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Zehn nach zwei

Maryam Mahjube (Pseudonym)

 

Weiter Schreiben Afghanistan, Zehn nach Zwei, Maryam Mahjube
© Morteza Herati

„Bitte schalten Sie die Klimaanlage ein!“ Wenn er den Fahrer darum bitten würde, würden alle anderen Fahrgäste entweder protestieren oder sich über ihn lustig machen, denn bei der Kälte um diese Jahreszeit hatten sie gegen das dicht gedrängte Sitzen nicht nur nichts einzuwenden, es war ihnen sogar sehr recht. Je dichter aber der Verkehr wurde, desto stärker geriet Hamed ins Schwitzen. Die Wärme kroch von seinem Nacken aus in seinen ganzen Körper, der erstarrte, sobald ein größeres Fahrzeug, mit Ziegeln befrachtet, neben ihnen zum Stehen kam. Hatte ein Lkw Benzin oder Gas geladen, umklammerte Hamed den Haltegriff über seinem Kopf fester und wandte sich seinem Sitznachbarn zu. Statt ihn aber anzulächeln und so zumindest seine Angst zu überspielen, schaute er grimmig und verstört zugleich. Um der Person neben sich keinen Anlass zu geben, ihn feindselig und weithin hörbar zu fragen, was er ihm denn getan habe, einen so grimmigen Blick zu verdienen, täuschte Hamed Interesse für die Ladengeschäfte und die Autos auf der anderen Straßenseite vor.

Je wärmer ihm wurde, desto deutlicher roch man im vollbesetzten Fahrzeug sein Rasierwasser, dessen Duft sich mit dem Gestank von Auspuffgasen, Benzin und Staub vermischte.

Unmöglich, dem Gedränge zu entrinnen … Nahm ein Lkw ihm die Sicht, wenn er zur linken Seite aus dem Fenster schauen wollte, wandte er sich nach rechts und musste dort zunächst über seinen Nebenmann, dann über einen weiteren Fahrgast hinwegsehen, bevor er durchs Fenster schauen konnte, nur, um auch dort vollbesetzte Fahrzeuge zu sehen, im Kriechtempo unterwegs, und Lebensmittelläden, die drinnen Reis und Speiseöl, draußen körbeweise Äpfel anboten, gelbe und rote, auch Granatäpfel und angenehm warm orangefarbene Apfelsinen.

Aus einem Grillrestaurant quollen Rauchschwaden nach auf die Straße, sie hatten das Aushängeschild des Cafés im Stockwerk darüber rußschwarz verfärbt.

Allmählich rückte das Silo in Sicht. Ein Bau so gewaltig, dass er den Berg hinter sich verdeckte. Das Gebäude hatte auch seit es zum Silo geworden war, unverändert dieselben Farben, Gelb und Weiß. Zwei Dinge hatte man hier bisher nie erlebt: erstens, das Silo in anderen Farben außer Gelb und Weiß und zweitens, dass Leute, die hier ihr Geld verdienten, kamen und gingen. Obwohl Hamed diese Strecke schon seit fast achtzehn Jahren hin- und herfuhr, hatte er nie jemanden gesehen und erst recht niemanden kennengelernt, der im Silo beschäftigt war. Dieser Gedanke beschäftigte ihn. Er holte tief Luft.

Er sah Menschen sich auf dem Gehweg drängen … Menschen aus Fleisch, Haut, Adern, Blut, voller Glück, Kummer, Wünschen, Gott – Säcke voll mit Blut. Menschen mit blaugrünen Adern und schwarzen Haaren und schwarzweißen, grünweißen, seltener blauweißen Augen … traurige Menschen, niedergeschlagen, tief verzweifelt, enttäuscht von einer Welt voller Hoffnung und glücklich über ein paar Fetzen Papier, die als Geld gelten. Menschen, die sagen, „Gott sei’s gedankt, uns geht es gut.“ Durchs Fahrzeugfenster betrachtet sah es so aus, als käme Männern und Kindern, jungen Straßenverkäufern Rauch aus den Mündern, als hätten alle Stadtmenschen in der Kälte Lust zu rauchen. Menschen, die vielleicht in den nächsten Sekunden oder Sekunden später gemeinsam mit Hamed und ihren Adern voller Blut, ihren Schädeln voller Hirn und Nerven, zerbersten …

Das Stück Käse, das er für morgen früh im Kühlschrank aufbewahrt hatte, würde dort bis morgen und für immer liegen, aber morgen früh würde nicht kommen, morgen wird nie kommen, und Hamed wird dieses Stück Käse nicht frühstücken und keinen süßen Tee dazu trinken. Wieder ist er nun achtundzwanzig Tage zur Arbeit und wieder nach Hause gefahren, in zwei Tagen wird er sein Gehalt bekommen, ja. Und aus reiner Dummheit werden hier draußen auf der Straße, im Auto, aus heiterem Himmel und ganz ohne Ziel und Sinn seine blutdurchflossenen Adern zerrissen, in zwei Tagen wird sein Gehalt auf sein Konto überwiesen …

