Catherine Deneuve sieht mir nicht ähnlich
Tote treiben keine Knospen und stellen keinen Aprikosensaft her, aber sie haben unendlich viel Zeit, eine Aussage wie „Catherine Deneuve sieht mir nicht ähnlich“ zu erklären. Die Tote bin ich.
Sie zerrten mich an jenem Tag nach draußen, an dem ich eigentlich mehr hätte wachsen sollen als je zuvor. Eine schwere Hand riss mich aus dem Schlaf. Ich konnte nicht gleich erkennen, zu wem sie gehörte. Die Hände in unserem Haus sahen alle erstaunlich gleich aus.
Dann legte mein Vater seine Hand auf meinen Mund und bedeutete mir mit seinen hervorstehenden Augen, keinen Laut von mir zu geben. Meine Mutter tauchte wie eine Schattenspielfigur hinter ihm auf und gab mir mit seltsamen Gesten zu verstehen, dass sie mit allem einverstanden war.
Mir kamen die Erzählungen meiner Tante in den Sinn. War ich vielleicht beim Schlafwandeln ausgerutscht und in eine ihrer fantasievollen Geschichten geschlittert?
In den letzten Tagen hatte mein Körper mit all seinen Teilen mein Denken beherrscht. Ich war wie eine Pappel in die Höhe geschossen und ragte auf meinem Platz in der Klasse immer mehr heraus. Keiner meiner Mitschüler konnte mit mir mithalten. Mein blondes Haar wuchs wie wilde Lilien.
Der kräftige Stoß, der mich in den Stall beförderte, war schrecklich genug, um genau in die Geschichte zu passen, die sich in meiner Fantasie entspann.
Nach dem Verhör im Stall, das bis zum Morgengrauen dauerte und meine Eltern davon zu überzeugen schien, dass ich unberührt war, wurde ich sofort in die Praxis der Frauenärztin gebracht. Sie nahm meiner Geschichte mit Worten, die ich damals nicht verstand, kaltblütig die Spannung: „Sie ist ziemlich früh dran mit der Menstruation …“
„Bis jetzt warst du ein kleines Mädchen und noch nicht wirklich verantwortlich für deine Taten, doch jetzt setzt dir Allah zwei Engel auf die Schultern, die alles, was du tust, genau beobachten werden.“ Während meine Mutter diese Worte sagte, legte sie ein Tuch auf meine blonden Lilien. Mein Körper erschauerte unter dieser Kopfbedeckung und gab in diesem Moment die Absicht auf weiterzuwachsen. Das geschah an jenem Tag, an dem ich der Größe von Catherine Deneuve hätte näher kommen sollen.
Meine Mutter kehrte zu ihrer täglichen Arbeit in der Landwirtschaft zurück, ohne mir zu erklären, wie ich den Blutfluss zwischen meinen Beinen dämmen sollte. So nahm ich das erstbeste Stückchen Stoff, das mir in die Hände fiel – einen Strumpf mit dem Geruch von verdorbenem Käse.
Meine erste Geschichte endete damit, dass man mich mit den beiden dummen Engeln allein ließ, die nun die ganze Zeit auf meinen Schultern saßen, Sonnenblumenkerne kauten und ihre Nasen in die intimsten Bereiche meines Körpers steckten. Dann versandten sie verlogene Berichte, die jedoch kaum einen nennenswerten Einfluss auf mein Leben hatten – bis zu dem Tag, an dem ich das süße Leben der Studenten kennenlernte und darüber die Landwirtschaft vergaß. Und damit begann meine zweite Geschichte.
* * *
Ich fühlte mich immer als Bäuerin, die ihre Freizeit mit Vorlesungen füllte. Das sprühende Leben aus den Büchern war versteckt in meinem Denken eingelagert. Es kam mir vor wie ein Feuerwerk aus der Hochzeitssaison, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hatte. Ich sprach über dieses Leben nur, wenn die anderen Studierenden und ich debattierten und mit unserem Wissen prahlten. In Gedanken bereitete ich mich aber schon darauf vor, meine Schüler damit zu beeindrucken, falls ich einmal das Glück haben sollte, eine Stelle als Lehrerin zu erhalten. Doch dann forderten mich ein paar Kommilitonen auf, einem Filmklub beizutreten, und meine Zukunftspläne zerschlugen sich.
Von den drei Filmen, die ich zu sehen bekam, strengte mich „Belle du Jour – Schöne des Tages“ von Luis Buñuel am meisten an. Luis Buñuel, der stille Beobachter, schaute verstohlen auf meinen Körper und ließ in den erotischsten Szenen seine Blicke zwischen mir und Catherine Deneuve hin und her wandern. Dabei entdeckte er, dass Catherine Deneuve mir sehr ähnlich war.
