Über das Anfangen – Brief 4
Paula Fürstenberg an Fatema Haidari, Brelin, 12. Oktober 2024
Übersetzung: Ali Abdollahi ins Persisch
Liebe Fatema,
hab vielen Dank für deinen schönen Brief, den zu beantworten mir nicht ganz leicht fällt. Denn jetzt kommt mir die schwierige Aufgabe zu, einen Schlusspunkt für unseren Wortwechsel zu finden, obwohl er doch gerade erst begonnen hat. Und deshalb möchte ich dir, in freundlicher Verweigerung des Schlusspunkts, vom Anfangen schreiben. Und weil ich Listen liebe, kommt hier eine …
… kleine Liste über das Anfangen:
- Bevor ich etwas Neues anfange, räume ich auf: den Desktop, den Schreibtisch, die Wohnung. Bevor ich diesen Brief angefangen habe, habe ich alle zuvor auf später verschobenen Mails beantwortet. Ein wundersames Phänomen: Nichts erledigt unliebsame Aufgaben so zuverlässig wie eine anstehende liebsame Aufgabe. Jedem Anfang wohnt ein Staubsauger inne.
- Ich liebe es, endlose Gespräche anzufangen, in denen man miteinander mehr Klammern öffnet, als man je schließen kann. Es ist das Gefühl beginnender Freundschaft, es sieht etwa so aus: (((((( )((((((((( )(((
- Du schreibst, dass du nach deiner Flucht von vorne angefangen hast, von einem Punkt unter null. Ich habe mir diese Null als Temperaturangabe vorgestellt, als einen Zustand unterhalb des Gefrierpunkts. „Einfrieren“ ist im Deutschen ein Synonym für eine Erstarrung oder Verhärtung, aber auch für beharrliches Bleiben.
- Man möchte meinen, wir seien als Schriftstellerinnen Expertinnen darin, von vorne anzufangen. Immer wieder sitzen wir vor der leeren Seite und müssen einen Anfang finden. Ich finde es schwer herauszufinden, wo vorne ist.
- Mein zweiter Roman beginnt mit einer „Liste möglicher Anfänge dieser Geschichte“, in der meine Erzählerin darüber nachdenkt, wann die Krise angefangen hat, in der sie sich befindet, sie verzeichnet zwölf mögliche Ausgangspunkte in 75 Jahren. Neulich fragte mich jemand, welcher davon denn der wahre Anfang sei. Wenn ich das wüsste, hätte ich es hingeschrieben. Es fasziniert mich immer wieder: wie die Geschichten – jene, die das Leben schreibt, und jene, die wir schreiben – im Nachhinein so tun, als hätten sie genau dort ihren Anfang genommen und als wäre der folgende Verlauf ganz zwingend. Dabei enthält jede Gegenwart abertausende mögliche Zukünfte.
- Es ist seltsam, dass das Wort Ausgang im Deutschen einen Anfang oder ein Ende markieren kann: Ein Ausgangspunkt meint einen Start, von dem aus man losgeht; eigentlich müsste er Eingangspunkt heißen. Der Ausgang der Geschichte meint hingegen ihr Ende.
- „Ein neues Kapitel aufschlagen“ ist eine deutsche Redewendung für einen Neubeginn. Ich mag sie gerne, denn auch wenn ich einen ganz neuen Text anfange, fühlt es sich eher wie ein neues Kapitel an. Wir tragen die vorangegangenen Kapitel ja in uns, die geschriebenen und die gelebten.
- „Wehret den Anfängen“, ursprünglich warnte der römische Dichter Ovid mit diesen Worten vor den Folgen des Sich-Verliebens. Nach dem Nationalsozialismus in Deutschland wurde es zu einer Losung, um vor der Gefahr erstarkender rechtsradikaler Kräfte zu warnen. Seit unserem letzten Briefwechsel ist in Deutschland erstmals eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft in einem Landtag geworden. Hier ist Zeit einzusehen, dass wir den Anfängen nicht genug gewehrt haben.
- Kürzlich habe ich angefangen, meine politischen Gefühle ernst zu nehmen. Das gehört zu den Dingen, die ich alle paar Jahre wieder von vorne anfangen muss – so sehr habe ich verinnerlicht, Politik sei keine Sache der Gefühle und Gefühle seien keine Sache der Politik. Als würden Politik und Gefühle in zwei verschiedenen Universen stattfinden.
- Mein Leben fing zu einem Zeitpunkt an, als die Mauer und mit ihr der eiserne Vorhang fiel. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama rief das Ende der Geschichte aus und sagte, dass sich Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endgültig und überall durchsetzen würden. Ich glaube, dass das, was wir gerade erleben, das Ende vom Ende der Geschichte ist. Erst jetzt, wo ich aufhöre, daran zu glauben, merke ich, dass etwas in mir tatsächlich daran geglaubt hat. Ich schaue es mir an, dieses Ende vom Ende, das ja ein Anfang von etwas sein muss, und frage mich, von was.
- Hab Dank für das schöne Zitat von Sa’di, das sehr in mir resoniert, besonders die letzten zwei Zeilen: „Wenn andrer Schmerz dich nicht im Herzen brennet, verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennet.“ Wie oft ich schon gesagt bekam, ich müsse mich von anderen besser abgrenzen, das sei ihr Schmerz, nicht meiner. Wann hat das angefangen, dass unser Mitgefühl als mangelnde Distanz gewertet wird? Wer hat wann und warum entschieden, dass uns die Krisen der anderen nicht traurig machen dürfen? Dass Mitgefühl nicht mehr als eine Verwechslung ist, ein Fehler, eine Unfähigkeit? Alle sollen nur noch für sich selbst zuständig sein. Unter dem Deckmantel der Self-Care üben sich manche in Empathielosigkeit. Die Schriftstellerin Dana Vowinckel schrieb kürzlich: „Ich finde den Ratschlag, dicht zu machen, gefährlich. Ich finde, ich könnte mal wieder mehr zu anderen schauen. Und andere mehr zu anderen. Vielleicht könnte man sagen: Other-Care statt Self-Care.“ Ich habe das Wort Other-Care sofort in meinen Wortschatz aufgenommen und angefangen, es bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu benutzen.
Liebe Fatema, ich wünsche dir das beruhigende Geräusch von Regen und Gewitter und hoffe darauf, dass das Leben eine seiner seltsamen Schleifen drehen wird, auf der wir uns einmal wieder begegnen.
Alles Liebe
Paula
*Das Zitat von Dana Vowinckel findet sich in ihrem Essay „Seit einem Jahr diese Angst vor Stille“, in: Die Zeit vom 6.10.2024
https://www.zeit.de/kultur/2024-10/7-oktober-nahostkonflikt-israel-gaza-krieg
Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.