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Europa Weiter Schreiben - Briefe > Omar Kaddour & Widad Nabi > Das Schmerzgedächtnis - Brief 1

Das Schmerzgedächtnis – Brief 1

Widad Nabi an Omar Kaddour, Berlin, 25. August 2022

Übersetzung: Larissa Bender Aus dem Arabischen

Bild von einem Schatten einer Frau mit Kind © Widad Nabi
© Widad Nabi

Lieber Omar,

während ich Dir schreibe, kommt es mir vor, als würde ich mir einen Schrei verbeißen oder als wäre ich ein Krake, der seine drei Herzen auf einmal ins Leere wirft.

Du wirst Dich vielleicht fragen, warum ich auf den Vergleich gerade mit diesem Wesen komme. Vielleicht, weil diese schönen Tiere ein ideales Schmerzgedächtnis haben. Sie sind in der Lage, die Orte zu meiden, an denen sie zuvor Leid erfahren haben – selbst wenn die Quelle ihres Schmerzes dort nicht mehr existiert. Das sagen zumindest die Wissenschaftler.

Alles wird in dem Gefäß gespeichert, das man Gedächtnis nennt, und nichts, aber auch gar nichts, geht daraus verloren und wird vergessen.

Während des Schreibens schaue ich von Zeit zu Zeit auf meinen schlafenden, drei Monate alten Säugling und frage mich: Werde ich jemals den Wunsch und die Kraft haben, ihn in unser Land zu begleiten? An jenen Ort, an dem ich so viel Schmerz erlitten habe?

Acht Jahre sind vergangen, seit ich das Land verlassen habe, und ich fühle mich wie ein Krake, der sich weigert, den Ort noch einmal aufzusuchen, der die Quelle all seiner Schmerzen war. Den Ort, der mir mein behütetes Leben hier vergällt und mich von Zeit zu Zeit des Nachts in Alpträumen heimsucht – Alpträume, die ich, wie es scheint, auf mein Kind übertragen habe, als es noch ein kleiner Punkt in meinem Bauch war. Kürzlich habe ich einen wissenschaftlichen Aufsatz gelesen, in dem dargelegt wurde, dass die Gebärmutter als einer der wichtigsten Übertragungswege für transgenerationelle Traumata gilt. Ist es wirklich möglich, dass die Gebärmutter, dieser Ort, nach dem wir uns – als dem Urgrund für Zärtlichkeit und Sicherheit – sehnen, noch eine andere Erscheinungsform hat? Eine furchterregende, die das Echo meiner Schreie, meiner Angst und meines nächtlichen Weinens während der Schwangerschaft widerhallen lässt? Dieser nächtliche Alptraum überfiel mich während meiner neunmonatigen Schwangerschaft mehrmals, der Alptraum vom Krieg, der mich nicht loslässt, seit ich im Winter 2012, zur Zeit der Kämpfe zwischen der bewaffneten Opposition und dem Regime, mit meiner Familie aus Aleppo geflohen bin. An jenem Tag vermischten sich die Geräusche des Regens, der Detonationen, der Schüsse, der Artillerie und unseres Weinens, während mein Bruder mit allen Mitteln versuchte, uns mithilfe seines Autos vor dem Tod zu retten, der sich über das nächtliche Aleppo gelegt hatte.

Seit dieser Flucht verfolgen mich die Alpträume von Stadt zu Stadt, und ich höre erst auf zu weinen und mich zu fürchten, wenn jemand mich weckt und mich vor der Angst in meinem Traum rettet.

Aber wie kann eine Mutter ihr Baby vor dem Leiden schützen, wenn sie gleichzeitig der Ursprung seines Schmerzes ist? Studien über Traumata und ihre transgenerationelle Übertragung beschäftigen sich mit Forschungen über die Kinder und Enkel von Menschen, die dem Holocaust entkommen sind, oder über Soldaten, die den amerikanischen Bürgerkrieg von 1864 überlebten. Es stellte sich heraus, dass das von den Eltern oder Großeltern Erlebte bei diesen Kindern, die selbst weder Krieg noch Konzentrationslager kennengelernt hatten, Spuren in der Seele hinterlassen hatte.

Wie furchtbar! Zu sehen, wie mein Kind panisch schreiend aufwacht und vor Angst weint, und dies wegen eines Alptraums, den ich ihm über mein Gedächtnis oder meine Gebärmutter weitervererbt habe!

Ich fragte die Kinderärztin, ob Säuglinge Alpträume hätten. „Das weiß ich nicht“, antwortete sie. „Die meisten Neurologen und Hirnforscher sagen, dass Säuglinge nur ein sehr schwaches visuelles und räumliches Vorstellungsvermögen haben. Aber es gibt keine gesicherten Erkenntnisse. Warum also nicht?“

Ich glaube lieber den Hirnforschern und Nervenärzten, als dass ich davon ausgehe, meine Gebärmutter könnte die Quelle des Schmerzes meines kleinen Kindes sein. Ich halte sein panisches Schreien im Schlaf lieber für die Folge von Blähungen oder Hunger, auch wenn sich das Weinen bei Hunger und Schmerz vollkommen anders anhört, als wenn das Baby nachts schreit und in Panik erwacht – genau wie ich, wenn ich einen solchen Alptraum habe.

Während der Schwangerschaft hatte ich bittere Schuldgefühle, denn ich fürchtete, dass mein Baby, wenn ich schreiend aufwachte, in meinem Bauch gleichfalls Angst empfand.

