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Mit der Kraft der Erinnerung – Brief 1

Fatema Haidari an Paula Fürstenberg, Simin, 02. Mai 2024

Übersetzung: Bianca Gackstatter aus dem Persischen

 

© Fatema Haidari

Im Namen Allahs, des Allmächtigen

Hallo, liebe Paula,

ich hoffe, du erfreust dich bester Gesundheit und wirst von den Übeln unserer Zeit verschont.

In diesem Brief möchte ich dir einiges über meine Migration und ihre bisherigen Auswirkungen auf mich erzählen.

Seit ich auf die Welt kam, lebte ich in meiner Heimat, in meinem geliebten Afghanistan. Doch mit dem Ausbruch der erbitterten Kriege dort, die wie alle Kriege zu nichts anderem als zu Zerstörung und zur Obdachlosigkeit unschuldiger Menschen geführt haben, war auch ich gezwungen, mein Land zu verlassen und in ein anderes Land, in eine andere Stadt umzusiedeln.

Migration kann bei denen, die sie auf sich nehmen müssen, zu neuen und ganz unterschiedlichen Erfahrungen führen. Jede dieser Erfahrungen kann sowohl positiv als auch unangenehm sein. Was mich betrifft, so wurde ich hauptsächlich aus schierer Not heraus zur Migrantin: Ich musste mein Leben retten. Bisher stellt die Migration für mich eine völlig neue Welt dar. An diesem Ort, in diesem Moment, wo ich mich gerade befinde, habe ich viele Lehren aus der Migration gezogen. Die Entfernung vom eigenen Zuhause, von Freunden und Bekannten kann mich und alle anderen sehr bitter und zerbrechlich werden lassen. Zugleich aber kann dies auch eine Gelegenheit für einen Neuanfang sein oder eine Möglichkeit, sein wahres Selbst zu finden in diesem chaotischen Treiben der Welt.

Ehrlich gesagt, war es tatsächlich so, dass ich, als ich die Grenzen meines Landes hinter mir ließ, keinerlei Vorstellung von der neuen Welt und meiner Zukunft hatte. Die Bitterkeit darüber, weit entfernt von meinen Freunden, dem Studium und der Universität zu sein, lastete so schwer auf meinen Schultern, dass ich kaum mehr die Nacht vom Tag unterscheiden konnte. Der Tod meines Bruders und die Angst um mich selbst und um meine Familie ließen mich die Sekunden wie Jahre empfinden. Meine Tage verbrachte ich damit, an die Vergangenheit zu denken. Immer wieder habe ich mich gefragt, wie ich nur hierhergekommen sein mochte. Was hatte ich verbrochen, dass ich gezwungen wurde, ein so unwürdiges Leben zu führen?

Immerhin war mir eines zutiefst bewusst und ich weiß es noch immer: dass alles, was mir bisher widerfahren ist, dem Plan entspricht, den Gott für uns entworfen hat, oder, wie man bei uns sagt: Alles geschieht nach der Weisheit Gottes.

Das Zweite, was ich in diesen zwei Jahren und vier Monaten gelernt habe, ist, dass jede Bitterkeit, wie heftig sie auch sein mag, letztlich ein süßes Ende hat und dass die Nachsicht und die Geduld, die ich aufbringe, schließlich zu einer Antwort auf meine endlosen und traurigen Fragen der vergangenen Tage führen werden.

Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch in seinem persönlichen und gemeinschaftlichen Leben eine Bestimmung hat. Nach wie vor komme ich zu dem Schluss, dass die Wunden, die der Krieg meinem Land, meiner Seele und den Seelen meiner Landsleute zugefügt hat, nicht ohne Lehren und Lektionen bleiben sollten.

Meine liebe Paula, hier noch eine weitere Erkenntnis: Jedes von einem Krieg betroffene Land, das aus den bitteren Erfahrungen dieses Krieges und seiner Folgen seine Lehren zieht, wird in seiner Entwicklung voranschreiten. Lernt es jedoch nicht daraus und erträgt nur sein Leid, werden das Land und seine Bevölkerung zugrunde gehen. Vielleicht sind heutzutage viele Länder in alle möglichen inneren und äußeren Kriege verwickelt, so dass sich den Migrierenden von gestern immer mehr Migrierende anschließen werden. Trotz der wenigen Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe, fand ich heraus, dass es im Vertrauen auf Gott, den Allmächtigen, möglich ist, auch in einem anderen Land, fernab der Heimat, für den Weg der Freiheit zu kämpfen. Diese Freiheit ist süß und unbeschreiblich – allein schon der Gedanke daran beruhigt mein Herz und meine Seele.

Am Ende geht es vor allem um die Frage: Wer bin ich, die Migrantin, eigentlich, und wie finde ich meine Bestimmung? Erkenne ich meine innere Wahrheit klar genug?

Als Antwort darauf sage ich mir: Ich bin eine junge Frau, die in der Blüte ihrer Jugend von ungewollten Kriegen in ihrer Heimat betroffen und gezwungen war, diese zu verlassen. Ich habe gelernt, dass die körperliche und seelische Verbundenheit auch mit der Entfernung niemals verschwinden, sich abschwächen oder vergessen werden wird. Jede meiner Erinnerungen und jedes Stück Heimaterde trage ich in meinem Herzen. Zwar bin ich jetzt eine Migrantin, aber ich werde immer eine afghanische Frau bleiben. Und zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass ich mich dieser Tage in einem Teil der Welt befinde, der sich Iran nennt.

Ich, Fatema Haidari, bin zwar eine Frau, die unter dem Krieg und der Entfernung zu ihrer Heimat leidet und die warmen und tröstlichen Erinnerungen an ihren Bruder im Herzen trägt. Aber ich bin mir meiner Bestimmung und der meiner Zukunft bewusst. Ich bin eine afghanische Frau und ich kann von jedem Fleckchen auf der Welt die glorreiche Vergangenheit der heldenhaften afghanischen Frauen durch meine Erinnerung aufleben lassen und ihr Lied in die Ohren der Zeit hineinrufen. Zu guter Letzt danke ich dir, liebe Paula, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Brief zu lesen.

Mit lieben Grüßen

Fatema Haidari

Dieser Brief entstand im Projekt „Untold Narratives – Weiter Schreiben. Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen“, eine Kooperation der KfW Stiftung, Untold Narratives CIC und Weiter Schreiben.
Voriger Brief:

Mit der Kraft der Erinnerung – Brief 1

Fatema Haidari an Paula Fürstenberg: ich hoffe, du erfreust dich bester Gesundheit und wirst von den Übeln unserer Zeit verschont. In diesem Brief möchte ich dir einiges über meine Migration und ihre bisherigen Auswirkungen auf mich erzählen. LesenText im Original

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