sind Autorinnen, die weit ausgreifen und oft wissenschaftliche Überlegungen oder Themen in ihre Texte einfließen lassen. Diese Genauigkeit und gedankliche Schärfe verbindet die beiden und schleift ihren Dialog.

Briefwechsel Mariam Meetra und Sylvia Geist

Zeichnung von Sylvia Geist © Sylvia Geist © Sylvia Geist

 

 

Eine löchrige Erinnerung – Flieth, 05. August 2021

 

Liebe Mariam,

 

ich hoffe, deine Woche ist angenehm verlaufen und du bist wohlauf. Ich habe mir gestern meine 2. Impfdosis abgeholt und bin ein wenig müde, aber froh, das nun hinter mir zu haben.

 

Aufgehellt ist meine Stimmung auch durch die Anthologie, die ich heute im Briefkasten fand und die Gedichte von mir in englischer Übersetzung enthält, darunter eines, das mich an unser jüngstes Gespräch erinnert: Wie, in welcher Weise kommen Erinnerungen in die Poesie, und wie verwandeln sie sich darin?

Das Gedicht heißt „Pumpen“ und erzählt von einer drohenden Überschwemmung, die das nahe an einem See gelegene Elternhaus der lyrischen persona gefährdet. Bilder aus meiner Kindheit tauchen darin auf. Der See, der dem Heiligensee ähnelt, in dessen Nähe wir wohnten. Die Fische, die um uns herumschwammen, wenn wir am späten Abend noch mal baden gingen, und deren flüchtige Berührungen man an den Beinen fühlen konnte wie ganz leichte Küsse. Der Vater, der das Haus – gegen eine erwartete Flut? - abzudichten versucht. Und die Pumpe, die es in einem kleinen Erdkeller unter meinem Zimmer tatsächlich gab, die aber kein Wasser aus dem Keller ab-, sondern Grundwasser für die Gartenbewässerung heraufpumpte. Da gibt es schon kleine Abweichungen vom Tatsächlichen, Stellen, an der die Erfindung eine löchrige Erinnerung ergänzt, sie stopft wie einen blauen Strumpf mit einem roten Faden. Aber dieser rote Faden führte hier zum Gedicht. Denn wirklich erscheint mir bis heute das Gefühl einer Bedrohung darin, die von außen gegen die "Festung" andrängt wie steigendes Wasser.

Ich habe als Kind keine solche Katastrophe erleben müssen, die Empfindung einer Gefahr ist eher etwas,  das mit den Erinnerungen meines Vaters an seine Kindheit zu tun hat. Ich denke, seine Erlebnisse sind in gewisser Weise auch zu mir vorgedrungen, wenn auch damals noch nicht durch Erzählungen, so doch in Gestalt seiner Entschlossenheit, ja fast Besessenheit, ein sicheres Zuhause für seine Familie zu schaffen. Und einiges von diesem Sicherheitsbedürfnis ist, wie ich inzwischen weiß, auch auf mich übergegangen.

 

Ich freue mich auf deinen Brief, liebe Mariam.

Herzlich grüßt dich

Sylvia

 

 

Die Gegenwart der Vergangenheit  -  Berlin, 15. September 2021

Liebe Sylvia,

Ich hoffe, es geht dir gut. Ich beginne gerade erst, mich vom Schock des jüngsten Ereignisse in Afghanistan zu erholen, und antworte heute nur kurz auf deinen Brief.

Die Gegenwart der Vergangenheit in deinem Gedicht ist sehr greifbar. Erinnerungen an Vergangenes und das, was nicht mehr in Reichweite ist, werden fühlbar. Ich glaube, ganz gleich, ob die Erinnerungen gute sind oder nicht, sie existieren in unserem Unbewussten.

Du schriebst über deine Kindheitserinnerungen und euer Haus. All das fühlt sich für mich sehr vertraut an. Ich habe das Zuhause meiner Kindheit vor sieben Jahren verlassen – den Platz, an dem ich aufgewachsen bin.

