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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Parand (Pseudonym) & Mithu Sanyal > Ach Parand, ich wollte eigentlich über Liebe schreiben – Brief 2

Ach Parand, ich wollte eigentlich über Liebe schreiben – Brief 2

Mithu Sanyal an Parand (Pseudonym), Hay-on-Wye, Wales, 28. Juli 2024

Übersetzung: Ali Abdollahi ins Persisch

“ Trotzdem kann mein Mann im Gegensatz zu deinem Bruder in seine Heimat zurückkehren, wann immer er will. Deshalb schreibe ich dir gerade aus Hay-on-Wye in Wales, wo wir wie jedes Jahr im Sommer sind. „© Matti Rouse

So schnell geht das. Peng! Und plötzlich sind wir Freundinnen. Das bestätigt, was ich schon lange vermute: dass Freundschaft kein Gefühl ist, sondern ein Wunsch, eine Intention und vor allem eine Handlung. In diesem Sinne:

Liebe Freundin,

liebe weit entfernte und durch deinen Brief doch so nahe Parand. Ich wünsche, ich kann dir die Freundin sein, die du brauchst. Aber vor allem wünschte ich, ich könnte die Verhältnisse zerreißen und neu zusammenfügen, so dass du deine Familie und deine Freund*innen um dich herum hättest und mir aus der Fülle des Lebens heraus schreiben könntest.

Dein Brief macht mich wund. Und das ist das genaue Gegenteil von dem, was du damit erreichen wolltest. Du wolltest deinen Kummer teilen, damit er kleiner wird, von mehr Menschen getragen, von mehr Augen gesehen. Ich sehe dich! Ich sehe dich! Und doch gibt es Dinge, die sich mein Herz weigert zu begreifen, ohne zu zerreißen. Ich verspreche, ich werde es trotzdem versuchen. Wahrscheinlich jämmerlich. Aber aufrichtig.

Dein Brief verfolgt mich, seit ich ihn das erste Mal gelesen habe, wie ein Geist. Wie ein Geist, der mir ins Ohr flüstert, dass soziale und familiäre Bindungen wie Sand sind, der zwischen den Fingern zerrinnt, weggeweht von den Winden der politischen Verhältnisse. Dass man lieben, sich an Menschen binden kann, so sehr man auch mag, sie werden weggerissen, nicht vom Tod, sondern von der Unmöglichkeit, in einem Land leben und gedeihen zu können.

Unser Bundeskanzler – der auf dem Cover des einflussreichsten deutschen Nachrichtenmagazins, DER SPIEGEL, forderte: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ – und all die Menschen, die gegen Migration hetzen, sollten deinen Brief lesen, denn … hier standen eine Menge Kraftausdrücke, die ich nach einer Nacht Darüber-Schlafen gelöscht habe.

Mein Vater ist in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen, weil er in Indien keine Perspektive hatte. Die Geschichten, die er mir darüber erzählte, waren fantastisch und kalt, wie das erste Mal, als er Schnee sah und versuchte, die Sterne, die vom Himmel fielen, aufzufangen, bis seine Hände beinahe erfroren, oder dass es keine Hausbesitzer gab, die bereit waren, einem braunen Mann ein Zimmer zu vermieten.

Was er mir nicht mitteilte, was er nicht mit mir teilte, war das Heimweh, das in seinen Eingeweiden brannte wie Feuer, so dass er im ersten Jahr jeden Tag zum Bahnhof gehen und den Zügen hinterherschauen musste, um sich vorzustellen, sie führen zurück nach Kalkutta. Das erzählte er erst meinem Mann, der wegen des Falklandkriegs aus England nach Deutschland gekommen war, nicht, weil der Krieg seine Heimat zerstört hätte, sondern weil er den plötzlichen Jingoismus in den Medien und Mündern seiner Freunde und Bekannten nicht ertragen konnte.

Und damit hatte der Krieg sein Land auf einer spirituellen Ebene doch zerstört, weil er es nicht mehr wiedererkannte. Trotzdem kann mein Mann im Gegensatz zu deinem Bruder in seine Heimat zurückkehren, wann immer er will. Deshalb schreibe ich dir gerade aus Hay-on-Wye in Wales, wo wir wie jedes Jahr im Sommer sind. Wenn ich mir das Paradies vorstelle, stelle ich mir Wales vor, dessen magical mountains sich wie Brüste erheben (und von den Walisern auch als Körper der alten Götter wahrgenommen werden). Wenn mein Mann sich die Hölle vorstellt, stellt er sich Wales vor, okay ganz Großbritannien, und erkennt in jeder Statue und der gesamten Architektur die Geschichte des Empires.

Und gleichzeitig ist er nirgendwo so sehr er wie hier. Nirgendwo kitzeln seine Witze so unmittelbar die Lachmuskeln, nirgendwo werden seine Referenzen – auf Filme, Musik, Bücher – so unmittelbar verstanden wie hier. Der Mensch, den ich am meisten liebe, ist größer und selbstverständlicher, wenn er hier ist.

Wie anders ist das für Menschen, die nie wieder zurückgehen können? Das deutsche Wort „Heimweh“ bedeutet, sich nach seiner Heimat zu sehnen. Der erste Beleg stammt aus dem 17. Jahrhundert und bezieht sich auf die vielen, vielen Schweizer Soldaten, die krank wurden und drohten zu sterben, wenn sie nicht so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückkehrten. Deshalb wurde Heimweh damals als „die Schweizer Krankheit“ bezeichnet. Und dann erzählte mir eine Freundin vor kurzem, dass das arabische Wort für Heimweh die Perspektive umdreht: Die Heimat sehnt sich nach den Menschen.

