Papierene Kriegsschiffe – Brief 11
Abdalrahman Alqalaq an Katerina Poladjan, 17. Juli 2020
Übersetzung: Günther Orth
Liebe Katerina,
gestern habe ich darüber nachgedacht, was Du mir in Deinem letzten Brief über Deinen Besuch im Libanon geschrieben hast, insbesondere über den Mann, der Dich in einem Café in Beirut auf Russisch ansprach und dessen Gestik und Stimmlage sich abrupt beruhigten, als er die Sprache wechselte.
Heute Morgen habe ich mich vor den Spiegel gestellt, um zu testen, ob ich in eine andere Rolle schlüpfen kann, indem ich mit mir selbst abwechselnd Arabisch und Deutsch spreche. Ich verzog die Lippen und hob die rechte Braue und hörte mir zu, wie ich ein und denselben Satz im gleichen Tonfall in beiden Sprachen sagte. Überraschenderweise hörte ich eine Vielstimmigkeit, als führte ich einen ungleichen Kampf mit zwei Sprachen.
Ich zögerte zunächst, Dir diesen Brief zu schreiben, weil ich fürchtete, dass es zu selbstbezogen klingen könnte, wenn ich – noch dazu ein braver Konsument bei Starbucks, Thalia, Netflix, Ebay, Paypal etc. – hier über einen so banalen „Krieg“ berichte und mich zugleich über den wahrhaft blutigen Krieg in meinem Land ausschweige. In anderem Zusammenhang würde man eine solche Selbstbezogenheit wohl Narzissmus nennen. Aber wie auch immer, ich muss solche Kämpfe von Zeit zu Zeit führen, um mich aus der Nähe zu beobachten, zumal ich mich hier in einem Land wiederfinde, in dem ich meinen eigenen Lebenslauf durchlesen muss, um mich halbwegs wiederzuerkennen. Arbeitgeber bekommen einen roten Kopf, wenn sie Lücken in der Tabelle entdecken. „Wo? Wie? In dem fehlenden Zeitraum, was haben Sie da gemacht?“ Aber das ist eben der Preis einer modernen Gesellschaft, die alles tut, uns als Individuen zu entwurzeln und Produzenten und Konsumenten aus uns zu machen. Das ist unsere kollektive Identität in der Leistungsgesellschaft.
Und obgleich mein Leben in den vergangenen vier Jahren so seriös und produktiv verlaufen ist, dass ich kaum dazu kam, mich von mir selbst entfremdet zu fühlen, blieb ich mir selbst im Innern fremd und fühlte mich wie ein monströser Wasserkrug, in dem papierne Kriegsschiffe schwammen. Ich lernte Deutsch, jobbte als Tellerwäscher und im Theater (auf der Bühne und dahinter) und war dauernd damit beschäftigt, nach einem Leben zu streben, wie ich es mir immer schon ausgemalt hatte – ein Leben, das in einem Moment von Schwäche und Furcht scheitern würde.
Ich wollte vor etwa zwei Jahren schon über solche individuellen Kleinkämpfe schreiben. Heute endlich beginne ich mit einem davon. Und um mich so klar wie möglich auszudrücken, schreibe ich Dir heute zum ersten Mal auf Arabisch, und zwar über den Krieg der Sprache gegen das Gedächtnis.
Meine Mimik gerät durcheinander, während ich einen ungleichen Kampf gegen zwei Sprachen führe: Die Sprache als unsere starre begriffliche Unterscheidung von Dingen und Menschen einerseits und andererseits die Sprache als ein Instrument, in dem sich unser Bild von diesen Dingen und Menschen in konkreter Poetik formt. Wenn ich Deutsch spreche und meine Stimme vorsichtiger wird als im Arabischen, fehlt es mir in diesem Kampf an Ausdruckskraft. Ich stehe dann auf „schwankendem Grund, unter mir nichts als Luft“, wie al-Mutanabbi einst dichtete. Im Arabischen kann ich mich bei schwierigen Entscheidungen auf meine Eingebung verlassen, während ich im Deutschen in einer solchen Situation streng rationale Analysen vornehme. Zugleich klinge ich auf Arabisch trauriger und sorgenvoller, vielleicht weil das Arabische die Sprache meiner Vergangenheit ist, in der die Stimmen ferner geliebter Menschen mitschwingen, oder weil diese Sprache mit Orten verknüpft ist, die nie wieder so sein werden, wie sie einmal waren, und weil es die Sprache von Erinnerungen ist, die mich fast immer überfallen, wenn ich nachts im Bett liege.