Ob ich schlafe oder wach bin, die Vergangenheit ist für mich gegenwärtig. An vielen Morgen wache ich mit einem Kopf voller nächtlicher Träume auf. Das wesentliche Element, das allen meinen Träumen gemeinsam ist, ist die Vergangenheit: Ein Ort in Kabul. Meine Träume sind zu einer Ausstellung geworden, die die Ereignisse meines Lebens aus der Ferne zeigt. Ein Teil meines Unterbewusstseins rekonstruiert ständig Bilder und Erinnerungen. Ich frage mich: Was ist der sicherste Platz, unsere Erinnerungen aufzubewahren? Herz? Kopf? Oder Tagebücher? Mein Verstand widersetzt sich in beispielloser Weise dem Bewahren von Erinnerungen.

Ich träume immer von unserem Haus in Kabul. Von dem Ort, den ich verlassen musste, ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Ich denke immer noch, meine Sachen werden dort sein, wo sie waren, als ich fortging. Die Bilder meines Schlafs wie meiner Schlaflosigkeit sind so lebendig, dass es ist, als wäre ich erst gestern dort gewesen und in der Sonne über den Hof gegangen … Als hätte ich erst gestern die Sonnenblumen gewässert, die mein Vater in unserem kleinen Garten gepflanzt hat. Erinnerungen nutzen sich nicht ab, werden nicht altmodisch. Menschen kommen zur Ruhe im Schatten ihrer Erinnerungen. Finden Zuflucht. Fühlen sich sicher und geborgen in ihnen. Ich denke, Erinnerungen sind die persönliche Geschichte jedes Einzelnen. Sie sind ein wichtiger Teil der menschlichen Identität. Die Vergangenheit und die Erinnerung an sie sind wie ein Fenster, durch das die Ereignisse der Gegenwart betrachtet werden können.

 

Beste Wünsche,

Mariam

 

 

Zeichnung von Sylvia Geist © Sylvia Geist © Sylvia Geist

 

 

Etwas sehr Lebendiges - Flieth, 04.Oktober 2021

 

Liebe Mariam,

 

die Situation in Afghanistan muss für dich schwer auszuhalten sein, ein Mitfühlen und Mitleiden, mit deinen Freunden und nahestehenden Menschen dort, aber auch mit dem Land an sich, dessen Landschaften, Farben, Wetterlagen, Sprachen die Welt deiner Kindheit waren.

 

„Die Vergangenheit und die Erinnerung an sie sind wie ein Fenster, durch das die Ereignisse der Gegenwart betrachtet werden können.“, schreibst du. Ja, das denke ich auch.

Der Blick auf das Gestern hat nicht selten meine Gegenwart bestimmt, sei es in Abgrenzung vom Vergangenen (oder wenigstens im Wunsch danach), sei es als Ermunterung und Kraftquelle. Erinnerungen, auch die an Kindheit und Jugend, die uns scheinbar nie verlassen, sind nicht statisch. Sie "bewegen" sich, weil wir sie in uns bewegen. Und sie bewegen umgekehrt uns. "Jemanden zu etwas bewegen", sagt man im Deutschen, wenn man jemanden überzeugen möchte, etwas Bestimmtes zu tun oder eine Entscheidung zu treffen. In diesem Sinne sind Erinnerungen für mich nicht nostalgisch, nichts Museales, sondern etwas Prozessuales und sehr Lebendiges, auch Forderndes, zumal wenn es um das überpersönliche, das kollektive Erinnern geht. Ich habe weder den Naziterror noch den 2. Weltkrieg miterlebt, aber das Wissen darum hat mich stark genug geprägt, um mich zu bewegen - sowohl für als auch gegen etwas.

