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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Marie Bamyani & Tanasgol Sabbagh > Von der Schönheit und den Schrecken der Nacht – Brief 1

Von der Schönheit und den Schrecken der Nacht – Brief 1

Marie Bamyani (Pseudonym) an Tanasgol Sabbagh, Bad Berleburg, 08. Juni 2024

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Persischen

 

© Marie Bamyani

Liebe Tanasgol,

ich hoffe, dass die Musik deines Lebens beim Lesen dieses Briefes einer wohlklingenden Melodie folgt und dass du dich so frei und unbeschwert fühlst wie der kleine Vogel, der jeden Tag auf dem gefällten Baum vor meinem Fenster vor sich hin trällert und tanzt.

Ich bin ein wenig neugierig auf dich geworden und habe mich im Internet nach dir umgeschaut. Wie schön, dass du Gedichte schreibst! Was gibt es Schöneres als Poesie? Ich finde, dass wir in der heutigen Welt mehr denn je Gedichte und Geschichten brauchen und dass die Verbindung des Lebens und der Seelen der Menschen untereinander viel wichtiger ist als ihre Verbindung zum Weltall: Poesie und Geschichten verbinden die Menschen und machen die Leere dieses Jahrhunderts erträglicher. Ich glaube, dass hinter jedem Krieg verbitterte und zornige Männer stehen, die keine Poesie kennen, die keine Geschichten lesen und denen Literatur überhaupt fremd ist – das in ihren Seelen angestaute Gift entladen sie in Gestalt von Gewehrkugeln. Liebe Tanasgol, hast du nicht auch das Gefühl, dass es den Menschen in der heutigen Welt an Mitgefühl mangelt und sie voreinander davonlaufen?

Ich habe mir einige Videoclips angesehen, in denen du Gedichte rezitierst. Obwohl ich aufgrund meines begrenzten deutschen Wortschatzes viele Worte nicht verstanden habe, fand ich deine Lesungen ganz wunderbar. Ich wüsste zu gern, welche Art von Poesie du magst und wer deine Lieblingsdichter sind. Und wieso überhaupt Gedichte?!

Ich liebe Poesie. In der Schule war die erste Dichterin, deren Biografie ich gelesen habe, Forugh Farrochzad. In jenen Jahren, in denen überall – in der Schule, zu Hause, in der Stadt – ein gutes Mädchen vor allem ein braves und folgsames Mädchen war, lehrte mich Forugh Neugier, Freiheit und Mut. Ich habe mich länger mit ihrer Persönlichkeit und dem Grund für ihr Aufbegehren beschäftigt. Zumindest habe ich von ihr gelernt, für meine Wünsche zu kämpfen – und auch, dass die Welt nicht untergeht, wenn das Essen anbrennt oder der Strom ausfällt. Schon, dass ich ein Buch in der Hand halten und darin lesen kann, genügt mir, es macht das Leben aus.

Ich schreibe diesen Brief aus einer kleinen, aber schönen und grünen Ortschaft. Bad Berleburg war einst wohl wegen seiner Bäder und heißen Quellen berühmt, heutzutage erinnern sich jedoch nur noch wenige daran. Natürlich ist der Ort wegen seiner guten Luft, seiner Hügel und üppigen grünen Wälder ein gutes Ziel für einen Ausflug oder für verschiedene Freizeitaktivitäten. Einmal sah ich eine Schar Rehe zwischen den Bäumen umherstreifen. Ich war so begeistert, dass ich unwillkürlich „Salâm gavaznhâ! Hâle-tân chetour ast?“(1) ausrief. Hinterher habe ich den ganzen Tag über mich selbst gelacht und mir gesagt, dass sie ja kein Persisch verstehen, ich sollte besser Deutsch lernen!

Jetzt, da ich dir diesen Brief schreibe, ist es elf Uhr abends. In der Dunkelheit kann ich außer dem Bildschirm des Laptops und dem Licht, das von den Straßenlaternen in mein Zimmer fällt, nichts erkennen. Uneindeutigkeit, Dunkelheit und Stille kennzeichnen die Nacht, so wie das Licht den Tag. Ich liebe die Stille der Nacht mehr als alles andere. Wirklich, liebe Tanasgol! Hast du schon einmal dem Klang der Nacht gelauscht? Oder nachts unter freiem Himmel geschlafen und die Sterne betrachtet?

