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Das Erinnerungsfoto

Maryam Mahjube (Pseudonym)
© Samer Tabarachi / Titel: mirror mirror on the phone, Acryl auf Leinwand, 100 cm x 100 cm

O… Wie viele Stunden sind wohl vergangen, seit es hell geworden ist? Wie gut ich heute Nacht geschlafen habe! Um Gottes willen, immer noch dieser Lärm. Ich habe mich schon ein bisschen daran gewöhnt und fürchte mich nicht mehr allzu sehr. Aber anscheinend fliegen die Tauben und die Spatzen jedes Mal, wenn es eine Explosion gibt und der Knall durch die Häuser, Läden, Gassen und Baumkronen hallt, von ihren Zweigen auf. Daran kann man sich nicht gewöhnen. Immer ist nach einer Explosion das Flügelschlagen der Spatzen und Tauben zu hören. Die Fensterscheiben, die wissen, was sie zu tun haben, zittern bei dem Knall, sie passen auf und nehmen die Schallwellen auf. Hmm … Das erste Geräusch, das ich nach dem Aufwachen wahrnehme, sind die Guten-Morgen-Nachrichten meiner Freundinnen. Immerzu schnappt sich Zekiye, diese Tussi, mein Handy, um die Kamera zu benutzen. Ich habe mich nie für dieses Zeug interessiert, klick klick, Fotos machen, keine Ahnung, was das soll. Wozu bloß?

Ich weiß nicht, was meine Mutter sagt … Schon gut, schon gut. Ich soll meinen lieben Vater anrufen und fragen, wo er ist. Hoffentlich sind die Explosionen wirklich vorbei. Es passieren ja auch noch andere Dinge, so dass ich das Fernsehen anmache, um mich über die Umstände des Vorfalls zu informieren und dann zu entscheiden, ob ich mit meinem Vater telefonieren soll oder nicht. Außerdem ist es auch wichtig, ob es eine große oder kleine Explosion war und was für einen Schaden sie angerichtet hat.

Ich rufe meinen Vater an. Gott sei Dank geht es ihm gut, und mit den Explosionen ist Schluss. Ich habe Nāsi angerufen, um zu fragen, wo die Kleider sind, die ich anhatte, fünf Minuten später kommen sie an, und ich will auch aus dem Haus. Als meine Hand schon beinahe auf dem Türgriff liegt, ruft meine Mutter: „Geh heute doch bitte nicht weg! Die Lage ist so schlecht.“ Sicher hat sie die Nachrichten über den Vorfall gesehen. Die Lage ist jeden Tag schlecht. Was soll ich jetzt machen? Soll ich mich wegen der schlechten Lage zu Hause einsperren? Und versauern?

Es ist sehr angenehm, wenn frischer Wind weht. Ich gehe an den Bäumen von Kākā Rostam vorbei. Das ist ein Mann mit Geschmack. Er hat sein Leben den Blumen und Bäumen gewidmet. Wie ich kann er nicht ertragen, wie dürr und kahl Kabul ist. Seit die Straßen zubetoniert wurden, wässert und wäscht er die Gasse jeden Tag mit Hilfe einer Pumpe. Der Kombi, der da kommt, das müssen die Mädchen sein, denke ich, so lustig, wie sie sind, und sie sind es tatsächlich! Ich steige ein und mache die Tür zu. Parwāne beantwortet ihre WhatsApp-Nachrichten, Nāsi fragt, wohin sie uns bringen soll: In die Park Mall und zu einem Laden, in dem es handgenähte, einheimische Kleider zu kaufen gibt. Zekiye schießt ein Foto, sie lacht und macht ein Selfie. Diese Angewohnheit von ihr ist die nervigste Manie der Welt. Noch schlimmer ist es, wenn sie mich auffordert, zu lächeln: „Marie, lächeln! Marie … Komm her, Marie … Marie.“ Ach je!

