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(W)Ortwechseln > Abdalrahman Alqalaq & Katerina Poladjan > Ich bin ein Opfer meiner Gedichte – Brief 1

Ich bin ein Opfer meiner Gedichte – Brief 1

Abdalrahman Alqalaq an Katerina Poladjan, 06. März 2020

In Latakia am Strand. Foto: privat

Liebe Katerina,

nach unserem Treffen am 24. Januar hast Du mich in der Straßenbahn auf dem Weg zum Nordbahnhof gefragt, ob ich gläubig sei. Ich antwortete: „Ja. Aber nicht im Sinne meiner Religion.“

Ich bin zu egozentrisch, um zuzugestehen, dass ich nach dem Tod zum Nichts werde. Denn wenn ich mich der totalen Rationalität hingebe, widerspreche ich mir selbst und dem Sinn meines Lebens, nämlich meinen Gedichten.
Dass all meine Wörter, Gelüste, unerfüllten Träume und Gefühle, die ich jemals empfand und empfinden werde, zum Nichts werden … dass all das nicht mehr mir gehören soll, sondern nur irgendjemandem auf dieser Welt oder auch niemandem … nein.

Ich bin ein Opfer meiner Gedichte, meines Empfindungsvermögens.
Ich bin ein Opfer meiner emotionalen Intensität, meiner Sensibilität und meiner romantisierenden Welteinstellung.

Immer wieder frage ich mich: Was bin ich für ein Mensch? Mir wäre es am liebsten zu sagen: Ich weiß es nicht!

Unabhängig von ihren Eigenschaften haben Menschen sowieso Schwierigkeiten, sich selbst zu akzeptieren. Das hat viel mit dem Eigenen und mit dem Fremden zu tun. Ich weiß nicht, ob Akzeptanz nicht so eine Art idealtypischer Zustand, Teil einer Utopie ist!
Uns wird sehr früh beigebracht, zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Normal und Abnormal, Richtig und Falsch etc. zu unterscheiden, obwohl wir in der Kindheit und über die Jahre hinaus bis zur Pubertät nicht in der Lage sind, dies vernünftig zu differenzieren. Trotzdem musste ich diese Unterscheidungen treffen!
Es musste einen Teufel geben, damit es Gott geben konnte.
Es musste einen Ungläubigen geben, damit ich gläubig sein konnte.

Diese paradoxen Zusammenhänge und Unterscheidungen habe ich in meiner Kindheit auf Grund der religiösen, gesellschaftlichen oder ethnischen Tradition binär erlernt. Das fesselte mich jahrelang.
Ich hoffe und arbeite daran, dass ich mich eines Tages davon entfesseln kann.
Das Problem ist jedoch, dass es mir schwer fällt, mit meinen Paradigmen zu brechen, denn ihre Abwesenheit stellt einen Großteil meines Daseins in Frage.
Indem ich die binäre Weltanschauung breche und sage „ich bin gläubig, ungläubig und Agnostiker“, verliere ich an Stabilität.
Die Anarchie dieser Werte führt mich zur Unsicherheit.

Herzlich
Abdalrahman

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