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Der Stiefel auf unserem Gesicht. Für immer!

Von Stella Gaitano

 

Text auf Arabisch hören (Original):

Text auf Deutsch hören:

Eine meiner Geschichten trägt den Titel „Hurra, ich bin tot!“. Erzähler und Protagonist der Geschichte ist eine Leiche bei vollem Bewusstsein, die wahrnimmt, wie sie verwest und wie ihre Glieder zerfallen. Dabei schwatzt die Leiche wie ein Papagei, bis sie vergeht, vergessen in einem Haus, das auf ewig verlassen wurde. Irgendwann raubt ein Geier das Auge, das aus dem Schädel der Leiche hängt. In den Fängen des Geiers sieht das Auge alles während seines schauerlichen Flugs. Das Auge sieht Leichen, Feuersbrunst und Verödung. Es sieht Täter und Opfer.

Wir mutieren zu Augen in den Fängen der gescheiterten, verwundeten Heimat. Wir beobachten. Wir notieren. Wir brechen zusammen unter dem ständigen Wiederkäuen ständiger Schmerzen. Wir berechnen die Verluste auf dem langen Weg, die uns der Aufbau von einer oder zwei Heimaten gekostet hat, in denen wir frei und in Würde leben können.

Wir passen uns all den Entwicklungen an. Wer den Herrschern nahesteht, wird zum einzigen Retter. Wenn du anders bist, musst du zum Chamäleon werden. Wenn du wie sie redest, wie sie denkst und wie sie hasst, dann bist du vor Ausgrenzung, Bedrohung und Beraubung sicher. All das macht ein in Nord und Süd geteiltes Land wie den Sudan zu einer politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich bizarr entstellten Heimat. Für die Erlösung waten seine Völker durch Blut. Für Demokratie und Freiheit durch echte Veränderungen und echte Reformen. Aber bis jetzt scheitern wir, den Furor des Militärs zu zähmen und den bewaffneten Kampf der Macht- und Herrschsüchtigen zu stoppen. Wir haben Dutzende von Jahren Erfahrung mit der Herrschaft der Stiefel.

Es sind bereits elf Jahre vergangen, seit aus dem Sudan zwei Staaten wurden. Wir haben weitere Kriege und wirtschaftliche Zusammenbrüche erlebt. Hunderte Tote, Tausende Vertriebene und Geflüchtete.

Im Südsudan, meiner vergessenen Heimat, ist das Letzte, woran sich die Leute erinnern, das einzigartige Referendum von 2011, das zur Unabhängigkeit führte. Danach wurde das Recht auf Selbstbestimmung ausgelöscht und ein erbitterter Kampf entbrannte.

Die Anführer der bewaffneten Revolution gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Rassismus entwickelten sich über Nacht zu Plünderern, die Macht und Vermögen an sich rissen. Die alten Revolutionäre wurden die neuen Mörder. Abgehakt war die Idee eines modernen Staates samt seiner Staatsbürgerschaft. Stattdessen schürten sie Konflikte und die Rivalität der Stämme untereinander. In diesem düsteren Labyrinth aus Unterdrückung, Korruption und Stagnation brachen in den Jahren 2013 und 2016 kurz nacheinander zwei Bürgerkriege aus. Kaum hatten die Geflüchteten und Vertriebenen sich mit ihrem Hab und Gut niederlassen können, mussten sie schon wieder fliehen. Jetzt ist unsere Heimat in den Fängen derer, die Kriege führen und Unschuldige töten. Jedes Mal entgehen sie ihrer Strafe und bleiben als Präsidenten und Abgeordnete im Amt …

Für was haben wir so viel geopfert? Warum ist diese Region dazu verdammt, ihren Prinzipien abtrünnig zu werden? Man ruft nach Frieden und antwortet mit Krieg. Man ruft nach Demokratie und antwortet mit Diktatur.

Als im Nordsudan 2018 die Revolution ausbrach, schien sie die herrlichste aller Revolutionen zu sein. Friedlich, scharfsinnig, entschlossen, die Tyrannen zu bezwingen, war sie bis zu dem Moment siegreich, als das Militär nach zwei Jahren die Entwöhnung von der Allmacht leid war und der Revolution in den Rücken fiel. Die Zivilisten wurden verdrängt und einer möglichen Übergangsperiode beraubt, die die einzige Hoffnung auf eine Verwandlung in den Sudan unserer Träume gewesen war, demokratisch – frei und gerecht …

Würde ich diese Eigenschaften doch nur in einem der beiden Teile des Sudans sehen!

Ich denke an den Abstand, der uns als Volk von den Politikern und vom Militär in unserem Land trennt. Als lebten wir auf zwei verschiedenen Planeten. Und solange wir uns selbst am Scheideweg zwischen ihnen wiederfinden, stellt sich uns die Frage: Sein oder nicht sein?

Ich schreibe an einem anderen, kalten Ort (weder im Sudan noch im Südsudan), um zu überleben und zu atmen. Aber auch, um über den Sinn all dieser entsetzlichen Erfahrungen nachzudenken, die wir als Volk durchmachen mussten. Ich denke auch an Dinge, die wichtiger als unsere Seelen und Träume sind.

Sie wollen das Land ohne seine Menschen. Sie wollen die Wasser des Nils, verseucht mit unserem Blut. Sie wollen die Rohstoffe, gewonnen aus unseren Gebeinen, die sie ans Kreuz nagelten, während wir auf Demokratie und Gerechtigkeit warteten.

Wir sind hier, um das zu ändern. Wir beobachten weiter mit unseren scharfen Augen in den Fängen des Geiers, den Augen, die das alles sahen.

 

Aus dem Arabischen von Sonja Jacksch

 

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