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Untold Narratives – Weiter Schreiben > Fatema Key & Svenja Leiber > Laborratten für die Umsetzung einer wertlosen Ideologie - Brief 4

Laborratten für die Umsetzung einer wertlosen Ideologie – Brief 4

Fatema Key (Pseudonym) an Svenja Leiber, Balch, 25. September 2022

Übersetzung: Sarah Rauchfuß aus dem afghanischen Persisch

© U.S.-National-Archives;  Zweitklässlerinnen an der Namaz Jay Primary Girls School im Dorf Golbahar, Afghanistan 2004.

Liebe Svenja,

Du hast mir von einem Film erzählt, den Du gesehen hast; während sich die Menschen auf der Welt Kinofilme ansehen, sind wir hier ein lebendiger Dokumentarfilm. Wir bekommen jeden einzelnen Vorfall am eigenen Leib zu spüren.

Heute, da ich diesen Brief schreibe, sind die Taliban in unseren Kurs gekommen und haben alle Mädchen aus den Seminarräumen geholt, wo sie mit den Jungen zusammen gesessen hatten. Sie haben uns gewarnt und gesagt, für die Mädchen müsse es einen gesonderten Kurs geben und dass es verboten sei, junge Frauen und Männer in einem Klassenraum unterzubringen. Weil ich erkrankt bin, war ich heute nicht beim Unterricht und habe diesen Zwischenfall also glücklicherweise nicht hautnah miterlebt, sonst hätte er mich wahrscheinlich retraumatisiert. Für meine Mitstudentinnen war das heute ein traumatisches Ereignis, eine von ihnen spricht davon, nie wieder einen Fuß in diesen Kurs zu setzen. Natürlich hat dieser Zwischenfall auch die Familien in Panik versetzt und vielleicht lassen sie ihre Töchter den Kurs jetzt nicht mehr besuchen.

Ich habe ungefähr eine Stunde lang mit einer Mitstudentin über WhatsApp gesprochen und sie davon überzeugt, dass wir in einer solchen Situation noch entschlossener sein müssen als vorher. Dass wir uns wissenschaftliche Kenntnisse aneignen müssen, um andere Mädchen unterrichten zu können und das Studium auf keinen Fall abbrechen dürfen. Jetzt, da wir weder die Unterstützung der Regierung noch die der Männer haben, sind wir Frauen und Mädchen ganz auf uns gestellt. Nur wir können einander unterstützen, Trost spenden und uns motivieren. Wir dürfen diese Niederlage nicht hinnehmen und müssen mit allen Waffen kämpfen, die uns zur Verfügung stehen. Selbst, wenn die einzige Waffe der Stift sein sollte.

Es ist doch interessant, dass diese Taliban ihren eigenen Töchtern in Pakistan und anderswo im Ausland ganz selbstverständlich gewähren, die Schule, die Universität und andere Orte zu besuchen, während sie uns als Laborratten für die Umsetzung ihrer dämlichen und wertlosen Ideologien benutzen. Sie lügen, wenn sie behaupten, sie seien Muslime, schließlich ist die Wissenschaft im Islam sowohl für Männer als auch für Frauen religiöse Pflicht. Trotzdem geben sie vor, im Namen des Islam zu handeln.

Aufgrund der Drohungen der Taliban sind die Frauen und Mädchen gezwungen, in den Schulen und an den Universitäten ihre Gesichter mit schwarzen Niqabs zu verhüllen. Ganz so, als würden sie in einem Käfig leben. Ich glaube, es gibt keine Frau in diesem Land, die sich nicht wünscht, dass die Taliban verschwinden. Die Frauen flehen diesen Tag herbei. Und ich bin überzeugt, dass an dem Tag, an dem die Taliban verschwinden, alle Frauen ihre Köpfe entblößen werden, ganz so wie in diesen Tagen die Frauen im Iran, als Zeichen des Protests. Vielleicht werden die Frauen sogar in den Straßen tanzen, vielleicht werde sogar ich in den Straßen tanzen, den Tanz der Freiheit!