Er suchte zunächst in der einen, dann in der anderen Hosentasche vergebens nach einem Taschentuch, griff in seine Jacke, fand ein türkisfarbenes, in einer Ecke mit einer kleinen roten Birnenfrucht bestickt, und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken. Das Tuch roch nach dem Rasierwasser, das er für dreitausend Afghani im Golbahar Center gekauft hatte, in einem winzigen Fläschchen. Randvoll mit Duftwasser, so wie die Menschen randvoll mit Blut und Wünschen sind.

Es gab kein Entrinnen … Es war nicht nur ein Gedankenspiel, nicht nur Gesprächsthema, das Sterben, in Stücke gerissen werden im Augenblick höchster Ahnungslosigkeit, größter Bestürzung. Was, wenn sein Sohn drogensüchtig würde oder auf der Straße Kaugummis verkaufen, seine Tochter betteln müsste, in diesem Land … „Bei dir, Herr, suche ich Zuflucht!“ Natürlich sind die vielen Bettler und Waisenkinder nicht vom Himmel gefallen. Sie sind Hinterbliebene. Zurückgelassen von Menschen, deren Lebenssaft zur Hälfte vom Staub aufgesogen, zur anderen Hälfte mit Wasser weggewaschen wurde, während man sie, ungewaschen, als Märtyrer auf den Friedhöfen beigesetzt hat, die bei weitem die meisten Gräber verzeichnen.

Der Himmel war blau und wolkenlos, ein leichter Wind kam auf, an einem jener Tage, an denen die Wintersonne wärmte, einem jener Tage, an denen man nicht sterben und auch keine Sekunde lang an den Tod denken mochte. Die Schulstraße war auch an diesem Wintertag belebt. Kleine und große Mädchen in weißen Tschadors und farbigen Westen, die den Schmutz ihrer Kleider halbwegs überdeckten, scharten sich um einen Zuckerwatteverkäufer. Die, die schon eine Portion ergattern konnten, hatten rosa Zungen und rosa Lippen. Kindheitserinnerungen waren mit dieser Zuckerwatte verbunden, bei der einem das Herz so dahinschmolz wie die unwiderstehliche Süße im Mund. Mütter hielten ihre kleinen Söhne an den Händen und brachten ihre kleinen Söhne zum Unterricht.

Nun hielt der Bus an der Schule. Während er ausstieg und die leichte Brise begrüßte, die seinen Schweiß trocknete, klingelte sein Telefon.

„Salam, Hamed, geht‘s dir gut? Bist du gut angekommen?“

„Salam. Ich bin gut angekommen, ja.“

„Auf der Pol-e-Tscharkhi-Straße gab’s eine Explosion. Ich wollte nur wissen, ob du wohlauf bist.“

„Zur Arbeit fahr ich nicht über die Pol-e-Tscharkhi. Gott schenke dir ein langes Leben. Danke für deinen Anruf.“

„Gott schütze dich.“

„Gott schütze dich.“

Er verabschiedete sich, betrat die Schule und sah Kaka Kheir Mamad eilig auf sich zukommen.

„Salam-o-Aleikum, Herr Direktor. Kommen Sie, heute macht mir jemand das Leben schwer. Er wartet hier schon seit dem ersten Ruf des Muezzins auf Sie. Herr Direktor, die Mädchen möchten uns verlassen. Der Vater hat die erforderlichen Papiere dabei, seine Töchter wollen die Schule wechseln. “Der Direktor fragte nicht: „Sind die Mädchen mit dem Unterricht oder der Lehrerschaft unzufrieden?“ In staatlichen Schulen erübrigten sich solche Fragen. Sie verletzten den Stolz und die Ehre dieser glanzvollen Orte. Die Privatschulen warfen sich ihrer Schülerschaft zu Füßen. Der Direktor wusste, dass niemand für guten Schulunterricht einen längeren Weg in Kauf nahm. Vermutlich war nun auch dieser Vater in ein anderes Stadtviertel gezogen. Ein Blick auf das Dokument in seiner Hand brachte Gewissheit. Ja, Rabia Balkhi. Die Familie war in den Stadtbezirk drei oder vier gezogen. Gern hätte er gefragt, ob sie zur Miete wohnten oder gekauft hatten, denn dem schäbigen Äußeren des Vaters der drei Töchter nach konnte Hamed sich kaum vorstellen, dass er ein Haus erworben hatte.