 

Auch wenn ich als Dichterin dem persönlichen Erinnern näher bin als der kollektiven Erinnerung: Wo kämen wir hin, wenn nur das uns bewegte, das wir aus eigener Erfahrung kennen? Wir brauchen die Vorstellung ebenso wie das Gedächtnis, um uns in der über uns hinausreichenden Wirklichkeit zu verorten und auf anderes und andere Bezug nehmen, uns in Beziehung zu setzen. So kann etwas, das man selbst nie erlebt haben muss, herüberwehen wie ein fernes Geräusch und in die eigenen Alpträume ragen.

In einem meiner Gedichte, „Blankes Gespräch“, gibt es einen Satz, der aus einem solchen Traum stammt, einem, in dem es so kalt war, dass das Frühstück ge/fror und sich ein Fell wachsen ließ, bevor es schließlich vom Teller sprang und floh: "Die keine richtigen Menschen sind, müssen jetzt gehen." Ich  habe es nicht erleiden müssen, dass man mir mein Menschsein absprach. Aber unzähligen Menschen hat man das in diesem Land angetan. Und fürchterlicherweise geschieht es immer wieder, auch anderswo. Wie heute den Frauen in Afghanistan.

 

Ich schreibe das, nachdem ich noch einmal dein Gedicht "Erinnere dich an mich" gelesen habe, wo es u.a. heißt: "(...) als würden meine Erinnerungen / weitab, unerreichbar / anderswo vergessen", und ich glaube: Nein, das werden sie nicht. Weil du es nicht dazu kommen lässt. Weil das eben zu den Fähigkeiten – und Aufgaben - der Dichtung gehört, die Erinnerungen nicht ins Vergessen geraten zu lassen.

Ich bin froh, dass wir nun öfter voneinander hören, liebe Mariam, und freue mich auf deinen nächsten Brief.

Sylvia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Schutzgebiet im Gedächtnis - Berlin, 19. Dezember 2021

 

Liebe Sylvia,

 

ich denke, die Bedeutung von Erinnerungen ist zweifellos eine andere für jemanden, der emigriert ist. Der plötzlichen und erzwungenen Umsiedlung geschuldet, haben wir gegensätzliche Verhältnisse zur Vergangenheit.

Für mich sind Erinnerungen nostalgisch, weil sie auf Erlebnisse anderswo zurückgehen und ich nicht mehr dort lebe. Und zur Zeit ist es unmöglich für mich, dorthin zu gelangen. Migration transformiert das geistige Konzept von Erinnerung. Und diese konzeptuelle Transformation von Erinnerungen und der Vergangenheit lässt sich manchmal kaum beschreiben.

Ein geographischer Umbruch verkompliziert unser Verhältnis zu Erinnerungen. Manchmal versucht der Verstand vergeblich zu vergessen; dann wieder ringt er darum, sich an alles Verlorene zu erinnern, an jedes Ding, jede Kleinigkeit. Es ist ein sehr widersprüchlicher Prozess von Erinnern und gleichzeitigem Versagen.

Was in Afghanistan geschehen ist, bedeutet einen schweren Verlust für alle. Jeder hat etwas verloren. Die Erfahrung jeder Einzelnen ist persönlich und einmalig. Aber für mich ist es eine Kombination aus Verlieren und Erinnern. Afghanische Frauen und Mädchen haben ihr Recht auf Erziehung und Arbeit verloren, wie schon Jahre zuvor, als ich heimlich in eine Untergrundschule ging. Für mich ist der heutige Tag ein Scheideweg kollektiver Geschichte und in den persönlichen Erinnerungen auf individueller Ebene. Von der letzten Periode, in der die Taliban Afghanistan beherrschten, erinnere ich die Furcht, die mich immer mehr begleitet hat als alles andere. Obwohl ich nicht in Afghanistan bin, hat mich diese Furcht jeden Tag geweckt.