Zuweilen glaube ich, diese Erinnerungen wären eine weniger schwere Last, wenn ich von einem Moment auf den anderen ins Deutsche wechseln würde. So als ob sich ein Morgen zeigte, um mich in einer Sprache zu trösten, in der ich keinen Krieg erlebt habe, keine Belagerung und keine männlichen Klischees über eine „terminologische Verkommenheit“ sexueller Identitäten, die sich den zwei auf immer gegensätzlichen Polen verweigern.
Das arabische Wort für Liebe ist hubb, und der stimmlose Auslaut dieses Wortes macht, dass ich es zögerlich und mit Bedacht benutze, während ich das deutsche Wort „Liebe“ gleich eine halbe oder gar ganze Oktave höher ausspreche. Zweifellos ist alles, was ich in einer anderen als meiner Muttersprache fühle oder äußere – jedenfalls in den ersten zehn Jahren des Sprechens – methodischer und logischer und damit weniger poetisch. Auf einer anderen Ebene jedoch ist es auch weniger ausgewogen und nimmt weniger Rücksicht auf soziale, ethische und kulturelle Belange, als wenn ich es absichtlich oder unabsichtlich in meiner Muttersprache sage. Das Deutsche deckt von daher Seiten meiner Persönlichkeit auf, die ich im Arabischen zu zeigen mich nie getraut hätte. Zum Beispiel fällt es mir im Deutschen viel leichter, Schimpfwörter laut auszusprechen, die ich auf Arabisch nur verschämt und zurückhaltend sagen würde. Auf den ersten Blick mögen solche Alltagsdetailbeobachtungen oberflächlich und wenig aussagekräftig erscheinen, aber in meinem Innern machen diese Dinge mehr mit mir, als mir bewusst ist.
Oft denke ich, es wäre doch einmal mutig, die mit der Fremdsprache verbundenen Verhaltensweisen in der eigenen Sprache anzuwenden. Man könnte sie somit von ihrem gesellschaftlich vereinnahmten Gedächtnis befreien, das die mit der Muttersprache verbundene Zensur und das damit einhergehende Gebaren einem aufzwingt. Unternimmt man das Experiment, gibt man sich einem fremden Verhalten hin und sieht, wie faszinierend und verblüffend sich dieses Verhalten in der Fremdsprache darstellt. Es funktioniert, indem man ein Wort in der Fremdsprache genüsslich so ausspricht, als ob man seine Bedeutung zum ersten Mal im Leben entdeckt.
Wenn ich auf Deutsch schreibe und dabei im Wörterbuch nach einer Vokabel suche, die ich in der Sprachschule nicht gelernt habe, kommt es vor, dass mein sprachliches Empfinden eine kleine, aber klare „Wissensdistanz“ zwischen mir und den Anspielungen und Metaphern der Vokabel schafft, statt es kraft der Motoren der Erinnerung fließen zu lassen. Diese Distanz gibt mir die Möglichkeit, das sprachliche Bild besser zu verstehen, ohne dass ich der „Poetik der Muttersprache“ und meinen dort verwurzelten Gewissheiten und Verständnissen erliege. So lasse ich die Sprache dort ihren Weg finden, wo sie sich in Ort und Zeit befindet, statt sie über ihr Gedächtnis laufen zu lassen – das Gedächtnis im Sinne dessen, was die Sprache antreibt. Linguisten nennen diesen Antrieb „Brille“. Ein Deutschsprecher legt zum Beispiel eine „dicke Modernitätsbrille“ an. So hat mich die deutsche Sprache sehen gelehrt, wie schwer ein klarer Satz, und sei es auch ein metaphorischer, wiegen kann. Der rationale und direkte Sprachdiskurs des Deutschen provoziert mich zuweilen. Als ich die sprachlichen Bilder und Metaphern des Deutschen durch diese neue Brille erkannte, war ich zugleich verblüfft und empört, mitunter auch so ohnmächtig und gelangweilt, dass es mich beinahe aus dem Deutschen vertrieben hat.