 

Als wir nach dem Einkaufen zum Essen ins Restaurant gingen, wollte Zekiye unbedingt eine Wasserpfeife, und man brachte ihr eine. Nāsi quatschte die ganze Zeit von Anstand und Moral und sagte, dass sie unserer Persönlichkeit schadeten. Parwāne kaute ihr Brot. Nāsi teilte die Fleischtasche mit dem Löffel in zwei Hälften und fragte: „Na, Mädchen, habt ihr mitgekriegt, wo die Explosion heute war?“

Ich antwortete: „Ich war gerade erst aufgewacht. Ich glaube, es war nicht weit von unserm Haus.“ Dann trank ich einen Schluck Wasser.

Parwāne stand neben Zekiye, machte ein Foto und sagte: „Ich habe die Nachrichten nicht gehört, aber ich denke, es war näher bei uns. Unsere Scheiben haben gezittert.“

Zekiye schluckte ihren Bissen herunter, sah die anderen Mädchen an und meinte: „Jeden Tag gibt es so eine Nachricht. Irgendwann sind auch wir dran und niemand wird etwas von uns hören.“

Diese Bemerkung traf mich ins Herz, echt! Niemand erfährt etwas? Ich kriegte keinen Bissen mehr runter. Ohne es zu wollen, sagte ich laut: „Ich will aber nie drankommen!“

Parwāne sagte: „Wir haben auch nicht die Kohle, um ins Ausland abzuhauen.“

Zekiye erwiderte, während sie den Kopf über ihr Handy beugte: „Alle vernünftigen Menschen sind ins Ausland gegangen.“

Nāsi legte den Löffel beiseite, und während sie die Ellenbogen auf den Tisch stützte und die Finger verschränkte, fragte sie: „Das heißt, wir sind Dummköpfe, weil wir hiergeblieben sind?“

Zekiye grinste spöttisch: „Um hier zu bleiben, braucht man jedenfalls nicht viel Verstand.“

Darauf Nāsi: „Wenn nicht alle so dächten wie du, wären wir heute in einer anderen Lage.“

Und Zekiye: „Jetzt wird‘s aber patriotisch!“

Mein Handy lag auf dem Tisch neben dem Teller, eine SMS von Zekiye ging ein: „Poste doch einfach meine Fotos, dann stirbst du nicht!“ Während ich aufblickte und sie ansah, blinzelte sie mir zu und lächelte.

Nāsi sagte: „Ich kann es nicht glauben, dass es dir bisher egal war, dass die Leute sterben!“

„Ob es mir nun egal ist oder nicht, ich weiß, dass ich eines Tages selber getötet werde. Ja und?“, sagte Zekiye.

Nāsi runzelte die Stirn, holte tief Luft und entgegnete: „Wenn du mit Todesangst zu kämpfen hast, geh in eine psychiatrische Klinik.“

„Wenn eure Bürgerinitiative einen Psychiater hat, komme ich.“

Nāsi sah mich und Parwāne an. Zekiye machte Nāsi gegenüber immer spitze Bemerkungen, weil sie Mitglied in einer NGO geworden war, die es nicht schaffte, etwas zuwege zu bringen, außer Menschenleben zu opfern.

Parwāne lenkte ab: „Marie, was hast du eigentlich gekauft? Und du, Nāsi, was hast du genommen?“

 

Als wir aus dem Restaurant herauskamen, gingen wir auseinander. Das Wetter war klar und ruhig. Die Sonne brannte. Das Verkehrsgewimmel hatte auch abgenommen. Am frühen Nachmittag war es in Kabul immer so. Ich stieg in einen der städtischen Busse und schaute auf die Uhr, es war halb drei. Ich setzte mich neben zwei Frauen, die in aller Seelenruhe miteinander quatschten. Eine Frau mit großem Kopftuch und einem braunen Tschapan, einem knopflosen, vorne offenen Mantel, zeigte einer anderen, die in einen weißen Gebetstschador gehüllt war, Fotos. Auf dem einen Foto sah ich eine junge Frau, die etwas über zwanzig war und lächelte. Sie trug einen Hut und einen schwarzen Freizeit-Tschapan und hatte einen Blumenstrauß in der Hand. Die Frau mit dem dreieckigen Tuch auf dem Kopf vergoss Tränen und hielt sich dezent mit einem Taschentuch die Nase zu. Wie alt diese Frau wohl war? War ich ihr schon einmal irgendwo begegnet? Warum sahen sich die Gesichter aller Frauen nur so ähnlich, bei Gott …

