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Ein langes und ein kurzes Bein

Freshta Ghani (Pseudonym)
© Naseer Turkmani, Generation des Krieges, Schwarzweiß-Fotografie,  Aufnahme westlich von Kabul, Afghanistan.

Er war noch im Halbschlaf, Licht drang schon durch seine Augenlider. Er fror, wickelte sich in seine Decke, rückte näher an seine Mutter und schmiegte sich in ihre Arme. Einen Moment später hörte er einen Schrei. Er lag gar nicht in den Armen seiner Mutter, sondern hatte sich an seinen Bruder geschmiegt. Sein Bruder stieß ihn zurück und warf ihn auf sein Kissen.

Seine Mutter lag etwas abseits und starrte ihn an. Er senkte den Blick. Sein Bruder und seine Mutter tauschten Blicke und brachen dann in Gelächter aus. Sie begannen, sich über ihn lustig zu machen. Er schloss kurz die Augen, dann musste auch er lachen und ging ins Bad. Er wusch sich Gesicht und Hände und zog sich an. Sie mussten sich beeilen, um in die Schule zu kommen. Schon bald darauf rannten sein Bruder und er zur Tür hinaus. Die Mutter rief ihnen nach: „Ich habe euch Essen in die Brotbüchse getan. Esst es auch!“ Wie mit einer Stimme riefen beide zurück: „In Ordnung, Mama!“

Die Jungen stiegen in das große weiße Auto, das vor dem Haus stand und in dem ihre Klassenkameraden schon warteten. Lachend kamen sie in der Schule an und stellten sich wie immer in einer Reihe auf. Musawwar stieg als Erster auf die Bühne, sechs andere Jungen, die wie er für die Gesangsgruppe ausgewählt worden waren, gesellten sich zu ihm. Singen gefiel ihm in der Schule am meisten. Als ihr Gesang verklungen war, stiegen sie von der Bühne hinab und reihten sich in die Schlangen ein, um in ihre Klassenzimmer zu gehen.

In der ersten Stunde stand Mathematik auf dem Plan. Musawwar mochte Mathematik nicht besonders und so zählte er die Minuten bis zur zweiten Stunde. In der Zeichenstunde nahm Musawwar Stifte, Farben und ein leeres Heft aus der Schultasche und zeichnete einen Cartoon über seinen Freund Parwin, den Klassenbesten, in dem er sich ein bisschen über ihn lustig machte. Seinem Freund gefiel das gar nicht und er rief den Lehrer. Der Lehrer maßregelte ihn, Musawwar senkte verschämt den Kopf und nickte.

Als die Pausenglocke läutete, schrien die Jungen und Mädchen durcheinander und vergnügten sich. Musawwar hatte Hunger und nahm seine Brotbüchse aus der Tasche. Seine Mutter hatte ihm Bratkartoffeln und gekochte Eier mitgegeben. Parwin riss ihm ein Ei aus der Hand und zertrat es mit seinen Schuhen. Musawwar rannte aus dem Klassenzimmer, um einem Lehrer zu sagen, was Parwin gerade getan hatte, doch im Korridor war niemand zu finden. Er schaute nach draußen, aber auch auf dem Schulhof waren nur seine Kameraden zu sehen, die Ball spielten. Er lief weiter und fiel zu Boden. Plötzlich ein lautes Geräusch, Schüsse, Geschrei, Glasscheiben zerbrachen. Einige Kinder warfen sich neben dem Sportplatz auf den Boden. Ein Junge lag mit dem Kopf auf einer Treppe. Musawwar spürte etwas Schweres auf seinen Beinen. Es war ein großes Stück Eisen. Er schloss die Augen.

Dann hörte er keine Stimmen mehr. Er öffnete die Augen wieder und sah Kinder, in deren Köpfen Glasscherben steckten, aber ihre Schreie hörte er nicht. Ein Mädchen, das im Korridor stand, flüchtete aus seinem Blick. Jemand hob ihn in einen Krankenwagen. Er hörte nicht einmal die Sirene. Als wäre er taub geworden.

Im Krankenhaus herrschte großes Gedränge. Eine junge Frau stürzte zu Boden und fiel in Ohnmacht, als sie ihren Sohn sah. Seine Mutter kam ohne Schleiertuch und mit offen wehendem Haar angelaufen. Er hatte sie noch nie so unordentlich gekleidet gesehen. Sie kam an sein Bett und fragte ihn vollkommen durcheinander, ob er wisse, wo sein Bruder sei. Keiner hatte ihn gesehen. Musawwar auch nicht.

Er spürte die Glücksengel nicht, die ihm abgetrenntes Fleisch entfernten und Medizin auftrugen. Im Fernsehen waren rote Balken zu sehen. Die Eilmeldungen liefen oben und unten auf dem Bildschirm entlang: „Explosion an einer Privatschule in der Gegend des alten Mikrorayon von Kabul“. Seine Lider waren schwer. Seine Mutter saß mit roten Augen an seinem Bett. Ihre Augen waren viel kleiner als früher. Er schaute sich um. In den meisten Betten schliefen Kinder, an jedem Bettende saß eine erwachsene Person. Zwei Betten neben sich entdeckte er Parwis. Seine Augen waren fest mit einem weißen Tuch verbunden, als hätte er Blinde Kuh gespielt. Musawwar zitterte.

Parwis war nicht zugedeckt. Seine Hände waren wie seine Augen mit weißen Tüchern verbunden. Die Arme waren viel zu kurz. Es waren keine Hände mehr dran. Schnell drehte er sich weg und schaute auf seine eigenen Hände. Sie waren noch da, aber auf einmal spürte er einen stechenden Schmerz.

Er schrie auf: „Mama, meine Beine …!“

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

Dann setzte er erneut an: „Mama, was ist mit meinen Beinen passiert?“

„Hast du Schmerzen? Der Arzt kommt gleich.“

„Mama, warum ist mein eines Bein lang und mein anderes kurz?“

Mit totem Blick schaute seine Mutter zu Boden.

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