Die Löwenzahnblume
von Rasha Habbal
Aus dem Arabischen von Günther Orth
Ich habe viele Gesichter,
schrieb eine Löwenzahnblume in ihr Tagebuch.
Die unterschiedlichsten Frauen wohnen in mir:
Kriegerinnen
Zauderinnen
Mütter
Weise
Huren
Nom, nom, Khanom …
… und ein Mädchen, das sich sein Haus auf eine Wunde tätowiert hat.
Verrückte Frauen wohnen in mir,
sie streiten in meinem Kopf,
bis meine Augen ausbrechen wie ein Vulkan.
Das Geschrei fließt mir heiß übers Gesicht
und ich werde zu einem Bach,
der in die Tiefe fließt,
wo Frösche quaken
und Körper ihren jeweils eigenen Tanz lernen.
Wie ein nasses Vögelchen im Morgenregen zittern wir
vor dem gleißenden Licht der Liebe mit ihrem Endlosgrün.
Jeder Vogel erbt die Angst vor Jägern und Käfigen,
wir aber trauen der Sonne und dem Wald.
Ich wachse am Rand, aber je weiter du in die Mitte gehst, desto mehr siehst du von mir,
schrieb die Blume in ihr Tagebuch.
Freiheit ist eine Voraussetzung für Leben
und seine ewige Falle.
Ich presse meine Hand auf mein Herz,
denn ich bin bewohnt von
Ängstlichen
Verschreckten
Fliehenden
und Verstoßenen.
Wir tun, was wir können,
aber die Furcht ist so beständig
wie das Leben
und von ihr kommen wir.
So herrlich stehe ich in der Sonne, dass ich alles vergesse,
bis der Wind mich in dutzende kleiner Namen zerstreut,
schrieb die Löwenzahnblume in ihr Tagebuch.
Ich heiße Rasha Habbal.
Beruf: Verkauf von farbenfrohem Lächeln an Schlangen von Erschöpften.
Besondere Merkmale: Sichtbare Identität und amputierte Zunge.
Meine Hobbys: Worte ausleihen
von Rebellen,
die sich in geheimen Räumen in mir ungestört vermehren,
da, wo es keinen Herrscher gibt und keine Beherrschten,
keinen Bedrücker und keine Bedrückten,
keine politischen Parolen,
keine heiligen Bücher
und wo wir nicht behaupten, es gebe Gerechtigkeit und Freiheit.
Wir versuchen es nur.
Wir zahlen den Preis mit
verletzenden Worten und amputierten Zungen, aber
wie man NEIN schreibt und schreit,
das vergessen wir nie.
NEIN
NEIN
NEIN
NEIN
Ich sehe um mich herum
Völker und Stämme.
Sie alle sind ich,
ich bin ein Teil von ihnen.
Erschöpft lächeln wir.
Jeden Frühling werden wir trotz allem irgendwo geboren. Wir leben nur einmal, wenn auch immer wieder,
schrieb die Blume in ihr Tagebuch.
Spiegel sind nicht nur dein Widerschein, sondern dein drittes Auge.
In mir wohnen tanzende Menschen,
die Spiegeln glauben
und keine Angst vor Augen haben.
Jeder ihrer Körper hat etwas zu sagen,
und ich folgte ihren Schritten
Ich stammelte
tanzte
stolperte
tanzte
weinte
tanzte
fürchtete mich
tanzte
bis ich sah, dass das, was ich sagen wollte,
von meiner Haut triefte
wie sauberer Schweiß,
der im Licht glänzt.
In der Trockenheit welken wir dahin,
schrieb die Löwenzahnblume in ihr Tagebuch.
Die Liebe duftet nach einem Wald im Regen,
nach Wurzeln,
nach dem Lehm der Tage
und dem dichten Gras von Gelächter.
Liebhaber wohnen in mir
und flüstern mir ins Gesicht.
Was für eine Ruhe!
Sie soll uns hier vergessen.
Wir haben unser Zuhause gefunden.
Warum eigentlich, Gott?
Wenn wir für Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit beten,
antwortest du nur mit Galgen,
an denen man uns an der Zunge aufhängt!
Wie sollen wir dich denn bitten?
Woher nimmst du all die Grausamkeit?
Wir öffnen unsere Hände, so weit wir können,
doch sie reichen kaum für einen einzigen Schrei,
der von einer abgeschnittenen Zunge fließt,
die ein Zuhause sucht.
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Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Turning Tables" am 5. Mai 2024 im Brücke Museum Berlin.
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