Mein letztes eindrucksvolles Bild einer Nacht liegt vier Jahre zurück. Ich lag mit meinem Bruder unter dem freien Himmel von Bamiyan und wir beobachteten die Sterne der Milchstraße. Nachdem wir über Buddha gesprochen hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass die Nacht noch weitaus schöner und wunderbarer ist als der Tag, so wie der Klang der Nacht für mich der beruhigendste Klang ist. Seitdem sind einige Jahre vergangen und ich habe danach nie wieder eine so schöne und friedvolle Nacht erlebt.

Jetzt, während ich diesen Brief schreibe, ist Frühling. Es regnet und ich lausche dem Klang der Nacht durch die Regentropfen hindurch, die an mein Fenster prasseln. Ein langes, andauerndes Pfeifen, gepaart mit Schwärze. Die Grillen zirpen und die hohen, stolzen Bäume tanzen im Herzen der Dunkelheit ganz langsam im Rhythmus des Windes. Ich denke an den abgeschnittenen Stamm des gefällten Baums vor meinem Fenster: Für ihn gibt es weder den kleinen Vogel, der singt und auf und ab hüpft, noch irgendein Blattwerk, das für ihn tanzt. Da ist nichts als Dunkel, das ausreicht, diesen seelenlosen Stamm zu verschlucken.

Vielleicht liegt es ja an genau dieser Schwärze, dass so wenige Menschen von der Nacht fasziniert sind, und je kleiner die Städte, desto schwärzer und stiller sind sie.

Die Stadt, in der ich lebe, ist zum Beispiel tagsüber grün, freundlich und voller Menschen, aber nachts verwandelt sie sich in eine Geisterstadt. Es ist, als lägen die Menschen hier mit der Nacht im Krieg: Noch vor 20 Uhr schließen sie alle Türen und Fenster wie Gefängnistore vor der Nacht, die elektrischen Laternen stehen da wie seelenlose Soldaten, die für die Patrouille leuchten, und niemand wagt es, die Absperrung zu übertreten. Arme Nacht, die so ein trauriges Schicksal hat in dieser Stadt!

Aber, liebe Tanasgol, so sehr ich die Nacht auch liebe, so sehr laufe ich auch vor ihr davon – so wie der Baumstamm im Garten in der Nacht verschwindet. Seltsam, nicht? Wie ist es möglich, etwas gleichzeitig zu lieben und zu verabscheuen?! Wie paradox ist das! Wenn ich die Erinnerungen meines Lebens zusammenfüge, werde ich selbst wie dieser Baum. Oder vielleicht ist das Leben aller Menschen, die ihre Erinnerungen, ihr Leben, ihre Träume in einen Rucksack packen und gehen, dem Stamm dieses Baums ähnlich. Sie fliehen vor der Nacht, um den Morgen zu erreichen, aber das Ankommen scheint unmöglich. Und selbst wenn sie es schaffen, sind sie im Dunkel der Nacht verschwunden und zerbrochen, so dass sie keine Kraft mehr haben, ihren Morgen zu erblicken, ihre Träume sind fort.

Obwohl seit dem Fall Kabuls mehr als zwei Jahre vergangen sind und ich am fernsten und sichersten Ort der Welt atme, obwohl meine Tage grün sind und meine Zukunft möglicherweise rosig, sind meine Nächte doch noch immer mit Kabul verbunden. Nachts in meinen Träumen wandere ich immer noch durch Kabuls Gassen, ausgelassen tanze und lache ich in meinem blauen Kleid auf den Hügeln unter dem blauen Himmel. Doch plötzlich bricht die Nacht herein und ein Mann mit einer Peitsche in der Hand läuft hinter mir her. Ich renne und renne und renne, doch ich komme nicht an. Da öffnet sich plötzlich eine Tür. Dort steht meine Mutter, die mich zu sich ruft. Ich lache und laufe zu ihr, aber dann scheint es, als wären plötzlich die Türen verschwunden und meine Mutter unerreichbar. Ein Talib tritt wie ein Dorn aus einer Zimmerecke hervor und lacht mich aus mit seinen gelben Zähnen und seinem struppigen Haar. Ich schreie nach meiner Mutter. Dann wache ich auf.

