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(W)Ortwechseln > Dima Albitar Kalaji & Ramy Al-Asheq > Ein Brief mit drei Titeln - Brief 2

Ein Brief mit drei Titeln – Brief 2

Dima Albitar Kalaji an Ramy Al-Asheq, 13. Juli 2020

Übersetzung: Leila Chammaa

(W)Ortwechseln, Dima AlKalaji, Ramy Al Asheq
© Dima AlKalaji

Versuch einer Neudefinition / Deckelloser Popcorntopf / Ein Brief, mittendrin begonnen

Ich habe mich auf das weinrote Sofa – auf die linke Seite – gesetzt, um Dir zu schreiben. Und sollte dieser Brief dazu führen, dass Du wieder schreibst, ich wieder lese, wir beide wieder unsere langen Gespräche führen, dann sei es drum.

(Hier können Sie das Video zum Brief sehen)

Lieber Ramy,

… „so gut, dass wir auf formale Einleitungen verzichten können“, schriebst Du, und mir gefällt es auch, den Brief mittendrin zu beginnen, so wie ich auch unsere Gespräche immer mittendrin anfange. Du runzelst die Stirn, hebst die linke Braue, lässt Dich auf die Gedanken ein, knallst Fragen heraus wie ein deckelloser Popcorntopf auf dem Feuer.

Manchmal kommt mir Berlin schon vertraut vor und Damaskus fremd. Mein Verständnis von „Exil“ ist erschüttert. Was genau ist unsere Verbannung? Der Ort oder die Sprache? In letzter Zeit empfinde ich mein sprachliches Unvermögen als Verbannung. Damit meine ich nicht das Deutsche oder Englische, sondern das Arabische.

Du hast aufgehört zu schreiben, ich aufgehört zu lesen. Ich erinnere mich nicht, wann ich zum letzten Mal ein Buch in die Hand genommen und zu Ende gelesen habe. Offenbar sind die Schriftsteller*innen so sehr auf die eigenen Texte fixiert, dass ich Autor*in und Text nicht mehr auseinanderhalten kann. Alle Texte wirken dann einheitlich, gleichförmig, starr – auch wenn sie schön sind. Es ist, als wären sie der Zeit enthoben, so auch die Autor*innen, als würden Text und Verfasser*in einander nicht mehr befruchten. Mir kommt es vor, als hätte Sprache ihre besondere Fähigkeit verloren. Sie überrascht nicht mehr, ist vorhersehbar geworden.

Es heißt, am Anfang lehrte er Adam die Namen aller Dinge. Hat er Adam damit auch etwas Entscheidendes genommen? Den Überraschungseffekt, der mit dem Ent-decken und Be-nennen einhergeht? Was genau hat er ihn gelehrt? Wörter? Bedeutungen? Den Wert von Wort und Bedeutung?

Was legt den Wert der Dinge fest? Oder wer legt ihn fest? Wir? Die anderen? Welche „anderen“? Verändert sich der Wert einer Sache nicht, wenn sich die „anderen“ verändern? Wenn sich der Stellen-Wert der „anderen“ in unserer Sicht verändert? Wenn wir uns verändern? Ich ahne schon, dass Du spätestens jetzt genug hast von meinen vielen Fragen, aber das kümmert mich nicht. Denn ich glaube, dass Fragen ihre Antworten meist in sich tragen. Mir geht gerade durch den Kopf, was Du über Sinnhaftigkeit geschrieben hast und über den Wunsch, Dinge zu tun, die gemeinhin als sinnlos gelten. Ich versuche zu verstehen, woraus sich für Dich „Sinn“ und „Bedeutung“ ergeben, versuche zu erfassen, was „Sinn“ und „Wert“ verbindet bzw. unterscheidet. Dabei fällt mir auf, dass ich den Drang habe, alles immerzu neu zu definieren.

Als meine Tochter Lien zum ersten Mal Lichtstrahlen durch das Laub eines Baumes hindurch schimmern sah und leuchtende Augen bekam, definierte sie dies für sich; begriff es als Faszination. Da wurde mir klar, dass ich die Bilder meiner frühsten Erfahrungen aus dem Bewusstsein verloren hatte. Wir oder jedenfalls ich – Tochter eines Konglomerats diverser Faktoren wie Familie, Gesellschaft, Politik, Beruf, Religion, Bildung, Literatur, ja auch Genderverständnis und Schönheitsideal – stehe unter dem Druck, Optimales, Vollkommenes, Vorbildliches zu liefern. Ich bin das Resultat dessen, was von mir erwartet wird und was ich davon erfülle. Ich lebe mein Leben nicht, sondern erfülle seine Erwartungen. Ich hinke ihm hinterher und gestalte es nicht. All das hätte aufhören müssen, kaum dass ich den Mechanismus durchschaute.

