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Brief an eine Freundin – Brief 1

Parand (Pseudonym) an Mithu Sanyal, Kabul, 22. Juni 2024

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Persischen

„In diesen Tagen bin ich traurig und teile meine Gefühle mit dir, damit der Kummer, der mein Herz umklammert und auf meinen Schultern lastet, ein wenig leichter wird.“ © Bruno Almeida

Liebe Mithu,

ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, und hoffe, dass wir gute Freundinnen werden und von unserem Erfahrungsaustausch über das Schreiben profitieren können. Du sagtest über dein neues Buch, dass Gott dir helfen möge, es erfolgreich zu Ende zu schreiben und dich vor Erschöpfung zu bewahren. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass das Schreiben eines Buches keine leichte Aufgabe ist, sondern eher so etwas wie das Großziehen eines Baums, das eine Menge Mühe erfordert, bis er endlich Früchte trägt. Mögen deine Anstrengungen also bald Früchte tragen!

Von allen Formen der Kommunikation über große Entfernungen hinweg ist mir das Briefeschreiben die liebste, denn Briefe können die Beziehung vertiefen. Und so möchte ich in diesem Brief gern mit dir über Gefühle sprechen, die ich in letzter Zeit erlebt habe und die für mich ganz neu sind. Vielleicht sind es keine angenehmen Worte, die mit diesen Gefühlen verbunden sind, aber bei uns gibt es ein Sprichwort, das besagt: Wenn man den Kummer mit Freunden teilt, wird er geringer.

In diesen Tagen bin ich traurig und teile meine Gefühle mit dir, damit der Kummer, der mein Herz umklammert und auf meinen Schultern lastet, ein wenig leichter wird. Es tut mir leid, dass ich gleich in meinem ersten Brief von Kummer und Schmerz schreiben muss. Aber ist es denn nicht so, dass die soziale und politische Lage eines Landes mit dem Ausmaß der Freude oder des Leids seiner Bevölkerung in einem unmittelbaren Zusammenhang steht? Ob man es will oder nicht, bahnt sich die herrschende Stimmung in allen Bereichen des Austauschs ihren Weg, sogar in freundschaftlichen Briefen.

Heute hat uns mein Bruder mit seiner Frau und seinen sechs Kindern verlassen, um nach Amerika zu gehen. Meine Familie und die meines Bruders lebten in all den 22 Jahren seit seiner Hochzeit im selben Haus. Viel Freude und Leid haben wir miteinander geteilt: Die Geburt ihrer Kinder, deren erste Schritte, die Geburtstagsfeste und die Schulabschlussfeiern – alles habe ich miterlebt. Wir hatten eine wirklich wunderschöne Zeit zusammen. Bis die afghanische Regierung unter der Führung von Aschraf Ghani in die Hände der Taliban fiel. Meine Brüder, die im Ausland studiert und für amerikanische und kanadische Unternehmen gearbeitet hatten, sahen sich gefährdet und registrierten sich für verschiedene Evakuierungsprogramme. Im Jahr 2021, kurz nach dem Fall Kabuls, wurde mein jüngerer Bruder unvermittelt eines Abends, ohne dass wir uns verabschieden konnten, außer Landes gebracht. Und nun haben mein älterer Bruder und seine Familie Afghanistan verlassen. Der Schmerz, den diese Trennungen über mich und meine Familie gebracht haben, ist unbeschreiblich. Unser Haus ist plötzlich leer. Meinen Eltern hat es das Herz gebrochen. Sie sind jetzt in ihren Siebzigern und Achtzigern und verzweifelt darüber, dass sie ihre Söhne und Enkelkinder wohl nie wiedersehen werden. Auch mir geht es nicht gut. Die jüngsten Kinder meines Bruders, fünf und zwei Jahre alt, stehen mir sehr nahe. Seit dem Tag, als dem Gesuch meines Bruders von der amerikanischen Regierung stattgegeben wurde, habe ich nur noch geweint. Es fiel mir schwer, mir ein Leben ohne den munteren Kinderlärm von Narges und Mohammad vorzustellen. Und jetzt ist es passiert. Sie sind gegangen, und unser Haus ist erfüllt von einer quälenden Stille, vor der ich mich so sehr gefürchtet habe. Keine Kinderstimmen sind zu hören, die mich „Tante“ rufen. Im ganzen Haus werde ich an sie erinnert. Ihre kleinen Stiefel, da stehen sie verwaist, ohne die Füße, die sonst in sie hineinschlüpften. Das Fahrrad, mit dem wir früher im Hof herumgefahren sind und dachten, wir treten die Welt mit unseren Füßen, es wartet in der Ecke. Das Kleingeld, von dem ich ihnen immer Süßigkeiten und Gebäck gekauft habe, ist auf einmal nutzlos …