Die Frau hielt sich weiter das Taschentuch an die Nase und sagte langsam: „Das war sie vor einer Woche.“

Die Frau im weißen Tschador fragte: „Hat deine Tochter für die Regierung gearbeitet?“

„Nein, sie kam in die Nähe eines Autos mit einer Sprengladung.“

„Wie geht es ihr?“

„Der Arzt sagt: Wenn sie am Leben bleibt, ist sie für immer gelähmt.“

 

Als ich aus dem Bus ausstieg, schaute ich zum letzten Mal die Frau mit dem dreieckigen Kopftuch an, sie vergoss die Tränen einer Mutter. Wenn ich eines Tages verwundet werden oder sterben sollte, welches Foto von mir würde meine Mutter dann wohl zeigen? Mit was für einer Aufnahme von mir würde meine Mutter dann an der Seite einer anderen Frau weinen? Würde dann an der Wand in der Diele ein Porträt von mir hängen? Gibt es im Familienalbum überhaupt Bilder von mir? Würde Zekiye an einem solchen Tag Fotos machen, und wären sie ihr dann immer noch so wichtig?

Die Straße nach Hause entlang rannte ich beinahe. Ich lief im Schatten der Bäume, und als ich an das Tor unseres Hauses kam, stand es offen. Ich ging in die Eingangshalle und achtete auf die Bilder an den Wänden: ein Bild des Großvaters, eins meines Vaters und mehrere von meinen drei Brüdern. Ich legte meine Tasche auf den kleinen Tisch, auf dem wie immer eine Kanne, ein Becher und eine Thermosflasche standen, und ging ins Zimmer meiner Mutter. Aus dem Kasten unter dem Kleiderschrank holte ich die Alben heraus. Es waren drei: zwei große und ein kleines. Schnell blätterte ich sie durch und fand Bilder aus meiner Kindheit, von meiner Mutter und meinem Vater, als sie noch jünger waren, von meinen Brüdern – aber von mir, als ich noch jünger und hübscher war, kein einziges Bild! Ich legte die Alben zurück.

Ich nahm meine Handtasche und rief meiner Mutter zu: „Ich habe was draußen zu tun, ich gehe jetzt, komme aber gleich zurück.“ Meiner Mutter gefiel es nicht, dass ich immer merkwürdige Dinge tat und nach meinen eigenen Vorstellungen handelte.

 

Ein paar Straßen weiter oben an der öffentlichen Wasserstelle ist ein Fotogeschäft. Neben den Lebensmittelläden, dem Fleischer, dem Schneider und dem Friseur. Ein Ort, an dem viele Autos vorbeifahren und wo die Bürgersteige gepflastert sind, aber an dem es keinen Baum gibt, der einen vor der Sonne schützt.

Ich guckte in die Schaufenster. Aufnahmen von jungen Männern und Kindern, Mädchen und Jungen. Wie viel Interesse die Leute am Fotografieren haben, wie viel Wert sie darauf legen, stumm und steif festgehalten zu werden und dort Jahre lang zu überdauern! Es gibt auch ein paar Bilder von indischen Schauspielerinnen, als ob der Urheber dieser Porträts der Inhaber dieses Geschäfts wäre! Der Fotograf kam heraus und fragte nach meinen Wünschen. „Ich möchte, dass Sie ein Bild von mir machen.“ Ich zeigte auf einen Bilderrahmen im Schaufenster: „In der Größe.“

Der Inhaber führte mich in ein Zimmer, in das kein Licht hereinschien. Ich konnte kaum glauben, wie sich dieses kleine Arbeitszimmer nur durch das Wegziehen eines Vorhangs in einen anderen Ort verwandelte. Der Fotohändler fragte mich, ob ich im Sitzen oder im Stehen aufgenommen werden wollte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich sah mich in dem Zimmer um. Als mein Blick auf einen Hocker fiel, sagte ich: „Im Sitzen.“ Der Fotograf stellte mir den Schemel hin, ich setzte mich und schaute geradeaus. Ich sagte: „Wenn das Foto fertig ist, komme ich es morgen abholen.“

