Menu
Suche
Weiter Schreiben ist ein Projekt
von WIR MACHEN DAS

> Einfache Sprache
Logo Weiter Schreiben
Menu
(W)Ortwechseln > Abdalrahman Alqalaq & Katerina Poladjan > Ich begegne mir in der Kapsel - Brief 5

Ich begegne mir in der Kapsel – Brief 5

Katerina Poladjan an Abdalrahman Alqalaq, 29. März 2020

Schale auf einem Tisch. Foto: Henning Fritsch
Die Schale von Katerina. Foto: Henning Fritsch

Lieber Abdalrahman,

als Du die letzte Mail geschrieben hast, war die Welt noch eine andere. Ist es nicht eigenartig, wie schnell und geradezu geübt sich Zeitebenen verschieben können? Was ich mir gestern noch nicht vorstellen konnte, bekommt einen Umriss.

Bestimmt bist Du auch gerade in Deinem Zuhause, in das Du Dir eine Katze wünschst und biegsame, augenlose, ohrenfreie Wände, weil plötzlich ein Virus im Begriff ist, unseren Weltausschnitt zu verwirbeln. Auch ich bin in meinem Zuhause, das mir mit einem Mal als Kapsel begegnet. Anders: Ich begegne mir in der Kapsel.

Viele Gegenstände erscheinen mir in ihrer Nutzlosigkeit sehr traurig. Es gibt eine Keramikschale in meinem Zuhause, die steht auf einer Kommode im Flur. Die Schale hat mein Vater mir vor zwei Jahren geschenkt. Seit einiger Zeit wird er weniger, indem er Stück um Stück das, was er besitzt, verschenkt. Am Ende wird nur er übrig bleiben. Jetzt gerade begleitet mein Vater seine Lebensgefährtin, mit der er rund dreißig Jahre verbracht hat, in den Tod. Jeden Tag läuft er von seiner Wohnung in München zur U-Bahn am Marienplatz, dann fährt er eine Station zum Odeonsplatz und steigt um in eine andere U-Bahn, die ihn zum Arabellapark fährt. Dort wartet er auf den Bus und fährt ins Hospiz. Mein Vater sagt, die U-Bahn sei leer. Außerdem hat er mir versprochen, eine Atemmaske zu tragen auf dem Weg. Ich weiß, dass er es nicht tut. Jemand, der seit sechzig Jahren täglich fast zwei Päckchen Zigaretten raucht, trägt keine Atemmaske.

In dieser Schale befinden sich zwei Knöpfe, ein blauer Legostein, eine Figur (Maus/Ratte/Hamster) aus einem Überraschungsei, eine Handcremetube, eine Walnuss, die ich in einem armenischen Dorf in einem Rinnsal gefunden habe, ein handgesägter Kamm aus Nigeria, den mir vor ungefähr sieben Jahren eine Freundin zum Geburtstag geschenkt hat, die plötzlich den Entschluss gefasst hat, nicht mehr meine Freundin sein zu wollen. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum. All diese Gegenstände in dieser Schale haben überlebt. Aus irgendeinem Grund habe ich andere Gegenstände weggeschmissen, aber diese nicht.

Du fragst, ob die Sonne in meine Wohnung scheint. Ja, das tut sie. Meistens freue ich mich darüber. Ich mag die Bilder an Deiner Wand. Gedanken in alle Richtungen. Vielleicht sind diese Bilder an Deiner Wand wie die Gegenstände in meiner Schale.

Eben stehengebliebene Gedanken.

Katerina

Autor*innen

Datenschutzerklärung

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner