Freshta Ghani und Daniela Dröscher schreiben sich Briefe vor und nach der Machtübernahme der Taliban zwischen Berlin und Duschanbe in Tadschikistan, wohin Freshta Ghani fliehen musste.

Im Prisma dieses einen Lebens

Daniela Dröscher über Freshta Ghani

 

Als ich das erste Mal etwas von Freshta Ghani las, fiel mir die außergewöhnliche Klarheit ihrer Sprache auf. Es finden sich darin Sätze wie: „Mädchen gelten als hässlich, nur über die Geburt eines Sohnes freut man sich.“ Sätze klar wie Wasser, doch bei aller Unmissverständlichkeit beeindruckend zart. (Wie schafft man es, in einem solchen Satz Freude zu erwähnen?)

Das Politische und das Poetische mögen bisweilen widerstreitende Seelen sein, doch bei Freshta sind sie untrennbar eins. Diese Gleichzeitigkeit bestimmt ihr Schreiben, in ihren journalistischen und in ihren literarischen Texten. Ich frage mich, ob sie diese Unterscheidung überhaupt für sich selbst treffen würde. Ich muss sie einmal fragen. Ich muss sie so vieles noch fragen.

Als Mitglied der Association of Women Writers in Afghanistan thematisiert Freshta seit vielen Jahren den Alltag von afghanischen Mädchen und Frauen. Ihre Sehnsucht nach Freiheit und Bildung, ihren mutigen Kampf um das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Eine zivilgesellschaftliche Vereinigung hat ihr dafür den Freedom Award verliehen. Auch aus dem Exil in Tadschikistan, in das sie und ihr Mann nach einem brutalen Übergriff vor einiger Zeit fliehen mussten, kämpft sie weiter. Ihre Waffe, die einzige, die sie hat, ist gegenwärtig das geschriebene Wort. Die Radiomoderatorin in ihr ist ohne Resonanzraum. Ich bin sicher, sie wünscht sich sehnsüchtig ein Mikro- nein, ein Megaphon. Um all das Unrecht, dessen Zeugin sie wird, in die Welt hinausrufen zu können.

Durch die Begegnung mit Freshta sehe ich Afghanistan durch die Augen einer jungen Frau. Ein ganzes Land gebündelt im Prisma dieses einen Lebens. Ich sehe die wiedererwachenden und auch die verlorenen Träume, bekomme eine Anmutung von ihrem Alltag im Exil, den seelischen und ökonomischen Widerständen, denen sie ihre Worte abringt. In jeder Zeile ihrer Texte spüre ich den Glauben an das Schreiben, die Sprache.

Oft geht es in ihren Texten um Kinder, häufig um Kinder, die als Mädchen geboren werden, oder um verletzte Kinder. „Mama, warum ist mein eines Bein lang und mein anderes kurz?“, fragt ein Junge in ihrer Kurzgeschichte, die von einem Bombenangriff auf eine Privatschule in Kabul erzählt. Sätze wie diese wirft sie aufs Papier, lässt sie stehen, unkommentiert. Damit sie bleiben. Damit niemand sie je wieder vergisst. Immer auch schreibt sie gegen das Vergessenwerden an. Wer vergessen wird, wird nicht gehört.

Kurz nach der Invasion der Taliban ist Freshta Mutter geworden. Ihr Kind, ein Mädchen, heißt Oriana. Von jetzt an schreibt sie auch für ihre Tochter. Sie selbst formuliert es so: „Worauf ich warte, ist der Tag, an dem ich wieder frei atmen kann und nicht fürchten muss, für das Verbrechen, eine Frau zu sein, umgebracht zu werden.“

Freshta schreibt, um gehört zu werden. In einem fremden Land ohne Arbeit und ohne die Möglichkeit, veröffentlichen zu können, ist das unendlich schwer. Ich würde mir wünschen, sie könnte eine Weile in Deutschland leben. Sie und ihre Familie könnte kurz aufatmen, Luft holen, Kraft tanken. Auch, um weiterschreiben zu können. Sie weiß, sie wird lange und laut und weiterhin so wasserklar schreiben müssen, damit ihr Land eines Tages wieder ihr Land ist, und vor allem auch das Land ihrer Tochter.

 

Juni 2022