Doch kaum war ich hinausgegangen, traf es mich wie ein Schlag: Und wenn es morgen nun zu spät sein würde? Wenn ich nicht einmal dieses eine Foto hätte, was dann? Ich kehrte wieder um und sagte: „Wenn es möglich ist, möchte ich das Bild doch lieber gleich mitnehmen.“ Er nickte, ja das ginge. Ich setzte mich und wartete. Als der Abzug fertig war, steckte er ihn in einen goldfarbenen Umschlag und gab ihn mir. Schnell sah ich mir die Aufnahme an. Wie hilflos und niedergeschlagen ich aussah. Als ob ich gesagt hätte: „Ich will noch nicht sterben!“ Wenn es doch möglich wäre, noch ein Foto zu schießen, aber jetzt ist keine Zeit. Ich muss nach Hause!

 

Seit einer Woche lasse ich jeden Tag eine Aufnahme von mir machen. Auf den Bildern bemühe ich mich zu lächeln. Mir ist so, als ob die Frau mit dem dreieckigen Kopftuch, die ich im städtischen Bus gesehen habe, gelächelt hätte. Meine Augen stimmen mit meinen Lippen und meinem Mund nicht überein und lächeln nicht mit. Ich ziehe nur die Mundwinkel hoch, doch mit den Augen kann ich nichts machen, ich kann sie nicht zum Lächeln bewegen! Auf einem anderen Bild stehe ich neben einer Vase mit einer künstlichen Blume, und es sieht alles so traurig aus. Als ich heute aus der Universität kam und zu dem Fotografen ging, kamen zwei oder drei Ladeninhaber aus ihren Geschäften heraus und musterten mich von oben bis unten. Zwei andere Leute flüsterten etwas. Heute bringe ich es nicht übers Herz, mich fotografieren zu lassen. Warum schaffe ich es nicht, auf den Fotos so auszuschauen, wie die anderen mich sehen sollen? Warum? Ich möchte ein Bild haben, auf dem die anderen, wenn ich eines Tages nicht mehr bin, sehen können, dass auf der Welt etwas fehlt. Ich möchte das schönste tote Mädchen der Welt sein. Ich möchte, dass sich nach mir die Erde, die Erde, ja, die Erde … anders dreht, langsamer oder schneller.

 

Ich komme wieder einmal mit einer neuen Aufnahme von mir nach Hause. Ich mache die Tür meines Zimmers hinter mir zu. Dann lege ich alle Fotos, die ich habe, nebeneinander. Auf der Rückseite des Umschlags von einem der Bilder steht die Nummer des Fotografen. Ich sehe mir alle Umschläge an. Auf der Rückseite von dreien steht dieselbe Nummer. Ich gehe zu einem Schiebefenster, das nach Westen zeigt. Ich ziehe den Vorhang beiseite. Der Abend ist voller Rauch, in der Luft hängt Staub. Eine sanfte Brise weht und die frischen, jungen Bäume in unserem Hof grünen und bewegen sich langsam im Wind. Die Sonne geht rot und orange unter. Ein Gefühl von Verlassenheit und Entsetzen brandet in meinem Herzen auf. Mit der rechten Hand umklammere ich den linken Arm, und das Foto, das ich in der Hand halte, fällt dabei zu Boden. Ich möchte mich festhalten. Ich fürchte mich davor, dass die Menschen, die in den hin und herfahrenden Bussen sitzen und vom Tode anderer Menschen hören, dennoch nicht aufstehen. Ich fürchte mich davor, dass in allen Wohnungen und Häusern Menschen sind, die dabei zuschauen, wie Gräber für die Toten gegraben werden, und doch ihr Obst und Gemüse waschen und in Körbe legen. Ich fürchte mich davor, dass die Menschen nach dem Geschehen so vieler Morde, Morde, Morde noch immer zur gleichen Zeit ohne Unterbrechung und ohne die geringste Änderung aufbrechen. Ich blicke auf das Bild, auf dem ich mich so sehr bemüht habe zu lächeln. Es ist auf die Wasserpfeife gefallen und auf die Umschläge, auf die mit blauem Kugelschreiber eine Telefonnummer geschrieben wurde. Ich denke daran, dass ich lebe, um zu sterben, oder dass ich einen Weg suche, um am Leben zu bleiben.

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