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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Masoma Kawsary & Heike Geißler > Die Verbindungen, die ich mit der Welt, mit meinen Freundinnen und Freunden habe - Brief 4

Die Verbindungen, die ich mit der Welt, mit meinen Freundinnen und Freunden habe – Brief 4

Heike Geißler an Masoma Kawsary, Leipzig, 21. Oktober 2023

 

Tatsächlich begann ich den Brief an Dich schon vor zehn Tagen in Gedanken; nicht hier in Leipzig, wo ich wohne, sondern in Prag, auf der Moldau.© Heike Geißler

Liebe Masoma,

ich bin so aufgeregt. Ich habe das Gefühl, mich durch Tage, Nachrichten und Aufgaben gegraben zu haben, und nun, endlich, kann ich Deinen Brief lesen. Dein Brief öffnet sich im Pages-Programm, kein Papier hier, nein. Ich bin müde und hellwach zugleich.

Tatsächlich begann ich den Brief an Dich schon vor zehn Tagen in Gedanken; nicht hier in Leipzig, wo ich wohne, sondern in Prag, auf der Moldau. Ich hatte Deinen Brief im Posteingang, wollte ihn aber noch nicht öffnen, noch nicht lesen. Wäre er auf Papier geschrieben gewesen, wäre er als Flaschenpost zu mir gekommen, ich hätte ihn sofort geöffnet. Aber ich war im Urlaub und wollte den Rechner so wenig wie möglich benutzen. Es war spätsommerlich warm. Die Kinder und ich gingen vormittags zu einem öffentlichen Sportplatz, meine Söhne wollten Basketball und Fußball spielen, ich saß auf einer Bank, schaute zu, las, spielte manchmal mit. Hinter mir die Schleuse am Nebenarm der Moldau, an der anderen Seite des Sportplatzes die Moldau. Breit, ruhig, irgendwie souverän und solide. Ich mochte es sehr, hinter mir die Ausflugsschiffe darauf warten zu sehen, dass die Schleuse für sie bereit wäre. Die Menschen auf den Schiffen waren manchmal in Festkleidung, weil sie auf dem Boot etwas feierten. Die Musik von Akkordeons, Menschen, die mitsangen. Ich hätte gern mehr verstanden, aber ich komme in das Tschechische nicht hinein. Tschechien ist ein Land, in dem ich stumm bin, wo die Sprache sich mir verwehrt, wo ich die Sprache höre, ihren Klang beobachte, aber nicht spreche. Obwohl ich einiges sagen könnte, kommt, wenn ich die Sprache benutzen will, kein Tschechisch heraus. Ich rede dann italienisch, russisch, französisch, gebe zuletzt auf und gehe zu Englisch über.

Ich saß also, als ich Dir in Gedanken schrieb, auf meinem Hausboot, das wir für eine Woche gemietet hatten, ein vollkommen fahruntaugliches Ding, aber als Wohnung perfekt: schaukelnd, leicht schwankend. Ich weiß nicht warum, aber ich habe mich noch an wenigen Orten so aufgehoben gefühlt. Wenn ich draußen saß und las (meistens Hélène Cixous‘ Gespräch mit dem Esel. Blind schreiben) kamen die Enten, kamen die Schwäne. Der Jungschwan schwamm oder flog mal vor den Eltern, mal hinter ihnen her.

Meine Ankündigung, auf Post zu warten, wurde auf jeden Fall richtig übersetzt. Ich warte auf Post, ich gehe immer, wirklich immer mit großen Erwartungen zum Briefkasten (und reagiere gleichermaßen auf das Pling des Mailprogramms). Und ja, es ist so, wie Du es sagst, es sind zumeist offizielle Briefe, das Finanzamt, die Vermieter, die Stadtwerke, Werbepost, die Krankenkasse. Die meisten dieser Briefe will ich nicht einmal öffnen, sie sehen langweilig aus und verwenden eine Sprache, die mich nicht interessiert. Eine Sprache, die mich überfordert, weil sie zumeist nur Anweisungen übermittelt, weil sie nur informiert, befiehlt, sich um Rechtskonformität kümmert, aber nicht um die Empfänger*innen.
Ich gehe trotzdem jeden Tag so neugierig zum Briefkasten, als wartete ich jeden Tag auf den Brief, auf die Nachricht. Ich warte auf gute Nachrichten, und es ist die Gier, vernetzt zu sein, auf diese schöne Art, die keine digitale Struktur ist, sondern ein tiefes Gefühl der Verbundenheit.

