Homs, die Stadt der Feste
Der Soldat, der unsere Personalausweise einsammelte, fragte nach unserem Woher und Wohin und verschwand dann in seinem Wachhaus. Zwei andere durchsuchten das Taxi und das Gepäck. Alles war verdächtig. Wir waren verdächtig. Die Worte, die wir sagten, die Luft, die wir ausatmeten. Der Soldat kam nach einer Viertelstunde mit den Ausweisen zurück und rief unsere Namen auf. Unsere Namen und unsere Herzen flatterten wie Geflügel, das gerade geschlachtet wird. Der Soldat ergötzte sich an der Furcht in unseren Augen und verhörte uns ein zweites Mal: Warum habt ihr gemeinsam ein Taxi genommen, woher kennt ihr euch und wie gut kennt ihr den Fahrer? Was wollt ihr in Homs? Wir versuchten so neutral auszusehen wie Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen. Die Minuten schlichen dahin.
Wir durften weiter. Wie ein Waisenkind, das sich nach der Umarmung seiner Mutter sehnt, fuhr unser Auto durch die Straßen der sanften Stadt. Ich hoffte, wenigstens die Schatten meiner Bekannten zu sehen, mit denen ich früher zusammengelebt hatte. Doch wir fanden keine Menschen, und Schatten warfen nun die Trümmer: Gebäude mit eingestürzten Dächern, die sich übereinander häuften wie Torten, auf die ein riesiges Ungeheuer getreten war. Zementblöcke hingen an Eisenstäben, überall herausgerissene Fenster. Die Wand einer Küche war nach einem Luftangriff stehen geblieben und eine Mutter, die vielleicht gerade das Mittagessen für ihre Kinder zubereitet hatte, hinterließ einen Umriss auf ihr.
Wir blieben stehen und stiegen aus. Unter Schichten von Staub ein Teil von einer Puppe, ein Arm, ein Rumpf, ein Teil von einem Aufgabenheft und von einem Schulbuch, Geschichte; der Wind und die Gegenwart haben sie zerfleddert. An einem Strick hing Kleidung, die wie die Seele eines Sterbenden im Wind flatterte, getrocknete Blutreste auf den Steinen. Geschäfte, geplündert und leer, die Erinnerung an die Stimmen von tüchtigen Verkäufern und streitsüchtigen Kunden. Zu hören waren aber nur die Klagen der Belagerten aus der Tiefe der Erde, die schwer an dem Unheil trug. In den verlassenen Häusern wucherte das Gras. Kriegsflugzeuge hatten sie in Gräber verwandelt, die mit den Leichen ihrer Bewohner schwanger gingen.
Gestern waren sie noch hier gewesen. Gestern waren sie nach Jahrzehnten finsterer Nacht auf die Straßen geströmt, um Freiheit und Gerechtigkeit zu fordern, und gestern wurden sie zu einem Teig aus Fleisch und Erde gemacht, zur Freude von Skorpionen und Schlangen. Die vom Blut betrunkenen wilden Blumen und die Oleandersträucher erzählen die traurigen Geschichten. Sie schwärmen von dem Frühling, der früher hier vorbeigekommen war, und klagen darüber, was aus ihm geworden ist.
Ruß hat das Gesicht von Homs mit einem Schwarz gefärbt, das blind macht. Die Erinnerung hält unsere Augen offen. Wir erinnern uns an die Seelen derer, die die Stadt verlassen haben oder das Land oder das Leben. Das Echo ihrer Stimmen in unserem Gedächtnis. Homs, die Sanfte, Homs, die Frohe. Homs, eine Stadt gewebt aus Witzen und Gelächter, Güte und Gastfreundschaft, Warmherzigkeit und Leidenschaft, Homs, mit ihren Frühlingsfesten, mit dem "verlorenen Donnerstag", mit dem "Scha'nuna- Donnerstag", dem "verrückten Donnerstag", dem "Donnerstag der Katzen", dem "Donnerstag der Pflanzen" und dem "Donnerstag der Toten" bis hin zum "Donnerstag der Scheichs".
