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Die Flucht vor dem Monatslohn

Stella Gaitano
Foto:  Muhammad Salah, Khartoum 41 St. Street (2018)

Vom Regen frisch gewaschen, boten sich die Plätze der Stadt im schönsten Grün dar und dufteten nach Fruchtbarkeit und feuchter Erde. Schwer hingen Mangos, Papayas, glitschige gelbe Niemfrüchte, Guaven und Zimtäpfel von den Bäumen. Der Himmel zügelte seine Tränen, nur vereinzelt tropften sie noch lautlos auf Zinkdächer, Baumkronen und die Zöpfe junger Frauen. Besäße nur auch ich die Fähigkeit, aus dem Tropenhimmel zu fallen, diese Erde zu berühren und in sie einzudringen! Dachte ich, als ich darauf und daran war, alles hinter mir zu lassen. Ich trug den Pass einer zweiten Heimat in meiner Hemdtasche und einen schwarzen Rucksack auf meinen Schultern. Der Rucksack war mit Schlössern und Gurten gesichert, in ihm steckten meine akademischen Zeugnisse, Fotos von Orten und Freunden und ein paar eilig und wahllos hineingestopfte Kleidungsstücke. Mein Gepäck war so leicht, als wäre ich nur zu einem Verwandtenbesuch im nächsten Dorf unterwegs. Mein Kopf aber war so schwer von Sorgen und Zorn, dass ich ihn kaum tragen konnte.

Als jugendlicher Schwärmer war ich einst losgezogen und hatte es als illegaler Migrant in die Erste Welt geschafft. Ich war hartnäckig und fleißig und hielt irgendwann meinen neuen Pass in Händen. Endlich war ich, zumindest offiziell, ein Bürger jenes Landes geworden. Ich erwarb Qualifikationen, erlernte Handwerke und mehrere Sprachen. Ich wappnete mich mit Träumen und befolgte Regeln, die ganz anders waren als die in meiner Heimat, die mir jetzt jedoch, nach meiner Rückreise über Ozeane und Meere, wiederum seltsam vorkommt.

Mein Land war vor wenigen Jahren unabhängig geworden. Ich hatte nur eine unklare Vorstellung von ihm und kannte nur ein paar lückenhafte, hier und da zusammengeklaubte Geschichten. Dennoch war ich fröhlich, stolz und selbstbewusst, bald wieder in meiner Heimat zu sein, die angeblich heldenhaft Geschichte geschrieben hatte. Ich war nicht dabei gewesen, doch ich hatte gehört, dass meine Landsleute einen Preis für ihre Freiheit hatten zahlen müssen, dass sie Angehörige und Behausungen verloren hatten.

 

Ich zählte die Stunden und Minuten, während derer ich zwischen Himmel und Erde hing, und sehnte mich nach meinem Vater, den ich zuletzt als Kind gesehen hatte. Auch er soll Teil der Revolution gewesen sein. Sein Bild verschwamm mit den Gesichtern von Vätern in Filmen, die ich gesehen und in Romanen, die ich gelesen hatte. Ich freute mich auch auf meine Mutter, der ich, ihr jüngstes Kind, das Herz gebrochen hatte, als ich als junger Mann fortgegangen war. Seither jagte sie Neuigkeiten über mich hinterher. Es war das Einzige, was ihr von mir geblieben war. Ich verzehrte mich auch nach meinen Brüdern und Schwestern, die mittlerweile Väter und Mütter waren und deren zahlreiche Kinder meiner Mutter zur Last fielen.

Als die Stewardess klangvoll unsere baldige Landung ankündigte, neigte ich meinen Kopf zum Fenster und ließ meine Stirn das Glas berühren. Meine Augen waren lange vor den drei Doppelreifen des Flugzeugs am Boden. Ich sah Bäume, soweit mein Blick reichte, ein grünes Meer, durch das sich der Nil wie eine Wüstenschlange wand, wie eine Ader, die sich auf der Haut der Erde abzeichnete. Allmählich wurden die Häuser sichtbar. Ihre Zinkdächer reflektierten die Sonne wie die verstreuten Scherben eines Spiegels, mit denen Kinder spielen. Ihr Blinken zog die Blicke an, lächelte dem Himmel zu und schien mich zu begrüßen.

 

Ich landete in einem expandierenden Dorf, das seine Straßenfinger in Richtung Stadt ausstreckte. Gleich hinter dem Eingang zum Flughafengebäude schlug mir aus der einzigen Toilette des ganzen Airports ein so starker Uringeruch ins Gesicht, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. An der Gepäckausgabe fehlten die an Flughäfen üblichen Durchleuchtungsgeräte, Polizisten zerwühlten unsere Koffer und Taschen mit ihren Händen. Ihre Gesichtszüge waren hart, ihre Stimmen laut, ihre Worte schneidend und ihre Gesten abweisend. Nach der Kontrolle malten sie auf das jeweilige Gepäckstück mit weißer Kreide ein Symbol, das wie ein Dollarzeichen oder ein schiefer Violinschlüssel aussah. Mein Rucksack stand offen und sah entwürdigt aus, als sie ihn mir hinwarfen und ich ihn mit unsicheren Händen wieder verschloss. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass all diese Grobheit Ergebnis eines Krieges war, der viel zu lange gedauert, der die Menschen verhärtet und ihnen die Gemüter verdorben hatte. Vielleicht klangen ihre Stimmen deswegen wie Gewehrschüsse.