Kürzlich schickte mir meine Freundin Silke, die ich viel zu selten sehe, mit der ich so gern zusammen bin – und keine spricht schneller als sie – zwei Bücher, die sie aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt hat. Das eine sind Gedichte einer mexikanischen Autorin, Tania Favela: Streifen fernen Lichts, und ich fand darin Gedichte, die etwas konnten, das ich nicht sonderlich gut kann. Die Gedichte machen die Gegenwart weit. Sie spannen jeden Augenblick auf, machen ihn zu einem Gefäß, das viel mehr aufnehmen kann, als ursprünglich gedacht, das schließlich so viel enthält, dass jedes Gedicht ein unglaubliches Glück ist, ein Wunder. Die Schätze der Welt, die Möglichkeiten, die gleichzeitige Anwesenheit von widersprüchlichen Gefühlen und Angelegenheiten, die aber nicht im Widerspruch zueinander auftreten, die einfach da sind – und darin zudem Bäume ohne Zwischenraum ein ganzer laufender Wald.[1]

Ich bewundere diese Gedichte, und ein Teil von mir steht noch immer am Briefkasten und es verstärkt sich wieder der Faden von mir in Leipzig zu Silke in München.

Meine Mutter war übrigens Zustellerin, eine Postbotin, in ihren jungen Jahren. Sie begann schon sehr früh zu arbeiten, weil sie endlich ihr eigenes Geld verdienen wollte. Sie kam aus einer eher armen Familie, wenngleich man das damals nicht so gesagt hätte. Meine Mutter ist, wie auch ich, in der DDR geboren, und es fällt mir jetzt erst oder aber seit langer Zeit mal wieder auf, dass wir in der Schule und zu Hause das Wort arm nie für Menschen in unserer Umgebung benutzten. Armut war ein Wort für Westdeutschland, für die BRD. Wir lernten in der Schule: In der BRD gibt es Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit. Das waren zum einen Schauergeschichten aus der Propagandaabteilung meines sozialistischen Heimatlandes, die mich stark prägten, aber das waren zudem – ganz wie die Märchen, mit denen ich aufwuchs, wie die meisten Märchen, die ich kenne – Erzählungen, die ihren Ursprung ganz klar in der Wirklichkeit hatten.

Meine Mutter kommt also aus einer Familie, die wenig Geld hatte. Ihre Familie war aber, wie man sagte, kinderreich. In der DDR galt das klar als Makel. Meine Mutter hat sieben Geschwister. Meine Familie ist groß, manchmal verwechsele ich die Namen. Ich bin auf eine solche Art anwesend, dass ich immer ein bisschen abwesend bin.

Einmal jedenfalls ist meiner Mutter der Ehering beim Briefezustellen in einen Briefkasten gefallen, weil sie damit am Einwurfschlitz hängen geblieben war. Sie schrieb einen Zettel und bekam den Ring am nächsten Tag wieder.

Ich mag die Geschichten, die sie von ihrer Arbeit erzählt, ich mag die Geschichten lieber, die vor 1990 spielen. Mit dem Ende der DDR veränderten sich die Geschichten. Ab 1990 ging es um Effizienz, Stellenkürzungen, Filialschließungen, Marketing. Davor ging es in den Erzählungen meiner Mutter eher um die Kollegen, darum, was den Kolleginnen und Kollegen wieder zugemutet wurde, wer wen leiden konnte, wer zu faul war, wer zu fleißig, wer Unterstützung brauchte. Und auch darum, die marxistisch-leninistischen Schulungen gut zu überstehen und achtzugeben darauf, was man wem erzählte, weil nicht klar war, wer vielleicht doch für die Staatssicherheit arbeitete.

Ich wusste immer, dass es in der DDR kein respektiertes Briefgeheimnis gab, dass Briefe geöffnet und manchmal wenig sorgsam wieder verschlossen wurden. Pakete wurden durchsucht, Geschenke darin wurden gestohlen.

Ich warte auf Post, ja, immer.

Und ich komme nicht umhin, noch einmal die Stelle in Deinem Brief zu lesen, an der Du von diesem Brief erzählst, dem Brief vom Verehrer, wie Du schreibst. Es tut mir leid, dass Du ihn nicht lesen konntest. Und ich ahne, welches Gewicht ein solcher ungelesener Brief bekommen kann, wie er für immer im Gedächtnis bleibt, für immer ungelesen, für immer ein Nicht. Wie muss man sein (ich weiß es, ich frage nur rhetorisch, aber dennoch empört), um dergleichen zu verursachen. Warum Menschen solche Interessen hegen (auch die Antwort darauf kenne ich) und das Leben der Bevölkerung, der Frauen und Mädchen speziell, einengen, gefährden, mit Angst durchwirken, bis ins letzte, eigentlich harmlose, eigentlich ausschließlich schöne und private Detail hinein.

