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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Maliha Naji & Dilek Güngör > Die Furcht, etwas Handschriftliches zu hinterlassen – Brief 2

Die Furcht, etwas Handschriftliches zu hinterlassen – Brief 2

Maliha Naji (Pseudonym) an Dilek Güngör, Kabul, 13. Juli 2022

Übersetzung: Dr. Lutz Rzehak aus dem Paschtu

© Maliha Naji

Liebe Dilek!

Ich hoffe, dass Du gesund und glücklich bist, wenn Du meinen Brief liest. Über Deinen ersten Brief habe ich mich sehr gefreut.

Mir geht es wie Dir. Früher habe ich oft Briefe von Hand geschrieben, aber heute schreibe ich nicht mehr so viel. Meine Briefbögen habe ich damals mit Buntstift und Aufklebern verziert, damit die Briefe schöner aussähen. Sogar die Seitenränder meiner Bücher habe ich in den Farben der afghanischen Flagge angemalt, also schwarz, rot und grün. Das sah sehr schön aus. Von diesen drei Farben habe ich mir später Grün ausgesucht. Wenn ich in Grün schrieb, war es, als ob ich Grashalme von der Wiese geholt und auf dem Papier verstreut hätte.

Liebe Dilek, jetzt bekomme ich keine Briefe mehr. Meinen letzten Brief habe ich vor anderthalb Jahren bekommen. Eine Schülerin hatte ihn mir in ein Päckchen mit Linsen gelegt. Ich saß gerade mit anderen Lehrerinnen zusammen in der Schule, als sie direkt auf mich zukam. Ich wunderte mich, worum es ging, aber sie gab mir nur einen weißen Beutel. Schon von außen war zu erkennen, dass sich viele verschiedene Sachen darin befanden. Als ich ihn dann zu Hause auspackte, entdeckte ich ein Paar Ohrringe, ein Kopftuch und Knuspernudeln zum Naschen für meine Kinder. Woher kannte sie die kulinarischen Vorlieben meiner Kinder und ihre besondere Leidenschaft für Knuspernudeln? Als ich das Kopftuch auswickelte, duftete es nach Parfum, ein Brief fiel heraus und mit ihm kam es mir so vor, als kehrte ich in meine Kindheit zurück. Ich war sehr glücklich.

Dein Brief ist der erste, den ich seitdem erhalten habe.

Wie Du haben auch wir keine innigen Beziehungen mehr zu unseren Verwandten. Das heißt, unsere Beziehungen sind nicht so herzlich, dass wir uns gegenseitig Briefe schicken würden. Wir sehen uns an Feiertagen und manchmal auf Familienfesten. Dann und wann sehe ich sie gerne.

Meinen ersten Brief habe ich bekommen, als ich in der achten Klasse war, also mit vierzehn oder fünfzehn Jahren. Damals wusste ich noch gar nicht genau, was ein Brief eigentlich ist und was einen Brief ausmacht. Alles, was ich wusste, war: Briefwechsel sind etwas Schlechtes, denn in der Kultur unserer damaligen Gesellschaft war das Schreiben von Briefen unanständig. In den Augen der Leute bedeutete Briefwechsel, dass ein Junge einem Mädchen oder ein Mädchen einem Jungen schrieb, und eine solche Beziehung ist in unserer Religion und Gesellschaft nicht erlaubt.

Ich war also in der achten Klasse, als es wegen irgendeiner Sache Streit mit meinen Mitschülerinnen gab und alle gekränkt waren. Ich war nach draußen gegangen und als ich zurückkam, sah ich einen schönen Briefumschlag, den jemand in das äußere Fach meiner Tasche gesteckt hatte. Da ich auf eine Mädchenschule ging, fragte ich mich, wie und warum ein Junge einen Brief hierherbringen sollte. Als ich den Brief öffnete, standen die Mädchen aus meiner Klasse um mich herum. Es war ein Versöhnungsschreiben. Ganz unten standen die Namen meiner Mitschülerinnen – und ich war erleichtert, dass der Brief nicht von einem Jungen war.

