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Der Kuss der Medusa

© Ali Ghandtschivon Soroush Mozaffar Moghadam

Aus dem Persischen von Sarah Rauchfuß

1.

Ich bin nach Berlin gekommen, um das Deutsche Historische Museum zu besuchen. Gerade habe ich mir die Überreste der Mauer angesehen. Ich reise durch die Zeit, schaue und lese, spaziere an den Bildern vorüber. 1979 (!), dem Jahr der Islamischen Revolution im Iran, steht die Mauer der Angst und des Schweigens noch und über den sozialistischen Ländern geht die Sonne nicht auf. Nachdenkliches Verweilen vor Honeckers und Breschnews „sozialistischem Bruderkuss“:

Ein "Medusenkuss", Inbegriff der Verschränkung des Sozialismus der Sowjetunion mit der DDR und auch der Versteinerung der Systeme, hier auf Beton festgehalten. Honecker schießt seine Worte aus dem Fernsehbildschirm: Diese Mauer wird in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen bleiben. Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf! Wie haben zwei Männer eine ganze Nation trennen können? Vielleicht mutmaßten die Mauerbauer, das sozialistische Imperium sei zu instabil und brüchig und müsse daher von Zeit und Raum getrennt werden; vielleicht wollten sie der kollektiven Erinnerung und gemeinsamen Vergangenheit den Kampf ansagen. Oder Honecker und seine Genoss*innen glaubten, durch die Abkapselung einer ganzen Gesellschaft könnten sie jeglicher Möglichkeit zum Wandel vorgreifen.

Mauern gelten vielerorts als Wahrzeichen der Unvergänglichkeit, als Schutzdämme gegen den Zerfall; Küsse sind die Wahrzeichen der Liebe. Die Mauer und der Kuss verneinen einander auf abstruse Weise, wird diese Mauer doch dreißig Jahre lang Küsse und die Gelegenheit zur Verbindung verwehren. Der liebevolle Kuss verkehrt sich hier in sein Gegenteil.

Vor mir tut sich eine unsichtbare Tür auf: Ich betrete einen weiteren Abschnitt der bereits gelebten Zeit. Mit einem alten Koffer und in einem zerschlissenen Mantel überquere ich die Karl-Marx-Allee. Auf einem Platz in der Nähe die stumme, starre Statue Lenins mit niedergeschlagenen Augenlidern und Schnee auf den Schultern und Armen. Den Kragen hochgeschlagen läuft mein anderes Ich zur nächsten U-Bahn-Station. Ich sage: In Ostdeutschland wird das Eis niemals schmelzen! An der Station sehe ich junge Männer und Frauen, blasse Kinder, ältere Menschen. Ich suche nach meinem Pass. Ob man uns wirklich passieren lässt? Flüsternd, mit Blicken oder Kopfbewegungen übermitteln die Leute einander Botschaften. Die Stimme des Grenzkontrolleurs lässt den Faden meiner Fantasie abreißen.

Zurück im Museum, vor dem nächsten Bild: Die Leute sind auf den Straßen, die Mauer bröckelt. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn die Umstände in diesem Jahr andere gewesen wären. Hätte die Sowjetunion noch über ihre frühere Macht verfügt, wäre Honecker nicht zurückgetreten? Und wenn anstelle Gorbatschows Breschnew oder Andropov noch im Amt gewesen wären, was dann? Die Leute wären sicherlich dennoch auf die Straße gegangen, in ihrer Vorstellung war das Konzept der Mauer bereits eingerissen. Der Prager Frühling, das Anrollen der russischen Panzer: Vielleicht hätte sich dieses Szenario in Berlin wiederholt. Alles muss zu seiner Zeit und am richtigen Ort passieren, damit ein historischer Prozess zum Abschluss kommt. Unwillentlich ist Gorbatschow zu einem der Helden in der Geschichte geworden, die mit dem Fall der Mauer endete. Und der Mythos vom Volk? Hätte das Volk nicht gegen das Vergessen und sein Symbol, die Mauer, revoltiert, hätte sich kein Held hervortun können und die Mauer stünde noch. Die deutsche Revolution: Eine Allegorie von den Flutwellen der Erinnerung wider das Vergessen.

 

2.