Schau her, liebe Tanasgol! Die Geografie kann die Schwarzweißträume einer Migrantin genauso wenig bunt einfärben wie der Stamm des gefällten Baums im Garten eines Tages wieder zu einem lebendigen Baum werden kann.

Ich bin mit meinen Gedanken bei den Frauen und Mädchen in Kabul, deren Tage während dieser zweieinhalb Jahre immer wie die Nacht sind, ihre Nächte schwärzer als alle Nächte dieser Welt. Die Nacht, in der Kabul fiel, verfolgt mich im Schlaf, und während ich dies schreibe, habe ich manchmal das Gefühl, meine Nachbarin weinen und klagen zu hören, die flehte: „Verschont uns, um Gottes willen! Wohin bringt ihr uns? Wir sind doch für niemanden von Nutzen.“ Dann das Geräusch einer Kugel im Herzen der Dunkelheit, anschließend eine lange Stille und ein Atem, der die letzte Luft aushaucht.

Es tut mir leid, liebe Tanasgol, dass ich über solch scheußliche Dinge schreibe und deine Stimmung trübe. Manchmal komme ich einfach nicht von diesen Albträumen los, oder besser gesagt: Ich kann nicht vor mir selbst fliehen. Die ganze Zeit habe ich mir vorgenommen, meine Worte in die Farbe und den Glanz der Hoffnung und der Freude zu hüllen, damit der bittere Geschmack von Krieg, Migration und Trauma, vom Zurücklassen und Weggehen darin keinen Platz findet, aber das scheint nicht möglich.

Mir fiel ein Gedicht von Qanbar Ali Tabesh ein, in dem es heißt:

„Der Mensch ist kein Vogel,

der, welche Grenze er auch überquert, eine Heimat findet.“

Als ich in Kabul lebte und dieses Gedicht las, sagte ich mir:

Heimat ist nicht mehr als eine Illusion.

Der Mensch besteht aus Staub und Wind.

Wo der Wind weht und die Erde tanzt,

genau dort befindet sich die Heimat.

Man sagt, dass der Mensch das, was er hat, erst dann zu schätzen weiß, wenn er es verliert. Das kommt meiner heutigen Lebenserfahrung recht nahe.

Aber ich habe immer noch Hoffnung und denke an morgen. Jeden Tag, nachdem ich die Nachrichten gehört habe, gehe ich in die Küche, koche und bereite Tee zu. Nachmittags trinke ich gern Tee am Fenster und schaue auf den kleinen Vogel und jenen Baumstamm. Ich zähle die Sekunden bis zu dem Tag, an dem der Baumstamm wieder zum Leben erwacht und seiner Seele Grün verleiht und seine Blätter im Wind tanzen. Meine Mutter sagt immer: Die Welt ist auf Hoffnung gegründet. Also versuche ich, im Herzen der Nacht Hoffnung zu finden und voller Zuversicht zu sein für all diejenigen, die ihre hoffnungsvollen Augen auf mich richten.

Ich hoffe, dass du beim Lesen dieses Briefes in deinen Worten und in deinen zukünftigen Gedichten an all die Frauen und Mädchen in Kabul denkst, denen seit zweieinhalb Jahren das Recht, die Schule und die Universität zu besuchen, genommen ist, denen das Leben, die Freude, das Licht und die Freiheit vorenthalten werden. Ihre Stimmen sollen Gehör finden, damit ihre toten und verlorenen Seelen im Trubel des Alltags in diesem Jahrhundert erwachen können. Ich hoffe, dass wir Frauen bei den uns folgenden Generationen eine Welle des Erwachens auslösen können.

Liebe Grüße

Marie

(1) „Hallo, Ihr Rehe! Wie geht es Euch?“ (A.d.Ü.)
* Dieser Brief erschien am 09. 08. 2024 in der Berliner Zeitung

Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.
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Von der Schönheit und den Schrecken der Nacht – Brief 1

Marie Bamyani an Tanasgol Sabbagh: ich hoffe, dass die Musik deines Lebens beim Lesen dieses Briefes einer wohlklingenden Melodie folgt und dass du dich so frei und unbeschwert fühlst wie der kleine Vogel, der jeden Tag auf dem gefällten Baum vor meinem Fenster vor sich hin trällert und tanzt. LesenText im Original

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