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die ungegossene

Samuel Mágó
Zeichnung einer Frau am Straßenrand mit Schirm bei Regen. Zeichnung Csaba Nemes
Zeichnung: Csaba Nemes (2017)

wenn es regnete, roch es hier nach kanal, nicht nach frühling. hier gingen die menschen nicht schlafen, sondern arbeiten. außer die straßenkehrer. die kehrten meist zu früh von der arbeit nach hause zurück, weil sie dachten, der regen würde ihre arbeit machen. wenn sie keine arbeit mehr hatten, schliefen sie im regen. auch sie rochen nie nach frühling, nur nach kanal. zigaretten waren hier billig, wenn nicht sogar kostenlos. sofern man das risiko der tuberkulose in kauf nahm, rauchte man die stummel derer, die nicht schliefen oder es eilig hatten, zur arbeit zu kommen, und ihre zigarette an der bushaltestelle auf die straße geworfen hatten. zu spät kommen wollte hier keiner. dafür waren die jobs, bei denen sie – wie man hier zu sagen pflegte – nur knöpfe verdienten, zu kostbar. so saßen sie reihenweise auf ihren sitzen und starrten wie die schaufensterpuppen aus dem fenster, während die taschen der straßenkehrer sich mit stummeln füllten.

hier schmeckte das leitungswasser nach chlor und arsen, das mineralwasser nach nichts. hier kauften die großmütter auf dem markt diese eine paprika – egal wie teuer sie war –, die der suppe ihren geschmack verlieh. in der nacht hörte man die sirenen durch die dünnen wände der plattenbauten kreischen und die betrunkene frau ihrem betrunkenen mann morddrohungen ins ohr heulen. auch wenn es nicht regnete, empfahl es sich hier, auf der straße unter einem regenschirm zu gehen, weil die bewohner der oberen stockwerke gerne ihre zigarettenstummel vom balkon fallen ließen, während sie noch brannten. die regenschirme hatten hier wohl deshalb so viele löcher – und so viele besitzer.

die fahne, die neben der nationalflagge auf dem zweiten mast hing, war früher rot mit einem stern in der mitte. heute ist sie blau und aus dem einen stern sind viele geworden. nach außen hin hat sich viel verändert, doch insgeheim wusste jeder, dass fast alles gleich geblieben war. Die menschen, die häuser, die politiker, ihre politik. heute war es wieder erlaubt, über politik zu diskutieren, aber man wollte nicht mehr. es ergab keinen sinn mehr. um die menschen scherte sich hier keiner, und selbst wenn man sich aufregte, besser wurde es dadurch auch nicht. es war egal, ob sie sich kommunisten, bolschewiken, arbeiter, demokraten, nationalisten oder radikale nannten. am ende waren sie alle wie die straßenkehrer. sie kehrten meist zu früh von der arbeit nach hause zurück, weil sie dachten, der regen würde ihre arbeit leisten. nur steckten sie sich statt zigarettenstummeln milliarden in die taschen. dafür mussten sie lediglich die neue blaue fahne auf dem zweiten mast hissen.

hier lag dicht neben den zigarettenstummeln feuchter dreck auf der straße und müll rund um die leeren mistkübel. rund um die kanalgitter staute sich hier das wasser in tiefen lachen, nicht im kanal. auf den verregneten straßen glänzte nichts mehr außer die straßen selbst. das grüne pflaster änderte die farbe, wurde orange, blinkte und wurde wieder rot. und manchmal ging eine ungesund dicke frau samt einem glitzernden leoparden oder tiger vorbei, der in china oder bangladesch mit strasssteinen auf ihr t-shirt gedruckt worden war. sie schleppte sich dann trotz des regens durch die gegend, stets ohne eile. man hatte ihr gesagt, dass sie beim laufen mehr tropfen abbekäme als beim gehen. schließlich musste sie auf ihren hohen blutdruck achten – und ihr herz. ein andermal fuhr ein mann in einem frisch lackierten, funkelnden bmw vorbei, aus dem er laute musik dröhnen ließ, damit die, die schliefen, aufwachten und hörten, was es für ihn bedeutete, reich zu sein. die ungesund dicke frau schimpfte ihm dann hinterher, weil er durch das stehende wasser gefahren war und sie noch nasser gemacht hatte als die regentropfen. sie brüllte ihm hinterher, als wäre sie zum wilden tier auf ihrem t-shirt geworden. er solle in die genitalien seiner hurenmutter zurückgehen. die anderen passanten wunderten sich nicht, weil man das hier eben so machte.

