleben, ja sogar lieber als die Betreffenden an sich. Dann gibt es noch die Gespinste um die eigene Person. Diese verfolgen wir mit ausgeprägtem Egoismus. Wir lieben die Geschichten über uns, wenn sie der Wunschvorstellung entsprechen, uns vorteilhaft und geheimnisvoll darstellen. Vielleicht ist es gar nicht so, wie Du schreibst: dass bei mir vieles ausgespart und ungesagt geblieben ist, weil ich fürchtete, wenn ich es ausspräche, nicht das gewünschte Echo zu finden. Womöglich ist es eher so, dass ich nicht das geschrieben habe, was Du Dir von mir erhofft hattest. Es kann natürlich sein, dass ich mir das nur einbilde.

Manchmal kommen mir unsere Gespräche wie Reflexionen im Spiegelkabinett vor. Sie spiegeln sich ineinander, brechen sich, fügen sich neu zusammen. Manches davon ist tatsächlich gesagt bzw. geschrieben worden. Manches dagegen steht hinter Stimme und Lettern und beherrscht sie. Indessen weiß ich nicht, was von einer Stimme getragen war und was nicht, was von Dir stammte und was – an Dir reflektiert – zu mir zurückgeworfen wurde.

Eine Zeit lang hatte ich die Vorstellung, ich treffe einen Mann, der anstelle der rechten Hand einen Kelch hat, gefüllt mit Rotwein. Bei jeder hastigen Bewegung schwappt Wein auf den Ärmel seines honigfarbenen Mantels, changiert getrocknet von dunkelrot bis rosa. Ich trage einen blauen Wollpulli, ein roter Rand zeigt sich am linken Ärmel, dann ein großer Fleck an der rechten Schulter, gleichfarbige Linien laufen den Arm hinab. Ich kann nicht erkennen, ob es Wein ist oder Blut.

Wenn Reue der zweite Fehler ist, was ist dann wohl der erste? Die „Kunst des Tötens“?

Schreiben wird gemeinhin als schöpferischer Akt betrachtet und die Autor*innen gelten als Götter, die denen, über die sie schreiben, Leben einhauchen. Aber ist der Schöpfer in seiner Erhabenheit, Herrlichkeit und Vollkommenheit nicht auch ein Diktator und Mörder? Der Gedanke vom schöpferischen Leser (den Du in einem gestrichenen Absatz Deines letzten Briefes anführst) gefällt mir. Allerdings sind meines Erachtens beide Personen – die am einen wie auch die am anderen Ende des Buches – je ein halber Gott. Ihre Existenz ist nur dann von Bedeutung, wenn sie – aus der Geschichte des jeweils anderen – eigene Geschichten kreieren (bzw. töten). Wie talentiert ein Autor im Erschaffen und Beschreiben von Bildern auch sein mag, so hat der Apfel bei jedem Leser eine andere Farbnuance. Besonders glücklich dürfen sich in meinen Augen jene Leser schätzen, die die Entwicklung eines Werkes von der ersten bis zur endgültigen Fassung samt Fußnoten und Anmerkungen mitverfolgen dürfen, die also miterleben, wie der Gedanke im Kopf des Urhebers aufkeimt, sich seine Wege bahnt, einigen Pfaden den Rücken kehrt, Gestalt annimmt (oder auch nicht) und wie nach siebentägigen Versuchen ein halber Satz dasteht. Zu jenen Glücklichen möchte ich mich zählen – nach Deinem letzten Brief.

Mit großer Neugier und Begeisterung las ich die Manuskripte, die mein Großvater lektorierte und redigierte und die zwischen ihm und den Schriftstellern hin und herwanderten, bis schließlich die Druckfahne vorlag, ohne Anmerkungen, Fußnoten, handschriftliche Kommentare. Er hatte eine wunderschöne Schrift (nur ungern schreibe ich „hatte“, denn ich mag ihn nicht der Vergangenheit zuordnen). Sie war nach rechts geneigt und leicht zittrig, weil er Parkinson hatte, auch wenn die Hand etwas ruhiger wurde, sobald sie einen Stift hielt.

Mehr als fünfzehn Jahre nach seinem Tod ist er derjenige, den ich in Damaskus am meisten vermisse. Die schöne Schrift hat er meiner Mutter vererbt. Mit großen, sicheren Zügen zeichnet sie die Buchstaben und zieht den letzten eines jeden Wortes geschwungen in die Länge. Auf jeder Zeile platziert sie nur wenig, dafür aber deutlich Lesbares. Dabei drückt sie die Hand so kräftig auf, dass sich die Spur des Stiftes mehrere Seiten tief eingräbt. Ich erinnere mich noch gut an ihre Briefe. Briefe an meinem Vater. Ich war damals noch klein, wir lebten in Damaskus und er im Norden Saudi-Arabiens. Briefe, die sie an meine Großmutter und meine Tanten in Damaskus schrieb, nachdem wir meinem Vater nach Saudi-Arabien gefolgt waren. Und ihre Briefe an mich, die ich unter dem Kopfkissen, auf meinem Tisch und in dem Buch fand, das ich gerade las. Sie schenkte mir ein schönes kleines Heft, damit ich Tagebuch führte. So ermunterte sie mich zum Schreiben und erfuhr gleichzeitig etliches über ihre scheinbar stille Tochter, die allerlei Blödsinn anstellte. Beiden habe ich meine schöne Schrift zu verdanken. Doch seit ich jene Briefe nicht mehr beantworte und das Tagebuch zerrissen habe, schreibe ich nicht mehr von Hand. Mittlerweile fühlen sich Stifte für mich schwer und fremd an. Ich beneide all diejenigen, die noch auf Papier schreiben und sich aus dem allgemein zugänglichen Sprachpool gekonnt bedienen, die Wörter neuordnen, Schönheit kreieren und Staunen hervorrufen.

Unser Gespräch geht weiter … immerfort

Dima

 

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