Je mehr ich aber auf Deutsch frisch drauflos schrieb, hat diese Verblüffung mich dazu befähigt, die Sprache nicht als starres Gefäß zu verwenden, das einem Gedächtnis an Vergangenes unterliegt, sondern sie als eine Plastik aus noch weichem Ton zu begreifen, die im Gebrauch entsteht. Ein ganz anderes Gefäß also, als jenes, den man von den Eltern erbt, oder dem wir beim Studium und in Lexika nachjagen. Es gleicht vielmehr einem Wissensschatz, der unaufhörlich sprudelt und Leben ausschüttet, ein Leben parallel zu dem, vor dem man selbst geflohen ist oder das einem entflohen ist.
So etwas geschieht zuweilen anlässlich kleiner Alltagsdetails, zum Beispiel wenn ich nicht weiß, wie ich die Alte Brücke von Heidelberg beschreiben soll. Brücke heißt auf Arabisch djisr und ist maskulin. Was assoziiere ich damit? Soll ich an die zerstörte Hängebrücke von Deir ez-Zor denken, über die ich auf meiner Flucht aus Syrien gegangen bin? Dann würde ich meinen Text mit dem Geruch von Staub und Eisen beginnen und die Spuren beschreiben, die Revolutionäre auf ihr hinterlassen haben. Oder soll ich das Wort lieber zuerst ins Deutsche übersetzen: „die Brücke“, ein Femininum, das meine Erinnerungen austrickst und den Gegenstand der Beschreibung zu etwas Feinem, Zierlichen und Freundlichen macht? Warum nicht? Als ich das deutsche Wort „Brücke“ zum ersten Mal aussprach, zeigte ich dabei mit dem Finger auf ein Bauwerk, unter dem Süßwasser floss und auf dem keine Soldaten und Panzer verkehrten.
Bei solchen Szenen befühle ich die Assoziationen gleichsam mit der Hand, ich tauche sie ins Wasser der deutschen Sprache und habe dabei ein „jungfräuliches“ Erlebnis, das nur auf den Merkmalen des gegenwärtigen Augenblicks und seinen materiellen und psychischen Umständen aufbaut und im Widerstreit mit dem erinnerten Bewusstsein des Menschen steht. Ein Gedicht wie das von Khalil Hawi mit dem Titel „Sie überqueren die Brücke“ hat dann keine Möglichkeit mehr zu bestimmen, was ich über eine Brücke sage, wenn ich am Ufer des Neckar stehe und von Syrien genau 3.859 Kilometer entfernt bin.
Was Menschen erfahren, bezieht sich letztlich immer auf Erinnertes, und Sprache kommt von vergangenen Dingen, Orten und Ereignissen. Das Gedächtnis mit seiner Unbezwingbarkeit ist somit ein grundlegender Faktor bei der Herausbildung der Art und Weise unseres gegenwärtigen Empfindens der Welt. Es prägt nicht nur unsere heutige und zukünftige Perspektive, sondern auch unseren Blick auf die Vergangenheit, denn wenn wir an gestern denken und versuchen, die damit verbundenen Orte, Geschehnisse und Personen mit den Buchstaben und Worten, ja dem Satzbau einer anderen Sprache zu beschreiben, dann schaffen wir damit eine neu ausgerichtete Wahrnehmungsstruktur des Geschehenen und können es neu verstehen.
Das Gedächtnis hat eine enorme, ihm eigentlich nicht zustehende Macht, selbst wenn die Träger dieses Gedächtnisses beschließen, ihm die Legitimität ihrer Gegenwart aufzuerlegen und sich von seinen Fesseln zu befreien. Wenn ich versuche in einer Sprache zu schreiben, die mir ihre Geschichte nicht aufdrängt, dann geht es mir, Sohn der arabischen Zunge und auf ewig ihr Träger, darum, gegen mein Gedächtnis anzukämpfen. Ich könnte auch sagen: Ich versuche mit der Sprache Krieg gegen mein Gedächtnis zu führen.
Dieser Krieg der Sprache – jedweder Sprache – gegen das Gedächtnis hat auch etwas von einem Freiheitskampf.
Abdalrahman