Ich schreibe Gedichte, weil ich etwas durch die Wand höre – Brief 2
Tanasgol Sabbagh an Marie Bamyani (Pseudonym), Berlin, 17. Juli 2024
Übersetzung: Ali Abdollahi ins Persisch
Liebe Marie, Marie-jaan,
ich danke dir für deinen schönen Brief. Ich lese ihn immer wieder, um Mut zu bekommen, um eine Antwort zu formulieren. Ich habe den ganzen Tag nichts geschrieben, habe gewartet, bis es dunkel wird, bis die umliegenden Straßen sich etwas beruhigt haben, auch ich möchte eine Nacht in meinem Brief, möchte deine besser sehen können.
Ich habe gewartet, auch als dein Brief schon da war, habe die Übersetzung abgewartet, habe mich erst nicht getraut zu lesen. Jetzt habe ich ihn doch auch auf Farsi gelesen. Mit dem Finger über die Buchstaben, mit dem Mund, die Wörter langsam und laut, wie wenn ein Kind das Lesen übt, so habe ich deinen Brief ein letztes Mal gelesen, so hat er mich noch mehr getroffen, wie Beil und Baumstamm: Dieses Bild begleitet mich. Ich stelle mir dein Fenster vor.
Bei mir in der Wohnung hat sich viel verändert in den vergangenen Monaten. Es gibt mehr Möbel, es gibt mehr Schuhe, es gibt mehr Pflanzen, alles hat sich verdoppelt jetzt, wo ich mein Leben teile: Es gibt ein großes Regal und viele Bücher, die ich noch nicht kenne, eine ganze Wand voller Wörter und Ideen, ein sortiertes Chaos.
Deshalb musste ich, nachdem ich deinen Brief zum ersten Mal gelesen hatte, eine Weile suchen, bis ich den Gedichtband mit der englischen Übersetzung fand: Forugh Farrochzad, Let Us Believe in the Beginning of the Cold Season. Immer wieder habe ich in den vergangenen Tagen darin gelesen. Auch hier zuerst die Übersetzung, erst später das Original. Du siehst, mich begleitet eine Unsicherheit mit der Sprache meiner Geburt. Mit Sprache im Allgemeinen. Wieso überhaupt Gedichte, fragst du in deinem Brief, ich musste lachen.
Gestern bin ich den ganzen Tag durch die Stadt geradelt. Ich habe jetzt ein kleines rotes Fahrrad, es ist ganz schnell, ein bisschen gefährlich und ich liebe es sehr. Ich bin seit Jahren nicht mehr Fahrrad gefahren, ich muss an meine Schulzeit denken, ein Gefühl von Unabhängigkeit und Wahnsinn, kennst du das?
Ich saß mit einer Freundin in einem Café in Kreuzberg, am Tisch neben uns ein Musiker, zu dem sie sich manchmal umdrehte, mit dem sie dann auf Kurdisch sprach. Ich mochte es, ihnen zuzuhören, schnappte immer wieder ein Wort auf, dessen Klang mir bekannt vorkam, es roch nach gegrilltem Fisch und frischem Brot, es war heiß, let us believe in the beginning, es ist Sommer in Berlin. Er muss gefragt haben, was ich mache, und sie hat ihm wohl gesagt, dass ich Gedichte schreibe, auf Deutsch zwar, aber er hat gemerkt, dass ich Farsi spreche, und tippte etwas in sein Handy, um es mir zu zeigen, eine Googlesuche auf Türkisch: Füruğ Ferruhzad. Ich holte den Gedichtband aus meinem Rucksack, um ihm zu zeigen, was ich gerade lese, wir lachten beide. Ein kleiner Moment, den ich dir zu verdanken habe, ein bisschen Licht an diesen kalten Tagen in der Sonne. Wie wohl das Wetter war, als du Forugh das erste Mal gelesen hast, roch es nach Staub und Wind?
Hier vielleicht eine mögliche Antwort: Ich schreibe Gedichte, weil ich nicht musizieren kann. Wegen des Klangs. Eine Komposition mit Wörtern, ein gesprochenes Lied.
Ich habe mich über den singenden Vogel gefreut. Die Rehe während deiner Spaziergänge, deine Gespräche mit ihnen, das Grün, die Hügel, die vergessenen Quellen der kleinen Stadt, es ist so schön, was du über Bad Berleburg schreibst. Die Fülle und Freundlichkeit der Tage und das Gespenstische in der Nacht.
Ich bin in einer Stadt aufgewachsen, die etwas mehr Einwohner hat, aber an vielen Orten ähnlich ausgestorben ist bei Nacht. Meine Eltern haben sich lange Zeit große Sorgen gemacht, als ich nach Berlin gezogen bin, doch ich habe hier weitaus weniger Angst im Dunkeln, es ist immer etwas los, es ist immer jemand wach. Wie auch jetzt nebenan, meine Nachbarn und ihr Fernseher.