Zurzeit unterrichte ich Kinder. Ich habe das Gefühl, dass unter diesen Umständen mehr Verantwortung auf mir lastet als zu Zeiten der Republik Afghanistan. Ich muss mich noch mehr anstrengen als in der Vergangenheit, um aus diesen Kindern bessere Zukunftsbürger zu machen. Zukunftsbürger, die an die Freiheit glauben und die Rechte des jeweils anderen respektieren. Zukunftsbauer, die in der Lage sind, eine Zukunft zu errichten.

Auf dem Weg zur Arbeit müssen wir schwarze Kleidung und eine schwarze Maske tragen. Im Gegensatz zu meinen Kolleginnen halte ich mich nur selten daran. Ich hasse es, wenn mich jemand dazu zwingt. Alle meine Kolleginnen bedecken ihr Gesicht. Sie fürchten, die Taliban könnten aufgrund ihrer Kleidung ihre Männer verhaften. Sie haben gehört, dass die Taliban die Insassen der Gefängnisse zuweilen totprügeln, und daher sind sie um ihre Männer (den Ehemann, Bruder, Vater) besorgt.

Wir unterrichten jetzt mittellose Kinder und es freut mich, dass darauf bestanden wurde, dass die Hälfte von ihnen Mädchen sind. Unter diesen Umständen brauchen die Mädchen besondere Fürsorge und ich bin sogar der Meinung, dass wir nur Mädchen unterrichten sollten. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Ländern und allen Organisationen bedanken, die sich für die Unterstützung der Menschen in Afghanistan einsetzen. Bei allen, die uns nicht allein gelassen haben. Und insbesondere jenen Organisationen, die die gegenwärtige Lage gut erfasst haben und sich für die Bildung der Mädchen einsetzen und Arbeitsmöglichkeiten für die Frauen schaffen. Unsere heutige Gesellschaft hat auch einen Bedarf an Psychologinnen und Psychologen. Ich hoffe deshalb, dass die Organisationen sich auch für psychologische Beratungsangebote einsetzen werden. Solche Angebote könnten eine entscheidende Wirkung für die psychische Stabilität der Mädchen haben.

Vergangene Nacht hat es wieder eine Explosion in der Stadt gegeben, gestern eine in Kabul. Eine Zeit hat man nichts von Selbstmordattentaten gehört und wir fühlten uns sicher, aber jetzt ist das Gefühl der Unsicherheit wieder da. Diebstähle, Überfälle und jetzt die Explosionen. Dem Gerede derjenigen, die geglaubt haben, die Sicherheitslage würde sich mit den Taliban bessern, weil es jetzt keine Diebstähle, Überfälle und Anschläge mehr geben würde, muss ich entgegnen, dass die Sicherheitslage keinen Deut besser geworden ist, sie ist haargenau die gleiche. Wir müssen jetzt genauso darauf achtgeben, dass man uns auf der Straße nicht unsere Handtasche oder unser Handy stiehlt. Ich hoffe, dass die Taliban einsehen, dass Regierungsgeschäfte eine komplizierte Angelegenheit sind und dass eine Handvoll ungebildeter Leute, die ihr Leben damit zugebracht haben, zu töten und Krieg zu führen, dazu nicht fähig ist.

Die Anschläge bleiben das größte Sicherheitsrisiko in meinem Land und sie bringen die Menschen dazu, das Land zu verlassen, wie wir es in diesen Tagen ja auch überall beobachten können.

Ich glaube an die Zukunft und ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem ich die Erinnerungen aus diesen Tagen bei einem Tee Revue passieren lasse. Und während diese Tage noch einmal an mir vorüberziehen, werde ich hoffentlich sagen können: „Es waren ihrer nicht viele und sie gingen schnell vorüber.“ Die Taliban werden schnell verschwinden, darin sind sich hier alle einig. Alle glauben hundertprozentig daran. In der Hoffnung auf diesen Tag

Fatema

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