im siebten stock eines plattenbaus wohnte die kakerlakenfrau und der mädchenjunge. beide wurden nach ihren mitbewohnern benannt. die eine nach ihrem ungeziefer, die andere nach ihrer freundin, die sie eine entfernte cousine nannte. alle wussten, dass sie das nicht war, aber der mädchenjunge schämte sich dafür, anders zu sein. man durfte hier nämlich einiges nicht. man durfte arm sein, man durfte früher von der arbeit nach hause zurückkehren, man durfte sich beeilen, man durfte zigarettenstummel zu ende rauchen, man durfte betrunken morddrohungen aussprechen, man durfte wieder über politik diskutieren, man durfte sich milliarden einstecken, man durfte fluchen, glitzern und protzen, nur eines durfte man unter keinen umständen: das sein, was andere als anders bezeichneten.

trotzdem waren hier viele anders. anders war man hier, wenn man eine dunklere hautfarbe hatte. für die mit einer dunkleren hautfarbe war man als heller anders. anders war man auch, wenn man an einen anderen, an viele oder an gar keinen gott glaubte. drei an der zahl waren in ordnung, aber auch nur dann, wenn man sie vater, sohn und heiliger geist nannte. man war hier auch dann anders, wenn man nicht gehen, sehen, hören, sprechen, lesen oder schreiben konnte. wenn man geschieden war oder getrennt, wenn man zu viele oder eben zu wenige partner hatte. dann war man natürlich auch anders, wenn man als frau frauen liebte und als mann männer. großmütter, großväter, mütter, väter, tanten, onkel, töchter, söhne, enkelinnen und enkel waren hiervon natürlich ausgenommen. anders waren eben alle anderen. und wer anders war, beurteilten meist die alten frauen, die auf den pawlatschen tratschten oder die jungen männer, die sich die köpfe rasierten und zwei achter auf den nacken tätowieren ließen. von liebe sprach man hier selten, las man jedoch häufig. obwohl viele nicht wussten, dass die vier buchstaben „love“, die auf ihr t-shirt oder handtuch gestickt waren, in wahrheit genau das bedeuteten. manche lasen das auch auf polstern und werbetafeln von fastfoodketten und dachten, es hieße vielleicht geld – doch was es wirklich hieß, wussten die wenigsten. und wohl noch weniger, was es bedeutete. so schaute man hier telenovelas aus mexiko und der türkei, um das zu erleben, was man liebend gern gelebt hätte.

im siebten stock, gegenüber von der kakerlakenfrau und dem mädchenjungen hatte eine frau gewohnt, die kein bisschen anders war. zumindest nicht, dass man wüsste. sie hatte ihr leben lang nur einen mann geliebt, eine tochter mit ihm gehabt, seit seinem tod keinen anderen geliebt und auch erst danach angefangen zu arbeiten – als sekretärin im ministerium, wo auch ihr mann gearbeitet hatte. dort blieb sie, bis ihre arbeitszeit zu ende war, und meldete sich nur dann krank, wenn sie im krankenhaus lag. solange sie hier lebte, war auch ihre tochter nicht anders gewesen. anders wurde sie erst, nachdem sie nach deutschland gezogen war. dort liebte sie frauen. braune frauen noch dazu. doch ihre mutter – die frau, die kein bisschen anders war – hatte das kein bisschen gestört. und das hatte sie dann vielleicht doch ein bisschen anders gemacht als die, die es störte. die tochter war vielleicht anders, doch sie kannte die bedeutung der vier buchstaben nicht nur aus rosalinda und süleyman.

