War der zweite Krieg im Sudan (1983–2005) vermeidbar?
von Stella Gaitano
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Nach Jahren der Auseinandersetzungen zwischen der Militärdiktatur der sudanesischen Zentralregierung und Rebellengruppen im Süden des Landes brach 1983 der Krieg aus. Die Ursachen waren vor allem eine schlechte politische und soziale Situation, eine Unterentwicklung als Hinterlassenschaft der Kolonialherrschaft sowie Konflikte um Land zwischen Viehzüchtern und Bauern, die auch einen ethnischen Charakter annahmen. Die Regierung in Khartum betrachtete den Sudan als ein arabisch-islamisches Land und ignorierte alle anderen Identitäten. Die Südsudanes*innen forderten ihrerseits Gerechtigkeit für ihr Gebiet und eine Anerkennung der Vielfalt des Sudan. Das historische Unrecht gegen marginalisierte Volksgruppen sollte wiedergutgemacht und Demokratie und Selbstbestimmung für das südsudanesische Volk garantiert werden.
Der Krieg dauerte 22 Jahre und galt als der längste Bürgerkrieg Afrikas. Mehr als zwei Millionen Menschen wurden getötet und weitere Millionen vertrieben. Eine der bedeutsamsten Folgen war schließlich die Abspaltung des Südsudan im Jahr 2011.
Ich war drei Jahre alt, als dieser zweite Krieg in meinem Land ausbrach (der erste hatte 1955 getobt). Meine Mutter erzählt bis heute von einem dunklen Himmel, der von Granaten erleuchtet wurde, aber ich erinnere mich an nichts dergleichen. Die Kindheit hat mich gerettet, indem sie mich vergessen ließ; vielleicht war es aber auch nur der Schock, der machte, dass mir das Gesehene entfiel.
Aber wenn ich den Krieg vergessen habe – hat auch er mich vergessen? Der Krieg hat etwas grundlegend Gerechtes: Er vergisst einen nicht, gleich wie weit man fliehen mag oder wie gut man sich unter den Fittichen einer kindlichen Unschuld vor ihm versteckt. Zwar habe ich den Kriegsausbruch vergessen, aber darüber hinaus erlebe ich ihn seit einer Ewigkeit. Ich wüsste gerne, was ich gedacht und was ich mir vorgestellt habe, als er begann. Vielleicht hielt ich den wechselseitigen Beschuss für Sterne, die vom Himmel fielen und die ich auffangen könnte, um sie in meiner Hand schimmern zu sehen. Vielleicht hatte ich auch Angst, dass sie heiß wie Glut sein könnten. Ich weiß es nicht mehr. Sicher ist nur: Meine Mutter muss alle Schrecken dieser Welt durchgemacht haben, während sie uns in jener Nacht im Süden des Sudan zu beschützen versuchte.
Heute weiß ich, dass das gar nicht geht. Eltern können ihre Kinder nicht vor Krieg schützen. Ich habe es später selbst erlebt, als ich Mutter war und wieder ein Krieg begann. Am liebsten hätte ich meine Kinder verschluckt!
Unsere Kriege sind hartnäckig. Sie verfolgen einen durchs ganze Leben. Der eine Krieg mag ausbrechen, während man selbst noch im Mutterleib ist, und man mag fühlen, wie die eigene Mutter vor ihm flieht und wie ihr Herz schneller schlägt, während sie sich und ihr Ungeborenes in Sicherheit bringt. Den nächsten Krieg erlebt man vielleicht als Kind, man spielt unschuldig mit Granatenresten und überlebt nur durch Glück, während andere Kinder mit verlorenen Gliedmaßen durchs Viertel spazieren. So streckt der Krieg einem die Zunge raus und erinnert einen daran, dass niemand vor ihm sicher ist. Als Jugendliche*r erlebt man dann schon den nächsten und wird prompt in ihn hineingezogen. Man macht sich Gedanken über den Krieg, man spricht über ihn oder kämpft sogar darin und begreift, dass man in jedem Moment sterben kann. Und überlebt man den einen Krieg, wartet der nächste, wenn man selbst schon Vater oder Mutter geworden ist, und die Qual, die eigenen Kinder nicht beschützen zu können, wird unerträglich. Ich jedenfalls konnte meine Kinder nicht vor den Schrecken ihres ersten Krieges bewahren, und wie viele diesem folgten, kann ich nicht mehr sagen.