Ich hasse die Unterdrückung, hasse die Unterdrückenden, so simpel und pathetisch das auch klingen mag, ich hasse alle ihre Methoden, ihre ausführenden Organe, ihre Schriftwerke, ihre Reden. Ich hasse es, dass Unterdrückung einlädt zum Mitmachen, weil es beruhigend wirken kann, sich auf die Seite der Unterdrücker*innen zu schlagen, um den Eindruck zu haben, selbst nicht mehr unterdrückt zu sein. Weil es manchmal gar nicht anders möglich ist, als sich – wenigstens scheinbar – auf die Seite der unterdrückenden Struktur oder der ihnen zugehörigen Menschen zu schlagen.

Es ist psychologisch interessant, aber in der und für die Wirklichkeit ist das katastrophal, grausam, tödlich.

Ich habe früher nie die Unterdrückungsstrukturen erkannt, aber je älter ich werde, desto deutlicher sehe und verachte ich sie. Alle, die degradieren, einschüchtern und ungleich machen wollen, sind für mich automatisch delegitimiert.

Meine Kinder sagen mahnend zu mir: Hass ist ein großes Wort. Und sie haben recht, aber ich weiß, was ich hasse. Ich hasse gezielt und so selten wie möglich. Und ich weiß, was ich liebe, was ich brauche, was gelingen muss.

Ich glaube übrigens doch, dass unsere Gefühle Materie sind, wenn auch nicht im direkten Sinn, aber in mehr oder weniger direkter Übertragung. Unsere Gefühle werden zu Objekten, wir machen Objekte aus Gefühlen. Wir machen aus Gefühlen Texte, aus Texten Lehrwerke, aus Lehrwerken Handlungsanweisungen, aus Handlungsanweisungen Mittel und Gegenstände. Ich denke zum Beispiel an Stadtarchitektur, die sich in vielen Ländern Mühe gibt, obdachlose und andere sozial schwache oder in ihrer Beweglichkeit eingeschränkte Menschen auszugrenzen. In Fensterbänken, die mit Stahlspitzen versehen werden, sehe ich nichts als den Abscheu vor dem Anblick von Schwäche, vor dem Anblick von Scheitern. Auf dieser stahlverstärkten Fensterbank wird keine Obdachlose schlafen, kein geschwächter Mensch ausruhen können. Ich denke an Waffen, Fahrzeuge, mir fallen viele Gegenstände ein, die auch als Gefühle lesbar sind. Und manchmal auch als die Abwesenheit von Gefühlen; Gegenstände, die Empathielosigkeit belegen.

Natürlich ist Dein Einwand für mich dennoch vollkommen verständlich. Unsere Gefühle sind keine Materie. Mein manchmal sehr schweres Herz bricht nicht zu den Nachbarn unter mir durch.

Mein schweres Herz liest Nachrichten, chattet mit Freundinnen, schreibt Dir und überlegt, wie es damit umgehen wird, dass dies schon unser offiziell letzter Brief ist – und auch real, da wir ja der guten Übersetzung bedürfen. Was tun mit dem Umstand, dass wir hier eine Tür geöffnet haben und sie nicht schließen müssen. Was füge ich an (Fäden), was lasse ich offen (ungefähr alles).

Unser kleiner Briefwechsel ist ein Anfang, ich mag Anfänge sehr. Unser Briefwechsel ist also ganz nach meinem Geschmack, denn mir fällt das Anfangen leichter als die Fortsetzung, das Anknüpfen, das Dranbleiben. Ich bleibe dennoch dran. Ich fühle mich lose verbunden. Ich habe Fragen, Bilder, ich habe viele Deiner Worte. Ich habe Deine Stimme im Ohr. Ich habe eine kleine Ahnung davon, wie Du die Welt betrachtest und warum Du es auf diese Weise tust.

Kürzlich stand ich im Kostümfundus des hiesigen Theaters und suchte nach Kostümen für mein Stück, das im Dezember aufgeführt werden wird. Ich fand eine Jacke, sehr groß, sehr weit geschnitten, silbern und neonorange. An der Unterseite der Ärmel sind rote Bänder angenäht, sie wedeln bei jeder Bewegung, sie bezeugen Leben und Wind. Ich mag diese Bänder, weil sie für mich wirken, als könnte ich sie verlängern, als wären sie jene sichtbaren Endpunkte einiger der Verbindungen, die ich mit der Welt, mit meinen Freundinnen und Freunden habe, mit den Texten, die ich brauche, mit den Landschaften, mit den guten Momenten, die zählen.

Ich sammle Anfänge und entscheide mich jeden Tag für Zuversicht und die Arbeit an deren Materialisierung.

Ich winke Dir von Herzen.

Alles Liebe aus Leipzig!

Heike

 

[1]     Tania Favela: Streifen fernen Lichts. Aus dem mexikanischen Spanisch von Silke Kleemann. hochroth Heidelberg 2023, S. 17

* Dieser Brief erschien vorab am 11.11.2023 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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