Diese sieben Donnerstage von Februar bis April sind heilige Tage, an denen man den Frühling und die Halawa feiert. Sie fallen in die Zeit des großen Fastens orientalischer Christen. Das schönste Fest ist der Donnerstag der Toten, im christlich-orientalischen Kalender auch "Donnerstag der Mysterien" genannt. Die Einwohner von Homs nennen ihn liebevoll "Donnerstag der Süßigkeiten". Dieser Tag wird in Homs von Muslimen und Christen gleichermaßen gefeiert. Alle beten für das Seelenheil ihrer Verstorbenen, legen Holundersträuße auf die Gräber und verteilen Halawa.
Wohl jeder Homsaner erinnert sich an die farbenfrohen Bilder vom Halawa-Donnerstag aus seiner Kindheit, die den traurigen Festen im Nachhinein einen Geschmack von Zucker verleihen. Vielleicht besteht gerade darin das Geheimnis von Homs, das selbst in den schlimmsten Augenblicken seines Leids freigiebig und prächtig erscheint.
All diese Tage gehören der Vergangenheit an: der verlorene Donnerstag, ein Tag, an dem sich Winter und Frühling vermischten, der Scha‘nuna-Donnerstag, an dem das Wetter milder wurde, der verrückte Donnerstag, an dem der Wind durchdrehte, der Donnerstag der Katzen, an dem ihre Paarungszeit begann, und der Donnerstag der Pflanzen, an dem die wilden unter ihnen ihre Blüten öffneten und die Leute sich das Gesicht mit aus Blüten gewonnenem Wasser wuschen. Das war zugleich der Tag, an dem ein Stein in den Brunnen der Zitadelle geworfen wurde. Hörte man seinen Widerhall beim Aufplumpsen, würde das Glück groß sein, hörte man nichts, dann bliebe es einem versagt.
Am Donnerstag der Scheichs, dem letzten der Homser Donnerstage, versammelten sich die Würdenträger der verschiedenen islamischen Orden in Prozessionen. Von Flaggenträgern angeführt und von Musikern mit Tamburins, Trommeln und Zimbeln begleitet, zogen sie durch die Straßen von Homs von Baba Amr bis nach Khalidiya. Am Donnerstag der Süßigkeiten bereiteten die Homsaner aus Zucker, Mehl und Sesam die verschiedensten Arten von Halawa zu: ganz normale Halawa, Baschmina, Khubzia, Schuschiya, Simsimiya, Raha, Balaat al Dschanna und viele mehr. Sie waren köstlich und nicht teuer und daher auch bei armen Leuten beliebt. In unglaublicher Fülle wurden sie vor den Geschäften zur Schau gestellt. Die riesigen rot-weißen Kegel zogen die Blicke aller Kinder auf sich. Die Erwachsenen kauften große Mengen davon und verteilten sie zusammen mit Brot und Eiern an die Armen und die Koranrezitatoren mit der Bitte, für die Seelen der Toten zu beten.
Der Krieg hat alle Traditionen, Feste und Freuden begraben. Die Bewohner hatten ihr Glück gesucht und den Stein in den Brunnen des Regimes geworfen. Sie begannen eine Revolution, um die Diktatur zu stürzen, doch die Götter der Zerstörung überfielen sie mit hysterischem Beschuss. Sie machten all ihre Tage zu Totendonnerstagen ohne Frühling und Halawa.
Jetzt wandeln wir Überlebenden durch die zerstörte Stadt und sehen selbst wie Leichen aus. Immer, wenn mich ein Lächeln überkommen will, breche ich in Tränen aus.
frei bearbeitet von Saša Stanišić
Der Text wurde zuerst in der Kolumne 10nach8 auf ZEIT ONLINE veröffentlicht.