Von einer Lehrerin der Schule, in die mein zwölfjähriger Sohn hier in Deutschland geht, erfuhr ich neulich, dass er in einem Referat, das er über den Sudan hielt, davon sprach, wie schön im Sudan alles sei. Aber am Schluss sprach er vom Krieg und musste weinen.
Der Krieg vergisst niemanden.
Wäre der zweite Krieg zwischen uns Sudanes*innen nicht gewesen, hätten wir dann nicht weiterzählen müssen? Wäre er vermeidbar gewesen? Wie viele Gelegenheiten gab es nicht, ihn durch Verhandlungen zu stoppen! Aber Starrköpfigkeit siegte über Diplomatie. Es war vor allem dieser zweite Krieg, der mich beschäftigt, weil ich mit ihm aufwuchs und er mein Schicksal bestimmt.
Als ich zehn Jahre alt wurde, war der Krieg sieben Jahre alt. Er gebärdete sich wild, gewaltvoll und richtungslos. Zwar lebte ich in Sicherheit in der Hauptstadt Khartum, doch im Süden, aus dem ich stammte, verschlang der Krieg das ganze Land.
Meine Mutter trug in jener Zeit Schwarz, aus Trauer um ihren Bruder und ihren Vater, aber auch aus Trauer um ihr ganzes vom Krieg zerstörtes Leben. Diese Trauer vererbte sie uns Kindern und wir gewöhnten uns an sie, und so war unsere Jugend eine Zeit der Trauer und des Krieges. Selbst Fernsehen und Radio waren davon geprägt, so dass es für uns Kinder weder Trickfilme noch Kinderlieder gab. Wir wuchsen in dem Bewusstsein auf, dass Krieg Entbehrung bedeutet.
Mit dem Krieg wurde ich groß und er mit mir, und er wurde zu einer Mauer zwischen dem Norden und dem Süden des Sudan, die mein Bewusstsein prägte. Ich war in diesen Krieg geworfen, der sich zwischen den beiden Teilen meiner Heimat abspielte, und irgendwann musste ich mich für eine Seite entscheiden.
Ich entschied mich für die Angst und die Trauer meiner Mutter, machte sie mir zu eigen und wurde so zu einer entschiedenen Kriegsgegnerin. Mein Schutzschild wurde das Schreiben, und indem ich schreibend vom Krieg erzähle, setze ich mich über das Lagerdenken und das Narrativ von Angreifern und Opfern, von Siegern und Besiegten hinweg. Stattdessen lenke ich den Blick auf das Leid der Opfer, in deren Augen sich die Niederlage aller Menschlichkeit spiegelt.
Vor jedem Krieg gibt es eine letzte Gelegenheit, ihn zu verhindern. Aber in welchem Krieg befinden wir uns im Sudan heute? Im achten? Im zehnten? Ich kann es nicht sagen. Kriege pflanzen sich fort. Im Schatten des einen entstehen weitere, und so erlebt jede neue Generation ihren eigenen Krieg. Der Krieg ist auf seine Weise gerecht.
Einzelne können einen Krieg ebenso entfachen wie Gruppen. Stoppen könnte ihn nur die Solidarität der gesamten Menschheit. Wir alle gehen denselben Weg und demselben Schicksal entgegen. Haben wir nicht überall auf der Welt Erinnerungen an kurz oder weit zurückliegende Kriege?
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Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Höchste Zeit für Imagination" am 25. September 2024 im Deutschen Historischen Museum.
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