als die tochter dieses ostern nach hause zurückkehrte, hatte sie die frau mitgebracht, die sie liebte, um sie der frau vorzustellen, die sie lieben durfte. noch am tag bevor sie ins flugzeug gestiegen waren, hatte sie gefragt, was sie ihr aus deutschland mitbringen solle. sie hatte nicht damit gerechnet, ihre mutter heute tot neben der waschmaschine vorzufinden. die obduktion ergab, dass sie an einem lungeninfarkt gestorben war, wahrscheinlich abends, während des zähneputzens, der zahnbürste auf dem boden und den brennenden lichtern nach zu urteilen. die tochter wusste nicht, was sie machen sollte. sie blieb kurz starr, dann schrie sie ihre mutter an. minutenlang versuchte sie, sie zu wecken, doch nicht einmal die hupe des mannes aus dem funkelnden bmw hätte das geschafft. selbst die ungeküssten küsse und unausgesprochenen mahnungen der mutter kratzte sie jetzt vergeblich von ihren lippen. dann hatte die ärztin sie für tot erklärt und die sanitäter sie abtransportiert. ihren geruch hatten sie in der wohnung gelassen. in diesem großen, dunklen kasten, in dem ihre kleider gehangen hatten. hier, wo jetzt ihre tochter hing – an ihren letzten fetzen. dem geruch von geburt, kindheit, strafe, küssen. sie machte sich die kohlsuppe aus dem gefrierfach warm. die letzte kohlsuppe ihrer mutter. die tochter hatte keinen hunger und kohlsuppe schon immer gehasst. wie sehr wollte sie das der mutter jetzt sagen, um sich anhören zu können, dass man sie essen müsse, weil sie gesund und gut sei für die nieren und die haut. die braune frau schlief im hotel. die tochter schlief in der wohnung der mutter, im gang gegenüber von der kakerlakenfrau und dem jungemädchen. hier, wo die frau gewohnt hatte, als sie noch jemand war, der nicht schlief. die tochter wollte jetzt auch schlafen, konnte aber nicht.

am ostersonntag blieb die tochter der kirche fern. am ostermontag machte sie die tür nicht auf, obwohl viele läuteten und klopften. denn hier gingen die männer und burschen am ostermontag gießen. von haus zu haus, zu jedem, den sie kannten, sagten ein gedicht auf und begossen die frauen und mädchen mit einigen tropfen wasser oder parfum. damit sie nicht verwelkten, so wie ungegossene blumen. die frauen und mädchen blieben zu hause, kochten und warteten auf sie. zum lohn aßen die männer pogatschen, osterschinken, krautrouladen und mohnstrudel. und die frauen hörten in jedem haus, dass ihr essen das beste sei, und wuschen sich tagelang den gestank von chanel no. 5 und victor hugo aus den haaren. früher hatten es hier alle so gemacht, heute nicht mehr so viele. deshalb konnte man kaum sagen, ob man anders war, wenn man es so machte, oder nicht. die tochter war zwar zu hause geblieben, doch sehen wollte sie keinen. vergossen hatte sie selbst den ganzen tag so einige. auch wenn sie es vermisste, neben ihrer mutter zu stehen, während die männer „darf man gießen?“ fragten und sie „ja“ antwortete und sich bückte, blieb die wohnungstür der mutter heute zu. sie saß in der küche, sah auf ihre topfennudeln hinunter, die sie schnell zubereitet und dann nicht angerührt hatte, und fuhr mit der planung der beerdigung fort. aus dem telefonbuch der mutter hatte die tochter mit jeder ziffer und zahlenreihe gesprochen. immer wieder dasselbe gesagt. immer wieder dasselbe gehört. sie machte es, weil man es hier eben so machte.