Da beschloss mein Körper, doch weiter zu wachsen. Die heiligen Gebote meiner Mutter für die Verhaltensweisen eines Mädchens kümmerten ihn nicht mehr. Ich zeigte auf meine zu kurz gewordenen Hosenbeine und zwinkerte Buñuel zu: „Kaum zu glauben, welchen Einfluss das Kino auf die Physiologie hat!“
Catherine Deneuve wäre mir sehr ähnlich gewes…, wenn die beiden Engel auf meinen Schultern nicht ihren Sicherheitsbericht an meinen Vater geschickt hätten. So zerrte er mich mitten aus dem Kreise meiner Freunde heraus in den Suzuki, während sich ein Organ meines Körpers zu wehren begann und alle anderen Organe sich diesem einen anschlossen.
„Du verdirbst den Film … der Versuch ist noch nicht zu Ende“, rief Buñuel und bedeutete mir, auf meinen Platz zurückzukehren.
* * *
Hätte die DVD nicht wie ein Geldstück in der Lehmfurche gefunkelt, wäre der Tag, an dem der Verkäufer des aleppinischen Zatar-Gewürzes zu uns kam, ein ganz normaler Donnerstag gewesen. Die Bauern der Ghuta waren gerade dabei, schmale Rinnen zwischen den Auberginensetzlingen zu ziehen, als sie plötzlich aus ihren Gärten zuammenliefen und auf den gewundenen Weg durch die Gärten zeigten, die hinter den Pappeln und Weiden lagen:
„Der Zatarverkäufer ist da, der Zatarverkäufer ist da.“
Trotz der weiten aleppinischen Hose und der bestickten Kopfbedeckung war er leicht zu erkennen: Seine großen, hervortretenden Augen verrieten den stillen Beobachter. „Woher in aller Welt weiß Buñuel, wo ich mich aufhalte?“, dachte ich und überlegte davonzulaufen.
Während er Zatar und Lorbeerseife gegen Walnüsse eintauschte, versuchte er, die „Belle de Jour“-DVD in die Tasche meiner Dschilbab zu stecken. Doch sie fiel herunter und funkelte wie ein Geldstück in der Lehmfurche. Einer meiner Onkel bemerkte den Skandal und richtete die Unkrautspritze auf Buñuel. Die anderen Bauern folgten dem Geschehen mit Erstaunen, hielten sich jedoch nicht lange mit Fragen auf und kamen sofort zu der Einschätzung, dass es sich hier um ein Ehrenverbrechen handelte, dem man auf diese schnelle und einfache Weise begegnen musste. Die aufeinanderfolgenden Spritzer brachten Buñuel zu Fall; er wand sich wie ein Wurm und hauchte zwischen den reifen Setzlingen sein Leben aus.
Die Ghuta erzitterte, als Buñuel samt seinen Kinofiguren verschied. Seiner Seele folgten Fahnenträger und Sammler von Altertümern, Sufis und Masochisten, Chronisten von angeblichen Ruhmestaten und Trommler, Klagende und Lobpreisende, Poeten und Propheten, Prostituierte und Figuren aus Schwarzweißfilmen. Die Menge dehnte sich aus, bedeckte bald die Ghuta und bewegte sich in Richtung Kafersouseh, Mazzeh und Rukun Eldin.
Inmitten all dieses Geschehens überkam mich eine seltsame Faszination. Mein Körper gab sich ihr hin und begann zu wachsen wie ein märchenhafter Farn. Catherine Deneuve, deren Schulter die meine berührte, fasste mich an der Taille und drückte sie leicht. Dieses Mal hätte sie mir tatsächlich sehr ähnlich gesehen, wenn mich nicht ein paar Hungrige in ein Allradauto mit einer Tonne Ghuta-Auberginen gezerrt hätten, aus denen sie auf die übliche Weise Makdus herstellen wollten, indem sie die Auberginen zunächst kochten und dann das Wasser herauspressten.
Sie legten sich diese Vorräte in dunklen Kellern an. Aus den Menschen, die aus Versehen zwischen die Ghuta-Auberginen geraten waren, kam jedoch kein Wasser, sondern Blut, was nicht anders zu erwarten war … Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt erwähne.
Zu „dieser Nachtzeit“ – diese Zeitspanne borge ich mir von Shakespeare, weil sie die unerwartete und doch seit langem geplante Tat, das Ertränken des Opfers im Weinfass offenbart –, zu dieser Nachtzeit also wurden die Leute im Keller in einer roten Flüssigkeit ertränkt. Ich hörte leises Stöhnen aus dem Inneren der Erde, die mit schlaffen Körpern und erloschenen Augen bedeckt war.
Während Catherine Deneuve auf meinen vom Hidschab befreiten Kopf und auf meinen nackten Körper zeigte und darauf bestand, dass wir uns ähnlich sähen, füllte das Blut die Lücken zwischen den Körpern, vermischte sich und wurde zu einem Menschenmus, das den Boden des Kellers bedeckte. Ich sah mir dabei zu, wie ich mich von meinem Fleisch und Blut trennte. Von allem übrig blieb nur eine Nummer, die man mir gegeben hatte – am Tag, an dem mir Catherine Deneuve nicht ähnlich sah.