Hier vielleicht eine mögliche Antwort: Ich schreibe Gedichte, weil ich etwas durch die Wand höre, das ich nicht ganz verstehen kann, dem ich erst eigene Wörter geben muss.
Ich habe mich gefragt, ob du schon vorher jemanden kanntest da, wo du jetzt bist, ob du ganz alleine dort angekommen bist. In einer deiner Kurzgeschichten habe ich von einer Freundin gelesen. Eine Freundin, der Schreckliches widerfahren ist vor ihrer Flucht. Die auch in Deutschland keine Ruhe findet, auch hier nicht sicher ist als Frau.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte autobiografisch ist, ob es diese Freundin gibt, ob ihr euch aus Afghanistan kennt, ob du die Narben kennst, die sie mit sich trägt. Ich dachte aber, ich wünsche dir eine solche Freundin. Ich wünschte mir sehr, ihr würdet diesen Schmerz nicht kennen, den du beschreibst.
Ich erinnere mich noch an den Sommer vor drei Jahren, an mein Handy und die Bilder, die sich eingebrannt haben in mein Gedächtnis: Der Flugplatz in Kabul, die Schreie in der Luft.
Ich erinnere mich, ich war noch ein Kind, an einen Herbst vor 23 Jahren, zumindest erinnere ich mich an die Sorgen der Eltern, an die Familienangehörigen unserer afghanischen Freunde, an den Beginn einer kalten Zeit. An diese anhaltende Gewalt.
Hier vielleicht eine mögliche Antwort: Ich schreibe Gedichte, weil ich glaube, dass in dem Bruch zwischen den Versen etwas Wahres liegt. Ich schreibe Gedichte, weil manche Wörter zueinander gehören und trotzdem auseinandergerissen sind.
Es ist spürbar, findest du nicht? Als ich das erste Mal den Namen deiner Stadt gelesen habe, war ich besorgt, wie deine Ankunft dort wohl sein musste. Wie dich die Menschen behandeln, ob du gute Leute um dich hast. Nicht weil ich den Namen dieser Stadt kenne und damit etwas verbinde, sondern weil mich diese Sorge immer begleitet, dieses Misstrauen. Diese Angst.
Dieses Land, in dem wir leben, behauptet seit so vielen Jahren einen Frieden und ist mit seinen Waffen überall im Krieg. Seine Städtenamen prägen sich uns durch rassistische Attentate ein, ein Riss zwischen den Menschen, eine konstante Spannung, eine sich anbahnende Nacht.
Ich möchte nochmal von der Nacht in Bamiyan lesen, von deinem Bruder und ob ihr immer so miteinander sprechen könnt, wie ihr es dort getan habt. Wie schön du noch immer von der Nacht schreibst, obwohl sie dich heimsucht und die Grenze zum Alptraum verwischt. Wie finster es um den Baumstamm vor deinem Fenster steht, jede Nacht aufs Neue.
Jetzt wo wir seit Monaten wieder an unseren Handys kleben, auf die Straßen gehen, darüber entsetzt sind, wie rar Empathie zu sein scheint, kursieren in meinem Instagramfeed immer wieder diese Worte von Bert Brecht
In den finsteren Zeiten,
Wird da auch gesungen werden?
Da wird auch gesungen werden.
Von den finsteren Zeiten.
Der Tag und der Vogel vor deinem Fenster, eine Tasse Tee.
Du schreibst, dass es wichtig ist gerade jetzt zu schreiben, Gedichte und Geschichten. Um Verbindungen herzustellen.
Ich erinnere mich an die Schulmädchen auf den Straßen im vorletzten Winter, an die Videos von ihren Protesten, an ihre Parolen, Brot, Arbeit und Freiheit, in Kabul, in Masar-e Scharif, in Herat.
Hier vielleicht eine mögliche Antwort: Ich schreibe Gedichte, um noch genauer hören zu können. Jedes Wort.
Beim Durchblättern durch den Band von Farrochzad ist mir ein Gedicht aufgefallen, das ich früher nicht beachtet hatte, هدیه, Geschenk, vielleicht kennst du es:
I speak from the limit of night
I speak from the limit of darkness
and of the limit of night
If you come to my house, O kind one, bring me a lamp
and a tiny opening through which
I might look at the crowd in the happy street[1]
Vielleicht eine mögliche Antwort: Ich schreibe Gedichte, um die Grenzen meiner Worte zu erspüren. Um sie auszuweiten. Um die Gewalt, die uns umgibt, einzugrenzen. Um mir selbst und vielleicht einer anderen ein Licht, eine Öffnung zu sein.
Let us believe.
Ich schicke dir eine Umarmung, Marie, einen bunten Traum. Ich freue mich sehr auf deinen nächsten Brief!
Ganz liebe Grüße aus einer anderen Nacht
Tanasgol
[1] Übersetzung von Elizabeth T. Gray.
* Dieser Brief erschien am 09. 08. 2024 in der Berliner Zeitung
Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.