Die Windfahnen klagen, dunkler Staub steigt über den Horizonten auf. Ein alles verschleiernder Wirbelwind ist unterwegs. Tausend verschlingende Hände und Münder malmen, zerreißen, zerkleinern. Aus Geflüster wird Geschrei. Zerstückelte Körper und eine dichte Masse verstümmelter, menschlicher Gliedmaßen wirbeln in diesem umgedrehten Trichter und werden tausende Meilen weit geschleudert. Hinter einem Trümmerberg Fallgruben und tiefe Gräben. Ob man in dieser blindmachenden, duckmäuserischen und kleinlauten Nacht verweilen kann, bis der Sturm vorübergezogen ist? Ob sich irgendwo Zuflucht finden lässt?

Ich versetze mich nach Teheran. Der Schah hat das Land verlassen und eine ansteckende Unruhe greift um sich. Jemand kommt, trägt einen Turban auf dem Kopf anstelle einer Krone. Frohe Kunde, der iranische Gandhi ist auf dem Weg! Der gottgesandte Khomeini, mit grimmiger Miene und durchdringendem Blick. Auf der Schah-Reza-Straße sind die Banken halb ausgebrannt, die Kinos und Spirituosenläden geplündert, Leute eilen hin- und her; ewig gleiche Szenen des Revolutionsstücks, das im Tumult der Gassen und Straßen geboren wird.

Ich denke an das letzte Bild des Schahs, am Teheraner Flughafen, zerstreut inmitten des kleinen Kreises seiner Vertrauten und Generäle. Einige Generäle küssen ihm die Hand, einer versucht kniend den Schah aufzuhalten. Alle wissen, ein Zurück wird es nicht geben. Vielleicht denkt der Schah in diesen Augenblicken an die Nacht im Januar 1978 zurück, als er Carter empfangen hatte und beide die Gläser klingen ließen, auf ein glückliches neues Jahr. Carter lobte überschwänglich den Verstand seines Gastgebers, zu einer „Insel der Stabilität“ habe er den Iran gemacht. Aber der kühle Blick des Präsidenten hatte nicht zu seinen enthusiastischen Worten passen wollen.

Von den Straßen Teherans zurück ins Museum; gegenüber ein großes Bild von einem friedlichen Demonstrationszug, Sommer 1989. Wieder denke ich an die Revolution im Iran. Was, wenn Khomeini damals gestorben wäre? Ermordet schon vor der Revolution durch den iranischen Geheimdienst in seinem Exil in Nadschaf oder Paris. Oder durch den Plan des Premierministers Schapur Bachtiar, das Flugzeug mit ihm und seinen Gefolgsleuten abstürzen zu lassen. Welche Richtung hätte die Geschichte des Landes wohl genommen? Hätten die Leute sich den Messias nehmen lassen, der ihnen bereits verkündet worden war? Wären die islamischen und linken Radikalen noch in der Lage gewesen, das Regime zu stürzen? Wenn die Generäle geputscht hätten, was dann? Krieg und Flucht? Ein Blutbad? Eine Ära der Grabesstille und dann die Funken der nächsten Revolution? Khomeini starb 1989. Hätte sich die Revolution im Iran zehn Jahre später ereignet, hätte sich das Problem von selbst gelöst. Vielleicht hätte das Konzept der friedlichen Revolution Eingang in die Geschichte Irans gefunden. Müssen denn grundsätzlich immer Menschen sterben? Die verborgene Hand der Zeit rückt auf dem Schachbrett des Lebens viele Ereignisse zurecht. Die Menschen auf der Straße in Teheran wissen nichts von der Realität des Kalten Krieges. Russische Panzer dringen in ebenjenem Jahr in Afghanistan ein, in dem in Iran die Herrschaft von einem Schah an einen autoritären Religionsführer übergeht. Wieder geht die Furcht vor dem russischen Sozialismus um. Viele hielten die Religion für den stärksten Widersacher des Kommunismus im Iran und im Nahen Osten. Dann preschte auf den Wellen des Kalten Krieges das tausendköpfige Ungeheuer der Islamischen Revolution vor und fegte alles hinfort. Die Mauer der Diktatur fällt, die Mauern der religiösen Tyrannei werden errichtet. Die Verschiebung der Zeitpunkte verändert die Form der Ereignisse. Zehn Jahre früher oder zehn Jahre später?

 

Weitere Texte von Soroush Mozaffar Moghadam

Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Höchste Zeit für Imagination" am 25. September 2024 im Deutschen Historischen Museum.

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