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Termiten des Geistes – Brief 4

Batool Haidari an Mostafa Hazara, Rom, 06. November 2022

Übersetzung: Sarah Rauchfuß aus dem afghanischen Persisch

„Wir glauben, dass es unmöglich ist, nicht zurückzuschauen und stattdessen unberührt nur an die Zimmerdecke oder die weißen Wände zu sehen, während ein Gedanke nach dem anderen in unseren erhitzten Gemütern aufmarschiert.“© privat

Hallo,

ich habe Deinen Brief gelesen, Mostafa! Wie gut für Dich, dass Du Dich in Deiner eigenen Festung befindest und Dich mit Sorgen beschäftigst, die das Leben nur für Dich allein gesponnen hat. Du bist noch immer in Deiner eigenen Welt, Deinem eigenen Kosmos. Du hast Dich mit Deinen eigenen Schmerzen eingerichtet, und nur über Deine Gedichte dringt die Trauer über Dein verlorenes Land nach außen. In einem unterscheiden wir Frauen uns von Dir: Wir glauben, dass es unmöglich ist, nicht zurückzuschauen und stattdessen unberührt nur an die Zimmerdecke oder die weißen Wände zu sehen, während ein Gedanke nach dem anderen in unseren erhitzten Gemütern aufmarschiert.

Keinen Bissen Brot können wir herunterzwingen ohne den Gedanken an die anderen Frauen, an die Fesseln jener Frauen, die in Afghanistan zurückgeblieben sind. Du ahnst ja nicht, wie häufig ich mich von Facebook ab- und wieder angemeldet habe. Mehrmals habe ich beschlossen, die Gruppen protestierender Frauen nicht in den Medien zu verfolgen, wenn ich morgens aus dem Schlaf erwache, die Schreie der Mädchen vor den Schultoren in Andarab und Pandschschir zu ignorieren und die Bilder der Leidenden in Behsud und Balchab, die man in Scharen zur Flucht gezwungen hat, an mir vorüberziehen zu lassen, mich auch nicht nach Summaiya und Marsal zu erkundigen, um zu erfahren, in welchem Gefängnis sie ihr Dasein fristen, oder nach Zahras Schicksal in Pakistan. Aber das kann ich nicht, ich bringe die Kühnheit nicht auf, das alles aus meinem Bewusstsein zu tilgen. Du weißt, wie schwer es ist, sich zu befreien, wenn man erst einmal im Leid gefangen ist! Es ist ein Leid, das nicht den ganzen Körper befällt, und es wäre ein Leichtes, es auszureißen und wegzuwerfen wie einen kariösen Zahn – aber niemals für immer. Denn dieses Leid durchdringt dich, auch wenn du es nicht willst, wie Termiten, die geräuschlos an deinen Hirnfalten und deinem Geist nagen. Du bekommst nur mit Mühe genug Sauerstoff, um zu atmen und dich auf den Beinen zu halten. Das musst du aber, um deinen Mut und dein Selbstvertrauen auf die anderen Frauen zu übertragen und seelisch wieder zu Kräften zu kommen, während deine Seele doch von Tag zu Tag knittriger wird und du nicht willst, dass jemand erfährt, wie verschlissen sie schon ist …

Weißt Du, es ist sehr schwer, auf der Schwelle zum vierzigsten Lebensjahr noch einmal zur Umherziehenden zu werden, erst recht, wenn man das eigentlich gar nicht will! Erst recht, wenn du nicht einmal den Ort wählen kannst, an dem du den Rest deiner Tage verbringen wirst, und gezwungen bist zu akzeptieren, was andere für dich beschlossen haben. Nimm wie eine Füchsin deine drei Welpen zwischen die Zähne und zieh von Land zu Land, von Stadt zu Stadt und denke an nichts außer ans Wegkommen. Überwinde und lass los, was hinter dir liegt, was du über Jahre hinweg mit so viel Mühe aufgebaut und geschaffen hattest und was das Schicksal dich aufzugeben gezwungen hat, und dann laufe weiter, weiter und weiter. Ich will nicht jammern und klagen, ich bin das Klagen und den Kummer leid. Ich bin das Geschrei und Gejammer leid und alles, was nach Hilflosigkeit aussieht und den seelischen Zusammenbruch einer Frau zur Schau stellt. Zugleich bin ich gezwungen weiterzumachen. Das, was meine Finger beim Schreiben beseelt und meinen Füßen Leben einhaucht, so dass ich mich auf sie verlassen und weiter voranschreiten kann, ist der Zusammenhalt der Frauen. Dieser Kampf für Freiheit und ein kollektives Aufatmen ist weiblich.

Zusammen mit den Schreien und den geballten Fäusten der afghanischen Frauen, die hinter mir stehen, injiziere ich die Kraft, voranzuschreiten und keine Müdigkeit zu kennen, jeder Seele, die schwach zu werden beginnt, wie frisches rotes Blut. Ich pumpe es durch alle Venen, die altern und den Tod willkommen heißen wollen. Ich stehe auf und bin stärker als je zuvor und schließe all diese Tage, Städte und Länder, die mir nicht gehören, die ich nicht kenne und vielleicht auch in vielen Jahren nicht kennen werde, fest und herzlich in meine Arme, ich versüße mir die Tage mit einer Tasse bitteren Kaffees. Barfuß und mit leeren Händen durchkämmen wir Frauen die Landstriche, die von Religion beherrscht werden und in denen es sich nicht atmen lässt, immer auf der Suche nach einer Luke, einem Fenster, durch die ein frischer Luftzug dringt. Wir wissen, dass wir Erfolg haben werden und dass der morgige Tag, dieser Morgen dort hinter dem milchigen, verstaubten Fenster uns gehört und unseren Töchtern, ja, allen Mädchen und Frauen, denen in den Klauen der opiumvergifteten Religion das Atmen schwer gemacht wird und die nur noch darüber nachdenken, wie sie leben und am Leben bleiben können.

Ja, der morgige Tag gehört uns, der immer neu ergrünende Morgen gehört uns Frauen, uns allen.

Batool

Voriger Brief:

Die Flucht vor einer anderen Flucht - Brief 3

 Mostafa Hazara an Batool Haidari: Als ich Deinen Brief las, war ich gerade auf einer Reise, unterwegs nach Schweden. Um ehrlich zu sein, wollte ich vor dem Jahrestag des 15. August flüchten: eine Flucht vor einer anderen Flucht. Flüchten und davonlaufen, das macht einen großen Teil meines Lebens im Westen aus. LesenText im Original

Nächster Brief:

Termiten des Geistes - Brief 4

Batool Haidari an Mostafa Hazara: Ich habe Deinen Brief gelesen, Mostafa! Wie gut für Dich, dass Du Dich in Deiner eigenen Festung befindest und Dich mit Sorgen beschäftigst, die das Leben nur für Dich allein gesponnen hat. LesenText im Original

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