Mein Schmerz beschränkt sich jedoch nicht auf den Weggang meiner Brüder und ihrer Familien. Ich habe auch Freundinnen verloren. Drei Tage vor der Abreise meines Bruders sah ich Fereshta auf der Straße, die Hände wie immer ganz fiebrig. Ich war schon an die Hitze ihrer Hände gewöhnt. Dieses Fieber hat sie seit dem Tag, an dem ihr Mann sie hinterging, indem er sich als Verlobter einer anderen Frau ausgab, im Rahmen eines Evakuierungsprogramms nach Deutschland ausreiste und sie mit drei kleinen Kindern allein hier zurückließ. Ihr Körper verbrennt im Fieber darüber, dass sie derart hinters Licht geführt worden ist. Sie war untröstlich und wusste nicht, wie sie mit diesem Betrug umgehen sollte. Immer wenn sie ihren Mann aufforderte, einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen, vertröstete er sie, verwies auf die Politik in Deutschland und sagte, dass er zuerst die Sprache lernen und eine Arbeit finden müsse, bevor er den Antrag stellen könne. Fereshta war vollkommen verzweifelt.

Nun aber erzählte sie mir, dass sie am nächsten Tag nach Pakistan reisen werde. Ich war schockiert. Das hatte ich nicht erwartet. Wenn Leute in diesen Zeiten nach Iran oder Pakistan reisen, bedeutet das, dass sie dorthin gehen, um Visa für andere Länder zu beantragen, und dass man keine Chance mehr hat, sie noch einmal wiederzusehen. Egal, ob es sich um Freunde oder Familie handelt, man wird sie nie mehr sehen.

Fereshta wollte also nach Pakistan reisen und von dort weiter nach Amerika. Wir umarmten uns. Beide haben wir geweint. Denn wenn Afghanen ins Ausland gehen, heißt das, dass sie der hier lauernden Gefahr entkommen sind und es keinen Weg zurück gibt. Zugleich können aber diejenigen, die in Afghanistan leben, hier keine Visa für andere Länder bekommen, denn die politische Situation im Land hat unseren Namen mit vielen negativen Attributen versehen.

In Afghanistan sind familiäre Bindungen und das Familienleben von großer Bedeutung. Die Menschen teilen miteinander die Freuden und Leiden ihres Lebens. Familientreffen und -feiern bilden die Hauptgesprächsthemen, denn unsere Gesellschaft hat sich, was die Kommunikation, soziale Aktivitäten oder die gemeinsame Freizeitgestaltung von Gruppen mit ähnlichen Interessen betrifft, nicht gut entwickelt. Der Besuch von Parks und Vergnügungsparks sowie das Feiern von Straßenfesten wurden von der Regierung stark eingeschränkt, vor allem für Frauen. Deshalb verbringen die Menschen ihre Freizeit im Kreise ihrer nahen Angehörigen. Die Evakuierung von Millionen von Menschen, die sich früher in Afghanistan engagiert haben, hat sich in ganz unterschiedlicher Hinsicht auf die sozialen Beziehungen ausgewirkt. Wir wurden nicht nur von engeren Familienangehörigen und Freunden getrennt, sondern auch von entfernteren Verwandten. Früher umfasste die Anzahl unserer nahen Verwandten etwa zwanzig Familien, heute sind es noch ungefähr vier. Viele haben das Land mit speziellen Einwanderungsgenehmigungen aus Amerika und anderen Ländern verlassen, einige auch über Schleuserrouten. Seit Kurzem möchte auch meine Tante zu ihrer Tochter ausreisen. Meine Mutter macht sich große Sorgen und sagt: „Ich fürchte, das Ausland will alle Menschen aus Afghanistan wegbringen, um dann zu beschließen, Atombomben abzuwerfen und dieses Land von der Weltkarte zu löschen.“ Diese seltsam anmutende Äußerung bringt mich jetzt manchmal doch ins Grübeln.

Früher wusste ich nichts von Evakuierungsprogrammen für gefährdete Personen. Erst 2021, als einige junge Männer von Flugzeugen herunterfielen, in denen sich gefährdete Personen befanden, fiel mir auf, dass es solche Fälle schon einmal gegeben hatte – nach dem Ende des Vietnamkriegs zum Beispiel.

Wenn ich dies alles hier zusammenfasse, komme ich zu dem Schluss, dass in der heutigen Zeit die eine Hälfte der afghanischen Bevölkerung weggegangen und die andere Hälfte daheim im Schmerz über die Trennung von ihren Liebsten gefangen ist.

Damit komme ich zum Ende dieses Briefes. Jetzt, da ich meine Sorgen und Nöte mit dir geteilt habe, fühle ich mich besser und unser Sprichwort vom geteilten Leid hat sich wieder einmal als wirksam erwiesen. Nun warte ich auf deinen Brief. Du hast hier einen Winkel meines Lebens kennengelernt, und ich würde mich freuen, etwas über dich und deine Lebensumstände zu erfahren.

 

Voller Vorfreude auf deinen Brief,

Parand

* Dieser Brief erschien am 16. 08. 2024 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung

Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.

 

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