So wurde der Austausch von Briefen auch unter uns Mädchen allmählich zu einer gewöhnlichen Sache. Wir überreichten uns gegenseitig Briefe, wenn eine von uns Geburtstag hatte, wenn eine gekränkt war oder einfach nur, um einem anderen Mädchen zu zeigen, dass man sie mag. Am schönsten waren Briefe mit Cinderella-Aufklebern oder welche, die auf erlesenem Papier aus einem Tagebuch geschrieben waren. Der süßeste Brief kam von einer engen Freundin, die parfümierte Stifte benutzte und diesen Brief mit einem goldfarbenen Stift geschrieben hatte.

Nach meiner Schulzeit, als sich unsere Gesellschaft etwas öffnete, wurden Briefe über alles Mögliche ausgetauscht, nicht nur Liebesbriefe, auch politische und alltägliche Briefe. Heute schreibt kaum noch jemand Briefe. Zu groß ist die Furcht, irgend etwas Handschriftliches zu hinterlassen.

Ich aber schreibe weiter gern Briefe. Ja, sogar sehr gern.

Wir sind uns noch nie begegnet und ich habe Dich noch nie gesehen. Ich weiß nicht, warum ich mir trotzdem ein Bild von Dir machen kann. Du erscheinst mir mittelgroß mit kurzen braunen Haaren, einem lachenden Mund und weißer Haut. Ist das richtig oder nicht?

Als Antwort auf Deine Fragen möchte ich Dir schreiben:

  1. Ich mag alles Süße, aber vor allem mag ich ein herzhaftes Reisgericht namens Biryani, außerdem Schawarma und Pommes frites.
  2. Ich lebe in Kabul zusammen mit Mutter und Vater, Schwestern, Brüdern, Schwägerinnen und meinen Neffen.
  3. Wenn ich an der Schule unterrichte, gefallen mir die Fächer Literatur und Psychologie am meisten.
  4. Wenn ich nach Hause komme, bin ich in der Regel sehr erschöpft. Deshalb kann ich es kaum erwarten, etwas zu essen und dann zu schlafen.
  5. Meine Briefe haben meist keine besonderen Adressaten. Ich schreibe auch an mich selbst. Manchmal inspiriert mich etwas Positives oder ich möchte mir den Kummer von der Seele schreiben.
  6. Ich bin gerade dabei, ein Buch zu übersetzen. Es heißt „Botschaften an mich selbst“. Ja, auch ich schicke Botschaften an mich selbst.

Ich speichere alle meine Notizen in meinem Handy und ich habe zwei dicke Hefte, in denen ich immer etwas aufschreibe. Du hast also Recht gehabt.

Mein Kindheitstraum war, Ärztin zu werden. In meiner Fantasie habe ich mich immer in einem weißen Kittel gesehen. Doch jetzt bin ich Schriftstellerin. Das Schreiben ist mein Beruf und meine liebste Beschäftigung, weil man ständig etwas Neues anfangen kann. Ich liebe das Schreiben, das Übersetzen und das Dichten.

Zum Schluss habe ich einige Fragen an Dich:

  • Aus welchem Land kommst Du ursprünglich und welche Sprache sprichst Du zu Hause?
  • Kennst Du Afghanistan nur aus den Medien oder warst Du schon einmal hier?
  • Welche Farben trägst Du und welche magst Du?
  • Was ist Dein Beruf?

Dies ist mein erster Brief an Dich. Du bist vielleicht die dritte oder vierte Person überhaupt, der ich einen Brief schreibe und ihn auch abschicke. Ich habe bisher nur sehr wenige Menschen gefunden, für die mein Herz schlägt, und hoffe, dass wir uns oft Briefe schicken und uns austauschen.

 

Hochachtungsvoll

Maliha

 

Untold – Weiter Schreiben Afghanistan, ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“ und Weiter Schreiben.

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