Als ich im vierten Monat Blutungen bekam, sagte ich mir, dass das kleine Wesen vielleicht zu der Ansicht gelangt war, dass das Leben im Uterus seiner Mutter, in dem sich Alpträume, Geschrei, Weinen, Kriegsszenen und Bombardierungen angesammelt hatten, kein schönes Leben sei, und dass es vielleicht beschlossen hatte, diese Gebärmutter zu verlassen. Aber zum Glück klammerte es sich sowohl an meinen Uterus wie auch an sein Recht zu leben, trotz all der Panik, die mich von Zeit zu Zeit überfiel, und trotz des schrecklichen Schmerzes in meinem Gedächtnis, für den es keinen Namen gibt.

Mein lieber Freund, ich bin ein Krake, der nicht aufhört, sich an den Schmerz und die Quellen dieses Schmerzes zu erinnern.

Ich weiß noch, was Du zum dritten Geburtstag Deiner Tochter Dafa auf Facebook geschrieben hast:

„Heute wird Dafa drei Jahre alt.

Wenn ich in einigen Jahren zu ihr sagen werde, dass sich am Tag ihrer Geburt die Sonne verfinsterte und Granaten aus dem Himmel auf uns herabregneten, wird sie lachen und insgeheim denken: ‚Ach, diese gefühlsduseligen Väter, die übertreiben doch immer!‘“

Ich habe Deinen Post mehrmals gelesen, während ich diesen Brief schrieb, und verspürte das Bedürfnis, gemeinsam mit Dir zu weinen. Eine Mutter und ein Vater, die zwei Kinder in diese schreckliche Welt gesetzt haben, und beide sind wir Kraken, die nicht aufhören, sich an den Ursprung ihres Schmerzes zu erinnern.

Ich möchte wissen, wie Deine väterliche Sorge in Deinem Pariser Exil aussieht. Ist die Angst vor Rassismus, vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und vor Alpträumen eine andere als im Berliner Exil? Habe ich hier „Exil“ geschrieben? Ist nicht die Heimat auch eine Form von Exil, die Heimat, die am Tag der Geburt unserer Kinder Granaten und Tod bescherte?

Unterscheiden sich väterliche Gefühle von denen einer Mutter? Ich bin, wie Du weißt, erst seit ein paar Monaten Mutter, es ist also eine noch frische Erfahrung, und die Gedanken und Befürchtungen zermartern mir das Hirn.

Ich habe in einem Artikel der französischen Psychoanalytikerin Marilia Aisenstein gelesen, dass Mutterschaft gleichbedeutend sei mit der Besetzung des Ichs der Frau, die ein ganzes Leben lang und noch darüber hinaus andauere.

Ist das bei der Vaterschaft auch so?

Und wäre meine Depression, unter der ich in der Zeit nach der Geburt litt, anderer Natur gewesen, hätte ich mich in Aleppo befunden und meine Mutterschaft dort erlebt? Also an Orten, die ich kannte und die mich kannten? Unter Menschen, die mein Kind nicht wegen seiner Hautfarbe oder der Herkunft seiner Eltern verurteilen? Wäre der entsetzliche Pfeifton der Depression weniger schneidend gewesen? Oder im Gegenteil vielleicht sogar noch viel schlimmer? Ich weiß es nicht. Vielleicht hast Du Antworten auf diese Fragen, dort in Paris?!

Hat der Krieg eine Mutter, Omar? Wie kann ein Mensch, der eine Mutter hat, zum Mörder werden, zu einem Diktator, der sein Volk bombardiert und die Häuser über den Köpfen der in ihrer Wiege liegenden Kinder einstürzen lässt?

Seit ich Mutter bin, verspüre ich in meinem Herzen eine Zärtlichkeit, die für die ganze Welt ausreicht. Ich verzeihe jedem, der mir etwas zuleide tut, als würde meine Mutterschaft überfließen und die ganze Welt umfassen.

Wie kann ein Mensch mit einer Mutter, die ihn badete und säugte, die ihm Liebe gab und seine Wiege schaukelte, zum Mörder von Kindern, Müttern und ganzen Familien werden? Wie kann er es ertragen, das Bild einer Kinderschaukel oder einer Wiege zu sehen, die durch die Bomben seiner Flugzeuge zerstört wurden? Verursacht ihm das keinen Stich im Herzen? Hinterlässt es keinen Schmerz im Herzen seiner Mutter, im Herzen der ganzen Welt?

Es fällt schwer, das Gebaren der tyrannischen Diktatoren und Mörder zu verstehen, weil man deren tyrannisch-diktatorische Seite von ihrer Kindheit trennen muss, von der Unschuld, die sie besaßen, als sie noch Kinder waren.

Erkennt sich der Diktator als das Kind, das er war, sieht er noch die Spielzeuge seiner Kindheit vor sich?

Ich betrachte das Foto Deiner Tochter Dafa, neben mir liegt mein Sohn Max, und ich sage mir, dass Mutterschaft und Vaterschaft vom Prinzip her und uneingeschränkt gegen das Töten sind. Zum Glück leben unsere beiden Kleinen in Sicherheit im Exil, das weit genug von unserer brutalen Heimat entfernt ist. Auch wenn das Exil durch unsere erschöpften Lungen atmet.

Alles Liebe

Widad

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Das Schmerzgedächtnis - Brief 1

Widad Nabi an Omar Kaddour: während ich Dir schreibe, kommt es mir vor, als würde ich mir einen Schrei verbeißen oder als wäre ich ein Krake, der seine drei Herzen auf einmal ins Leere wirft. LesenText im Original

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