Natürlich! Heimweh geht nicht nur in eine Richtung. Beides ist wahr. Doch an manchen Orten ist es wahrer als an anderen. Wie bei dir. Wie in all den Ländern, die aus den historischen Erbschaften heraus ihre jungen Menschen verlieren, ihre begabten Menschen, ihre ehrgeizigen Menschen, ihre Menschen, die diese Länder dringend brauchen.

Mein Vater wird in seinem Leben nicht mehr nach Indien zurückgehen, obwohl er immer vorhatte, seinem Enkel, also meinem Sohn, Kalkutta zu zeigen. (Entschuldigung, Kolkata. Ich kann mich noch immer nicht an den neuen Namen gewöhnen. Wie schwer muss es dann erst den Indern gefallen sein, als die Engländer ihre Städte umbenannten?) Doch wird er den Flug nicht mehr schaffen. Er schafft es ja kaum noch, seine Wohnung zu verlassen.

„Wie geht es dir damit?“, fragte ich, als ich ihn das letzte Mal in seinem Rollstuhl durch den chinesischen Supermarkt schob, in dem wir einmal in der Woche Fisch und Pickles und Kichererbsen und Pandanblätter kaufen.

„Das ist egal, es lebt sowieso niemand mehr“, antwortete er wegwerfend und mein Herz zog sich auf die Größe der Sesamkörner zusammen, die er mir gerade reichte.

Natürlich sind nicht alle tot. Aber seine Eltern und sein Bruder und seine Schwester sind tot. Dada und Didi. Lange dachte ich, dass das ihre Namen wären. Doch Dada heißt lediglich älterer Bruder und Didi ältere Schwester auf Bengali – wenn die Bengali-Sprecher*innen Hindus sind. Eine ganze Genealogie in der Sprache, die ich niemals gelernt habe, ebenso wenig wie meine eigene Genealogie.

Danke, dass du mir wünschst, mein nächster Roman würde bald fertig und Früchte tragen. Zumindest der erste Teil ist bereits wahr geworden. Der Roman ist inzwischen im Satz. Es gibt darin eine Stelle, an der meine Protagonist*in (sie ist zu diesem Zeitpunkt ein Mann, denkt aber über die Zeit nach, in der sie eine Frau sein wird, Identitäten sind in der Literatur ebenso schwierig festzunageln wie im Rest des Lebens) bemerkt, dass alle Menschen um sie herum ihre Familie bis ins xte Glied zurückverfolgen können, während sie noch nicht einmal die Namen all ihrer Großeltern kennt. Mein Lektor kommentierte, dass das doch ein wenig überzogen sei. Ich antwortete, dass ich ebenfalls nur die Namen meiner deutschen/polnischen Großeltern kenne, nicht aber die meiner indischen, weil ich sie nur als Baby/Kleinkind getroffen habe, und da waren sie halt Oma und Opa. Erst als Kamala Harris Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten wurde, sagte mein Vater: „Sie hat denselben Namen wie meine Mutter.“

Natürlich könnte ich meinen Vater fragen, wie sein Vater heißt. Ich werde meinen Vater fragen, wie sein Vater heißt. Aber alleine die Tatsache, dass ich über ein halbes Jahrhundert alt werden sollte, bevor mir auffiel, dass ich die Namen meiner Vorfahren nicht kenne, sagt so viel über den postmigrantischen Zustand der Welt. In meiner Erinnerung sind meine indischen Großeltern für immer jung wie auf ihrem Hochzeitsfoto, das in der Teakholzschrankwand meines Vaters steht. Ich habe meine Großeltern, seit ich ein Kleinkind war, nicht mehr gesehen, weil mein Vater nach meiner Einschulung jeden Winter alleine heimgeflogen ist, da nur mad dogs and Englishmen im Sommer nach Indien gehen und die Weihnachtsferien einfach zu kurz für eine Reise um die halbe Welt sind.

Die einzige Erinnerung an meinen Großvater ist der blaue Luftpostbrief, den mein Vater schrieb, als sein Vater gestorben war, und unter den ich in meiner besten Schönschrift malte: „I hope his body will go to heaven.“ Ich hatte gerade erst angefangen Englisch zu lernen. Ich hoffe, dass sein Körper in den Himmel kommt war auf so vielen Ebenen falsch. Und gleichzeitig ist es eine so gute Beschreibung für die kulturelle Amnesie, mit der ich aufwuchs und in der es keinen Platz für Seele und Wiedergeburt gab.

Hay-on-Wye ist die erste Bücherstadt der Welt. Das heißt, dass hier jedes zweite Geschäft eine Buchhandlung ist. Jedes Jahr finde ich hier ein Buch, das in besonderer Weise mit mir spricht. Dieses Jahr ist es Afua Hirschs „Decolonising my Body“. Darin schreibt sie vom „ancestral deficiency syndrome“ und ich verstehe mit jeder Faser meines Körpers, was sie damit meint. Wir leben in einer Welt, die nach wie vor ancestral deficiency syndromes erzeugt.

Ach Parand, ich wollte eigentlich über Liebe schreiben und wie sich die politischen Verhältnisse auf Liebe auswirken und darauf, welche Lieben und welche Beziehungen als schützenswert gelten und welche weniger und welche gar nicht.

Aber vielleicht wird das der Stoff meines nächsten Briefes werden.

Very much yours

Mithu

* Dieser Brief erschien am 16. 08. 2024 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung

Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.

 

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