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(W)Ortwechseln > Abdalrahman Alqalaq & Katerina Poladjan > Vergiss die Liebe zum Meer, bevor du segelst - Brief 9

Vergiss die Liebe zum Meer, bevor du segelst – Brief 9

Abdalrahman Alqalaq an Katerina Poladjan, 02. Juni 2020

„Es gibt keinen Raum, der dieses Fremdsein überwinden kann“. © Ayham Mallisho

Liebe Katerina,

wenn Du wüsstest, was Dein Buch in mir ausgelöst hat. Das ist viel mehr als alles, was ich in diesem Brief ausdrücken kann.

Ich las Helens Antwort „Ich bin kein Baum“, als Levon sie nach ihren Wurzeln fragte, und musste an meinen kleinen Ficus denken, der während meines Umzugs viel Erde verloren hat. Also legte ich Deinen Roman „Hier sind Löwen“  zur Seite, stand auf und ging mit dem Ficus hinunter in den Garten. Ich nahm ihn aus dem Blumentopf, hielt ihn in der Hand und merkte, wie ganz anders er aussah, nachdem die Erde seine Wurzeln nicht mehr bedeckte. Abrupt erschien mir die Pflanze, als wäre sie eine menschliche Gestalt, und ich erschrak, die klitzekleinen Knochen einer Holzstatue in meiner Hand zu sehen. Daher gab ich ihr den Namen Adam. Adam steht nun mit seinem nackten Körper auf meinem Schreibtisch neben der Lampe. Sein Körper erinnert mich an dünne Kinderbeine in zu großen Hosen, aber auch an uns Menschen, die wir uns mit unserer Heimat erst dann auseinanderzusetzen beginnen, wenn wir unseren Leib aus ihrer Erde ausgegraben haben.

Wie Vardan sich fremd fühlt im eigenen Land, erinnert mich an uns.
Wie Levon Ano nicht ertragen kann, die dem Krieg entflohen ist und nun in ihrer Urgroßelternheimat auf grellfarbigen High Heels verloren herumsteht, erinnert mich an uns.
Wie Araik stolz auf seines Sohnes patriotisches Vorhaben ist, bis der Sohn stirbt und er selbst in Kummer versinkt und wie dann die Bedeutung dieser Heimatliebe auf seinen gelähmten Beinen zerbricht, erinnert mich an uns.
Dein Roman erinnert mich an ein Volk, das auf allen Fluchtrouten anzutreffen ist.
Ein Volk, das in jeder Richtung Schreie und in jeder Wüste und in jedem Meer Vermisste hat. Einem verstreuten Volk, dessen nachfolgende Generationen Heimat im Überfluss gefunden haben und noch finden werden, bleibt jedoch nur wenig Heimat.

Die Generation, die 1948 aus Palästina vertrieben wurde, musste die Geschichte der Vertreibung 2013 in Damaskus erneut erleben, als syrische Staatskräfte unser palästinensisches Viertel, Camp Jarmuk, monatelang bombardierten und es vier Jahre lang belagerten und aushungerten.
Vieles wiederholt sich in der Geschichte. Die Juden im Nationalsozialismus. Die Armenier im Osmanischen Reich. Die Kurden heute. Die Tutsi in Ruanda. Die eritreische Diaspora. Die Vertreibung vieler Angehöriger der freien Syrischen Armee nach Norden. Die Jesiden im Irak. Die Tibeter, die Uiguren, die Mongolen und die fünf Millionen staatenlosen Palästinenser.

Das sich ewig wiederholende menschliche Elend ist nie gleich. Nicht jedes VOLK, jeder einzelne MENSCH hat seine eigene Geschichte und seine eigenen Narben im Gesicht. Die Motive der Täter dagegen ähneln sich, sofern der Täter selbst einst ein Opfer war. Er kann vielen Schlimmeres tun als das, was ihm angetan worden war, wenn er aus der Opferrolle nicht herausfindet.

Vor einigen Stunden las ich die letzten Seiten Deines Romans. Ich stand auf und fühlte mich in jeder Hinsicht erfüllt von den Bildern Deiner Protagonisten, die sich in meinem Kopf mit allerlei Bewegungen verkörperten. Ich stellte mir Helen, Levon, Araik, Helens Großeltern, Anahid und Harnt mit jedem ihrer Gesichtszüge und jedem Detail vor. Ich konnte sie in meinem Gedächtnis an Orten fixieren, von denen sie jederzeit abrufbar sind.

Was dem Menschen durch den Verlust der Heimat zustößt, kennt keine Grenzen und kein Maß. Es gibt keinen Raum, der dieses Fremdsein überwinden kann. Man entflieht einem Krieg, einem Massaker und denkt, dass man durch die Finger schlüpfen konnte, auch wenn man gebrochen und dem Tod preisgegeben war.

Hätte ich Deiner Protagonistin etwas sagen können, hätte ich ihr ein paar Sätze aus einem Text zugeflüstert, den ich im September 2015 an einen Freund schrieb, als ich befürchtete, die griechische Küste niemals zu erreichen.

Ich würde Anahid sagen:

Bevor du deine Heimat verlässt, leg das Verlangen ab, das Denken und die Erinnerung an den Duft der Haut der Menschen, die du liebst.
Wenn du kannst, zerreiße die inneren Bilder.
Wenn du kannst, versuche deinen Fuß von der Erde zu heben.
Wenn du kannst, nimm deine Hände von den Blättern der Bäume und wende deine Augen ab von dem Himmel über der Stadt.
Wenn du dich je wieder heimisch fühlen willst, vergiss die Liebe zum Meer, bevor du segelst, und halte deine Augen geschlossen,
um keinen Groll zu spüren,
gegen das Meer,
das Licht
und Gott.

Dein Abdalrahman

Voriger Brief:

Reise in die Welt eines ununterbrochenen Schauderns - Brief 8

Katerina Poladjan an Abdalrahman Alqalaq: Wenn ich ehrlich bin: Ich singe nicht gern. Das mag daran liegen, dass ich in meiner Kindheit wenig gesungen habe. Meine Mutter hat mir nicht vorgesungen, weil sie selbst nur flüsternd singt, fast tonlos. Später habe ich laut und falsch gesungen und all die unschönen Töne liegen bis heute schräg in mir. Lesen

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