 

Die Stadt verschluckte mich, und meine Verwandten erdrückten mich. Frauen tanzten und stießen Freudentriller aus, Männer schlugen auf schwere Trommeln und Dutzende Füße ließen die Erde erbeben. Ich fühlte mich stolz wie ein König, besonders wenn junge Frauen mir schöne Worte zuriefen, als hätten sie soeben ihren Traummann gefunden. Ich umarmte meine Mutter, bis uns die Tränen kamen. Ich begrüßte meine Geschwister und ihre zahlreichen Kinder. Schon bald konnte ich mir ihre Namen und Gesichter nicht mehr merken und wusste nicht, wer zu wem gehörte.

Die nächsten Tage vergingen mit Tanz und Übermut, es gab Schlachtfeste und Gebete und Riten, die mir fremd geworden waren, doch sie versöhnten mich mit meiner Heimat, die mir so lange so fern gewesen war. Nun würden mir Krankheiten nichts mehr anhaben können, böse Geister und der Fluch meiner Vorfahren würden mir fernbleiben!

Mein Vater schenkte mir ein schickes Auto und sein Bruder kam mit einer ganzen Entourage von Wächtern, um mir feierlich eine Anstellung zu verleihen. Ich dankte ihm und wollte ihm meine Zeugnisse zeigen, aber er hielt mich fest und sagte: „Was für Zeugnisse? Wir sollten dir Zeugnis genug sein. Der Name deines Vaters gilt mehr als die Namen aller Akademien, an denen du studiert hast!“ Dabei lächelte er spöttisch und gequält und ergänzte dann, wobei er sich mit gestreckten Fingern voll goldglitzernder Ringe an die Brust schlug: „Weißt du denn nicht, dass wir Kämpfer sind? Komm morgen vorbei und beginne deine Arbeit!“ Ich war so überrascht und erfreut wie eine Braut, die sich nicht traut zu fragen, woher ihre Gäste nur all das Geld für die teuren Geschenke hatten. Ich hatte ein Auto und einen Job, was wollte ich mehr!

 

In der ersten Zeit lief ich immer wieder durch die Stadt und ließ mich verzaubern. Sie war seltsam, aber auf unkomplizierte Weise schön. Aus der Luft hatte sie so friedlich ausgesehen, wie sie dalag in einem grünen Schoß, umgeben von Bergen. Aber wenn man sich in sie hineinbegab, lärmte sie vor knatternden Motorrädern und Generatoren. Unzählige Ethnien, verschiedenste Gesichtszüge und Sprachen sammelten sich in ihr, es gab die unterschiedlichsten Speisen und Arten von Musik. Selbst unter den Zeitungen gab es eine große Auswahl, und überall standen Kirchen. Die Menschen waren alle beschäftigt und rannten durcheinander, auf den Märkten wurde gekauft und verkauft. Es war einfach alles zu haben: Altkleider, Immobilien, ausländische Flaggen, gebrauchte Schuhe, rechtsgelenkte Automatikautos, Führungszeugnisse und Träume für Zukurzgekommene. Und die, die sich wirklich alles leisten konnten, kauften sich sogar Posten und Ämter.

Ich trank einen dicken Avocadosaft, aß eine Ananas und verschlang eine Papaya. Ich hatte immer gedacht, Papayabäume hätten Blätter wie Palmwedel. Als ich zum ersten Mal eine Frucht öffnete, hielt ich sie für ungenießbar mit all den käfergleichen schwarzen Kernen darin! Und da ich jahrelang nur Dosenfrüchte gegessen hatte, war ich der Überzeugung, dass eine Ananas innen hohl und mit Flüssigkeit gefüllt sein müsse.

 

Schon bald lief ich stolz und glücklich los, um meine Stelle anzutreten. Kaum hatte ich einen Fuß ins Gebäude gesetzt, umarmte mich der Mann am Empfang und stellte sich mir als „mein Bruder“ vor. Er war ein Cousin väterlicherseits. Er brachte mich ins Büro der Sekretärin und stellte sie mir als „meine Schwester“ vor, auch sie eine Cousine, ein weiterer Mitarbeiter war mein Onkel mütterlicherseits, und eine Tante von mir arbeitete hier ebenfalls. Überhaupt hatte ich alle meine Kolleginnen und Kollegen bereits bei meiner Willkommensfeier gesehen. Schließlich betrat ich das Büro meines Onkels. Ich versuchte ihm noch einmal darzulegen, was ich studiert hatte und was ich alles konnte, außerdem versuchte ich in Erfahrung zu bringen, was denn meine Arbeit im Betrieb sei. Doch er unterbrach mich.