Kaka Kheir Mamad brachte Tee und dazu die Süßigkeiten aus dem Abschiedsgeschenk eines Schülers, der hier seinen Abschluss gemacht hatte. Dem Direktor waren sie noch gut in Erinnerung: rot eingewickelte Schokoladenhappen, mit Nüssen gemischt.

Jedes Mal, wenn die Tür zum «Direktorium» aufging, schlich sich der Geruch nach gebratenen Zwiebeln verlockend ins Zimmer und machte dem Direktor den Mund wässrig. Weshalb er schließlich fragte: „Was gibt’s zum Mittagessen, Kaka Kheir Mamad?“

Der antwortete mit einer Gegenfrage: „Was essen die Armen wohl, Herr Direktor? … Kartoffelcurry.“

Direktor Hamed überließ seinem Assistenten die Dokumente des Familienvaters und blieb allein zurück, als Kaka Kheir Mamad den Raum verlassen hatte. Nach dem Essen trank er Tee, wie stets, kam aber nicht zur Ruhe. Weshalb tat der Tee heute nicht so wohl wie sonst? Der Direktor fühlte sich verfolgt von einem Ungeheuer, das er deutlich spüren konnte, auch wenn es sich ihm nicht zeigte. Mit dem Anruf seiner Schwester war der Schreck ihm erst ins Herz, dann in die Glieder gefahren. Weshalb hatte sie so unverhofft angerufen und wissen wollen, wie es ihm ging? Obwohl sie wusste, dass die Explosion sich nicht auf seinem Weg zur Arbeit ereignet hatte. Ihre Frage weckte üble Ahnungen. Würde er auf seinem Heimweg einem Selbstmordattentat zum Opfer fallen? Dann hätte seine Schwester heute am Telefon zum letzten Mal seine Stimme gehört, sich zum letzten Mal nach seinem Befinden erkundigt. Spürte sie etwa, dass er den Tod finden würde? Aus seiner Angst wurde Wut, die bald blanker Panik wich. Starr schluckte er einmal kräftig, holte tief Luft. Wäre er Raucher gewesen, er hätte sich in diesem Augenblick gewiss eine Zigarette gegönnt. „Gott, steh mir bei!“, sagte er, stand vom Tisch auf und ging in den Hof. Die Wintersonne war angenehm lau, die Luft frisch und sauber genug, um sie einzuatmen. Er setzte sich auf eine Bank, schob mit seinen Schuhen kleine Steine hin und her, ohne zu merken, dass er mit den Kieseln spielte. Das Spiel war so sinnlos wie die Gedanken, in denen er völlig versank. Gedanken an die andere Seite der Stadt, die Frage, was die Toten von heute mit ihm zu tun hatten? Ob sie wohl gewusst hatten, dass sie heute sterben würden? Ob jemand sie gewarnt hatte: „Guten Tag, heute um acht Uhr dreiundzwanzig sterben Sie.“ Ob Details genannt wurden? „Neben Ihnen wird ein Wagen, beladen mit Sprengstoff noch unbekannter Art, plötzlich in Flammen aufgehen, und Sie werden darin umkommen.“ Ob die Betroffenen gar gesagt haben: „Soll der Wagen doch verbrennen, wir müssen ohnehin eines Tages sterben. Ihre Warnung war nicht sehr hilfreich. Sie hätten besser daran getan, zu sagen: ,Heute wird es wolkig.’ Sie hätten vorhersagen sollen, ob es um acht Uhr dreiundzwanzig regnen wird oder nicht. Der Tod ist uns allen gewiss. Wir fürchten ihn nicht. Was wir wirklich fürchten, ist, unsere Kinder als Waisen zurückzulassen …“

Hamed hob den Kopf, ließ den Blick schweifen, über den Garten, die kahlen, trockenen Bäume, den leeren Schulhof. Über die Jahre hin hatte er diesen Ort schon so oft gesehen, der Ort aber sah ihn heute erstmals so aufgewühlt. Er erhob sich und schaute auf die Uhr. Zehn nach zwei. Meist verließ er die Schule um halb drei. Warum spielte er heute mit dem Gedanken, zwanzig Minuten früher aufzubrechen? In welches Spiel war er hineingeraten? Wollte ihm jemand übel? Oder wollte gar eine wunderbare Kraft des Guten ihn dazu bewegen, sich früher als gewohnt auf den Weg zu machen? Nachher würde es heißen: „Er verließ die Schule immer um halb drei. Am Tag seines Todes aber ging er um zehn nach zwei, verdammt!“ Soll er jetzt gehen, nicht gehen …

Untold – Weiter Schreiben Afghanistan ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“. Dieser Text ist zuerst auf Englisch im Rahmen von „untold - Write Afghanistan“ erschienen.

Hier können Sie den Briefwechsel zwischen Maryam Mahjube und der Schriftstellerin Ilma Rakusa lesen.

 

 

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