Poesie hat ihren Ursprung in der mündlichen Überlieferung, Gedichte wurden rezitiert, gesungen und weitergetragen. Ahmad Katlesh und Ulrike Almut Sandig finden sich in ihrem Interesse für Stimme und Sound.
Fragiles Orchester des Glücks
Ulrike Almut Sandig über Ahmad Katlesh
Am 17. Februar 2022 stieg ich um halb elf Uhr vormittags aus der U7, um Ahmad Katlesh zu besuchen. Seit unserem ersten Treffen im Spätsommer hatten wir über WhatsApp gechattet, einander Gedichte geschickt, auch mal einen Link zu einem Midi-Player, und uns erzählt, was so los war in unseren Leben. Gemeinsamer Podcast im Oktober, Reise nach Turin für Ahmad im November, Corona-Infektion für mich im Dezember. Dazwischen Sprachnachrichten, Krimskrams, my head = snowflake, schrieb ich ihm, als ich wieder aus dem Bett heraus war.
In unserem Podcast hatte Ahmad etwas gesagt, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Dass er sich vorstelle, die Stimmen der Verstorbenen wiederzubringen. Obwohl Poesie immer eine mündliche Kunst war, sei kaum etwas über die Stimmen der Dichtenden überliefert. Unsere Unkenntnis darüber, mit welchen Eigenarten, in welchen Tonlagen die Dichter ihre Werke zu Gehör brachten, lasse uns einen großen Teil ihrer Dichtung missen. Which shape do you think your voice has, Ulrike? Seine klingt für mich nach einem gut gestimmten Klavier, für ihn selbst nach einem Cello.
Neben seiner Arbeit als Performancedichter und Schriftsteller betreibt Ahmad einen erfolgreichen Soundcloudkanal mit über 43.000 Followern, für den er ins Arabische übersetzte Weltliteratur im Hörbuchformat produziert. Einige seiner meistgehörten Uploads, hatte er im Podcast erzählt, seien Briefe, etwa von Nabokov oder von van Gogh. Recreating these letters by recording them, sagt er, feels like building a bridge between the audience and the personality of the writer. Aber auch wir hatten ja längst begonnen, die Fremdheit zwischen uns zu überbrücken – beide mit leisem Bedauern darüber, dass ich den eigentlichen Ahmad Katlesh – in seiner Muttersprache denkend, schreibend, sprechend – nie kennen werde, sondern nur Ahmad auf English, Ahmad auf Deutsch. Aber irgendwie verstanden wir uns trotzdem.
Ich wäre fast wieder umgekehrt an diesem 17. Februar. Denn durch die Straßen bis zum Neuköllner Weigandufer, an dem Ahmad damals noch wohnte, donnerten Sturmböen, die mich kaum vorwärtskommen ließen. Meine Hündin war ein zu leichtes Bündel, hin- und hergeschoben im Wind. Ich hob sie auf den Arm und stemmte mich mit ihr gegen die dröhnende Luft.
Komischerweise war der Sturm in Ahmads einladender Altbauwohnung fast nicht zu hören. Der Hund lümmelte auf dem Sofa und wir tranken guten Kaffee, hörten in Soundfiles rein und sprachen über die Übersetzung von Dichtung in Schrift, Musik und Bewegung. Sprache war – für den Moment – ein sicherer Ort.
Eine Woche nach diesem Besuch kündigte der russische Präsident Wladimir Putin in seiner fast einstündigen nächtlichen Fernsehansprache, gespickt mit falschem Geschichtsverständnis und manisch verdrehten Fakten, den Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine an. In den folgenden Tagen und Wochen checke ich pausenlos die Nachrichten, lerne europäische Geschichte neu, verlerne Sicherheiten, leite dringende Infos weiter, fürchte um Menschen, die mir lieb sind. Da ist es wieder, das Fragile unserer Körper.
Im März beginnen Ahmad und ich mit den Proben für unsere Performance klaŋkœʁpɐ. Es ist ein zugewandtes Spiel mit Stimmen, Elektronik, Wasserbecken, Sansula, Orgelpfeife – in der Balance zwischen Sinn und Form, Klang und Erzählung. Ahmads Text Liebe sprechen wir im arabischen Original und in deutscher Fassung von Günther Orth, während unsere einander berührenden Hände einen Stromkreislauf schließen. Dabei entstehen Klänge, die sich je nach Druck und Art des Körperkontaktes verändern. Es gibt keine Möglichkeit, das zu machen, ohne sich einander zu öffnen.
Einziger nicht improvisierter Teil des Abends vom 21. März im Literaturhaus Berlin: Ahmads Tango mit dem Tänzer Bassel Fatloun. Einer die Bewegung des anderen fortführend, tanzen sie seinen Text über einen Wütenden, dem gesagt wird: Geh, und nimm die Tür vor deinem Gesicht mit. Das Glück, es durchfährt mich in dem Moment, als ich in Ahmads Audioproduktion meine eigene Stimme wiederentdecke: die deutsche Fassung seines Textes, übersetzt von Suleman Taufiq, ich hatte sie ihm doch nur als Sprachnachricht geschickt! Ahmad hatte sie einfach reingemixt. Plötzlich war ich Teil dieses Orchesters aus Geräusch, Klang und Stimme, zu dem sich die beiden bewegten. Aber ist Dichtung im besten Fall nicht immer ein Zusammenspiel der Stimmen von gestern, heute und morgen, in der Zeitmaschine namens Sprache aufeinander reagierend?
In einer Probenpause auf dem Balkon des Literaturhauses erzählte ich Ahmad von meiner Sorge um eine ukrainische Freundin, die zu diesem Zeitpunkt mit ihrer kleinen Tochter in einem Vorort Kyjiws festsaß. Ich werde hier nicht wiedergeben, was genau er mir daraufhin erzählte. Aber seitdem achte ich darauf, das Glück nicht außen vor zu lassen. Glück macht den Schmerz nicht kleiner. Aber es kommt dazu.
Berlin im Juli 2022