„Das ist doch alles unwichtig“, meinte er. „Du bist hier angestellt, und damit ist es gut.“

Mir blieb die Luft weg, sank das Herz. Ich bedankte mich verlegen und fragte: „Dürfte ich zumindest wissen, wie hoch mein Gehalt ist?“

Wieder konnte ich kaum zu Ende sprechen. „Du bekommst tausend plus was du möchtest“, erklärte mein Onkel. „Du bekommst dein Gehalt übrigens schon, seit du im Land der Weißen warst, monatlich auf dein Konto gezahlt!“

Ich hatte also die ganze Zeit, in der ich weg war, Gehalt für eine Stelle bekommen, von der ich nichts wusste.

Meine Arbeit bestand darin, an Sitzungen teilzunehmen, bei denen kalte und heiße Getränke gereicht wurden, in denen der ortsübliche Dialekt gesprochen wurde und die von Familienversammlungen kaum zu unterscheiden waren. All das wurde mir schon bald unerträglich, und jeder Arbeitstag wurde mir widerwärtiger als der vorige. Wenn ich am Monatsende den Umschlag mit meinem Gehalt bekam, fühlte ich Brechreiz, und das Lächeln meines Onkels mit seinen vergoldeten Fingern wurde mir ein böses Omen. Ich wurde schwer depressiv und blieb der Arbeit fern, aber mein Gehalt traf nach wie vor in aller Regelmäßigkeit ein, immer verpackt in ein falsches, spöttisches Grinsen.

 

So konnte es nicht weitergehen. Ich kündigte die Stelle und baute mir mit Freunden ein eigenes Geschäft auf. Ich war mit Eifer bei der Sache und steckte all meine geistige und körperliche Energie in das Projekt, nur eine Sache verdarb mir nach wie vor die Laune: mein Gehaltsumschlag! Mal lag er auf meinem Arbeitstisch, mal im Auto, zuweilen sogar unter meinem Kopfkissen. Ich warf ihnen das Geld vor die Füße, dann wieder verteilte ich es an Arme, einmal spülte ich es sogar die Toilette hinunter. Aber es half nichts. Wenn meine Freunde über die Korruption im Land klagten, welkte ich dahin wie eine Blume ohne Wasser. Irgendwann nahm ich meinen schwarzen Rucksack, meinen ausländischen Pass und beschloss, meinem Land und meiner Familie, vor allem aber: meinem Monatslohn zu entfliehen!

 

Ich streifte durch die Straßen, um Abschied von der Stadt zu nehmen. Als ich auf einer Anhöhe um die Ecke bog, sah ich von Staub bedeckte Frauen auf dem Boden sitzen. Sie hatten bunte Tücher um Hüfte und Kopf gebunden und schlugen mühsam Steine klein, die sie zu Spottpreisen als Baumaterial verkauften. Ich erkundigte mich nach dem Preis eines Sackes, und die Steineklopferin verkündete fröhlich: „Dreißig Pfund! Oder auch weniger, wenn du mehr kaufst.“

Dabei brauchte es, so erfuhr ich, um einen Sack zu füllen, zwei bis drei Tage schweißtreibender Arbeit! Die meisten der Frauen waren Witwen, die ihre Männer im Krieg verloren hatten, wie sie mir erzählten, andere hatten ihre Männer verlassen, und alle hatten Kinder zu Hause, denen es an allem fehlte. Ich nahm den gelben Umschlag mit meinem letzten Lohn heraus und verteilte ihn unter den Frauen, indem ich ihnen all ihre Säcke mit Steinen in allen Größen abkaufte. Dann gab ich, wie jemand, der einen soeben geangelten Fisch wieder ins Meer zurückwirft, dem Berg seine Steine zurück.

Der Staub der Steine und der Autos, die über die Pisten rasten, lag in der Luft und senkte sich auf meinen Wimpern und Haaren ab. Die Frauen und ich saßen noch eine Weile fröhlich zusammen, dann purzelten sie wie Steine zu ihren Häusern hinab. Ihr Lachen war Balsam für mein Herz, mein Zorn verrauchte. Wie ein vertriebener Mönch saß ich nun zwischen den Felsen und blickte von oben auf meine Stadt. Schön lagen die Häuser in der Ebene verstreut, ihre Dächer spiegelten die Sonne, als spielten Kinder mit Spiegeln, als lächelten sie dem Himmel zu und begrüßten die Fluggäste, wie sie mich bei meiner Ankunft begrüßt hatten. Die üppig-grünen Bäume, das Lachen der Frauen über ein paar verdiente Pfund, all das fügte sich zu einer inneren Stimme, die mir zuflüsterte: „Bleib hier, bleib standhaft wie dieser Berg hier! Hier krönt dich die Sonne jeden Morgen, und der Regen wäscht deinen Kummer hinweg!“

 

Ich nahm meinen ausländischen Pass aus dem schwarzen Rucksack und legte ihn auf den Fels, auf dem ich gesessen hatte. Als der Wind mit seinen Seiten spielte, wendete ich ihm den Rücken zu. Ich wollte wie der Regen sein, der die Blätter der Bäume, die Dächer der Häuser und die Zöpfe junger Frauen benetzte.

 

Stella Gaitano hat den Text 2013 geschrieben, zwei Jahre nachdem sich der Südsudan unabhängig erklärte und zur Republik Südsudan wurde.

 

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