am tag der beerdigung beschwerten sich die menschen über das schwüle wetter und den sonnenschein. sie hatten ihre löchrigen regenschirme umsonst mitgenommen. die tochter beschwerte sich nicht mehr. nicht darüber, dass die braune frau frühzeitig nach deutschland zurückgereist war, ohne sich zu verabschieden. nur darüber, dass die frau, die sie geliebt hatte, frühzeitig gegangen war und sich auch nicht verabschiedet hatte. der halbe plattenbau war gekommen: straßenkehrer, schaufensterpuppen, großmütter vom markt, die betrunkene frau mit ihrem betrunkenen mann, kommunisten, bolschewiken, arbeiter, demokraten, nationalisten und radikale aus dem ministerium, die ungesund dicke frau, der mann im bmw, die kakerlakenfrau, und sogar der mädchenjunge mit seiner cousine. sie umarmten die tochter, die alleine neben der urne und einem alten foto ihrer mutter in der friedhofskapelle stand. man fühlte sich mehr wie auf einer mieterversammlung, als auf einer beerdigung. man hörte sich vom priester an, wie der tag des todes einen auch schon morgen ereilen könne und dass man jesus christus, dem erlöser, für jeden tag dankbar sein müsse. vor allem die drei straßenkehrer weisz, libmann und steiner – alte schulfreunde der mutter – nickten dabei zustimmend, dass ihnen beinahe der nichtvorhandene schabbesdeckel vom kopf rutschte. als worte wie gemeinschaft und nächstenliebe fielen, hörte man am sportplatz – der bloß einige meter von der friedhofskapelle entfernt war – fußballer über mütterliche genitalien und söhne von huren schreien. und sogar jetzt wunderte sich niemand darüber.

der schiefe kirchengesang eines untalentierten mittelalten chorjungen war zur freude aller anwesenden zu ende gegangen, der bestattungswagen fuhr los. er führte das trauervolk, begleitet von einem italienischen schlager, zur grabstelle. die tochter stand allein neben dem offenen grab, in dem ihr vater und ihre großeltern lagen. zwischen den gesichtern der anwesenden erkannte sie zwei burschen, die am ostermontag stets vorbeigekommen waren. mit sicherheit hatten sie auch dieses jahr geklopft, und der tochter wurde jetzt bewusst, dass sie niemals wieder gegossen werden würde und ihre mutter wohl noch weniger. der priester hielt einen behälter mit weihwasser in der hand, während er sich dem grab näherte. die tochter war sich sicher, glasklar gehört zu haben, wie er fragte, ob er gießen dürfe. sie nickte leise. er hob die hand und goss die mutter zum letzten mal.

hatte man gedacht, dass man hier nur über der erde anders sei und unter ihr nicht mehr, hatte man sich geirrt. denn selbst hier lag man geordnet. danach, ob man eine dunklere, oder hellere hautfarbe hatte. ob man an einen anderen, an viele oder an gar keinen gott geglaubt hatte. ob man sehr jung oder sehr alt, sehr arm oder sehr reich gewesen war. gemeinsam hatte man hier allerdings auch einiges: man arbeitete nicht mehr, man eilte nicht mehr, man rauchte nicht mehr, man kochte nicht mehr, man trank nicht mehr und drohte nicht mehr mit mord, man diskutierte nicht mehr über politik, man steckte sich weder millionen noch zigarettenstummel ein, man fluchte nicht mehr, und man glitzerte und protzte nicht mehr. und selbst der regen und der geruch nach kanal war hier jedem egal. wahrscheinlich war nicht einmal mehr wichtig, neben wem man hier lag. denn hier konnte man endlich liegen. hier konnte man endlich schlafen.

das wort „love“ bedeutet auf romanes „geld“.
rosalinda und süleyman sind beliebte telenovelas aus mexico und der türkei.

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Samuel Mágó Olga Grjasnowa

Samuel Mágó & Olga Grjasnowa

Samuel und Olga schreiben Sätze, die so klar und dabei so humorvoll sind, dass erst ihr Nachklang verrät, wovon sie eigentlich erzählen: Davon, wie es ist, einen Standpunkt zu haben, in Zeiten, in denen dieser Standpunkt Leben kosten kann.

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