Als Kind las ich einmal ein Buch, das ein reichlich seltsamer Kauz geschrieben hatte. Er riet darin, sich die Szenarien, die man am meisten fürchtet, detailliert vorzustellen. So durchlebe man seine größten Ängste und sei auf alle Eventualitäten vorbereitet. Diese Methode wenden viele Leute gegen innere Unrast und „übermäßiges“ Grübeln an.

Die Vielfalt der Möglichkeiten ist mein Element. Immer schon spiele ich Gedanken durch. Ich male mir irreale, wenn nicht gar unrealistische Situationsabfolgen aus. Liebend gern konstruiere ich Plots. Das hat mich, wie ich meine, oft gerettet und wohl auch befähigt, schwierige Umstände spontan zu meistern. Zudem schulte es mich, die eigene Person wie auch die Menschen und Ereignisse um mich herum besser zu begreifen. Aber es nahm mir auch etwas. Nahm mir die Option, Fehler machen zu dürfen, mir diese zu verzeihen und mich mit meinen Makeln zu mögen. Es nahm mir die Fähigkeit, mich selbst anzunehmen und wertzuschätzen.

Die Zeit definiert alles neu, sowohl das Umfeld als auch die eigene Person. Ich möchte nicht alle Wörter kennen müssen. Ich will sie weder alle kennen noch auswendig können, will stattdessen viele davon vergessen, verwechseln, so verstehen, wie ich sie erlebe, ihnen den Wert zugestehen, den ich bestimme, ohne in Plattitüden oder in Nichtigkeiten abzugleiten.

Ich denke, ich beende den Brief jetzt, wie ich ihn begann – mittendrin. Lien wartet, dass wir in den Park gehen und uns im Sand suhlen. Über diese Seite meines Alltags spreche ich nicht so gern. Da das Muttersein nach wie vor als „natürlich“ bzw. als „historisch gewachsene und deshalb angemessene Rolle“ der Frau gilt, ist es zu einem Bestandteil von mir geworden, der mich in allem bestimmt, was ich tue. Beide Themen verfolgen mich auf Schritt und Tritt. Werde ich gebeten, einen Text zu schreiben, dann geht es meist – oder eigentlich immer – entweder um Mutterschaft oder Exil. Offensichtlich bin ich in der Datenbank vieler Zeitungen als geflüchtete Journalistin mit Kind gespeichert und damit in meinen Kompetenzen definiert.

Unser Gespräch wird weitergehen – ewig.

Dima

Anmerkung: Ich möchte etwas sagen, das Dir bestimmt nicht gefällt. Aber ich hielte mich nicht für eine wirkliche Freundin, wenn ich es nicht täte. Du schreibst in Deinem Brief über die „Härte“. Du warst wirklich sehr hart, Ramy.

Verbittert und mit unendlicher Akribie hast Du die Poesie aus Deinem Leben hinauskatapultiert. Aus Deiner Sprache, aus dem Gehör, aus abendlichen Begegnungen mit Dichter*innen, Büchern, Diskussionen, aus Musik und Metrik. Du wolltest sie offensichtlich zertrümmern und bist selbst zu Bruch gegangen, dabei noch bitterer und härter geworden.

Stundenlang hast Du mir miserable Aufnahmen eines schönen Textes vorgespielt und Passagen, die Dir besonders gefielen, mehrmals wiederholt – warst wie im Rausch. Dann hast Du angefangen, Dich über den Wortlaut von Liedern und Gedichten, die Du gern mochtest, lustig zu machen und sie verballhornt wiederzugeben. Es damals zu thematisieren, hätte nichts gebracht, weil Du damit allein sein wolltest. Aber heute, da Du es selbst so siehst, kann ich es Dir sagen.

Anmerkung 2: Nicht alles, was Du geschrieben hast, ist „Gefasel“. Nur einiges, Nur einiges, aber das ist unvermeidlich. 😛

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