Ich denke auch, deine Wahrnehmung als Dichterin ist näher an deinen Erinnerungen. Ich analysiere auch die politischen Ereignisse in Afghanistan mehr mit meiner Erinnerung, lese sie neu vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen - als Frau, deren menschliche Identität unterdrückt und zensiert wurde. Für jemanden wie mich, die einige Jahre ihrer Kindheit in derselben Situation gelebt hat, ist die Tragödie, die über die afghanischen Frauen gekommen ist, sogar besonders schockierend.

Mein Gedicht Erinnere dich an mich ist auch ein Ausdruck meiner Ängste, vergessen zu werden. Erinnerungen sind eine Art psychologischer Zuflucht für Migranten. Ein Schutzgebiet, aufgehoben im Gedächtnis, wenn der Sinn für physische Zugehörigkeit verloren gegangen ist. Mit der geografischen Veränderung macht auch die Psyche schwerwiegende Veränderungen durch, die aufgrund weiterer mit der Migration einhergehenden plötzlichen Veränderungen noch weniger leicht zu verkraften sind.

Zielgruppe, Empfänger meines Gedichts sind alle, zu denen ich keinen Zugang mehr habe. Freunde, die ich nicht mehr treffen kann. Für mich ist die Poesie eine ständige Gedächtnisstütze und eine Mahnung. Ich schreibe Gedichte, um etwas in  mir wach zu halten: meinen Sinn für Zugehörigkeit. Ich kommuniziere mit meinen Erinnerungen und mit Afghanistan, durch die Sprache. Ich empfinde das Schreiben als etwas wie Beständigkeit. Schreiben bewahrt mich vor dem Bruch mit der Vergangenheit und vor der Sprachlosigkeit. Es ist meine stehende Verbindung zu meiner Heimatstadt und meinen Erinnerungen.

Herzliche Grüße,
Mariam

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alte Häuser, an den Rändern beschnitten - Flieth, 25. Mai 2022

Liebe Mariam,

was für ein Abend das war, vorige Woche beim Weiter-Schreiben-Fest! Die Veranstaltung hat mich glücklich gestimmt, hoffnungsfroh mit ihren Begegnungen und Begebenheiten.
Die Lesungen, besonders der von Marica Bodrozic vorgetragene Briefwechsel mit Batool ermöglichten ein Mit-Sehen und Mit-Empfinden, das man sonst vielleicht nie oder jedenfalls nicht auf so intensive, mitnehmende Weise erfahren würde.

Für mich war der Nostalgiebegriff immer mit Reflexen konnotiert, denen ich als Dichterin misstraue, mit Idyllisierung und Verklärung. Auch - und dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte - mit Ausflucht. Nostalgische Verfahren wie das Ausblenden von Schrecklichem, Schuldhaftem erfüllten für die deutsche Nachkriegsgesellschaft die Funktion der Verdrängung eigener Verantwortung.
Für dich erfüllt Nostalgie eine ganz andere Funktion, als heimatlicher Raum, nicht als Ausflucht, sondern als Zuflucht, als Selbstvergewisserung nicht nur des Gewesenen, sondern der Identität, die sich daraus herleitet, genährt wird davon und - so wenig wie die Identität irgendeines Menschen - zu keinem Zeitpunkt nur aus dem Gegenwärtigen besteht.

Ich denke an den Moment am Freitag, als du mir während der schönen Musik von Nabil Arbaain zuflüstertest, sie erinnere dich an die alten Häuser in einem bestimmten Viertel in Kabul. Obwohl - oder weil - wir nicht weiter darüber sprachen, riefen die Wörter "alte Häuser in Kabul" ein Bild in mir wach. Dieses Bild hat wahrscheinlich nicht viel Ähnlichkeit mit den Häusern, die du meintest, aber ich sah hellen Putz, Fensterläden aus dunklem Holz, hier und da einen wehenden Vorhang, die Sonnengrelle, nur in den schmalsten Seitengassen von scharfen Schattentunneln unterbrochen, durch die hier und da ein scheuer Hund huscht; ich hörte die Mittagsstille; ich sah die mittäglichen Straßen, durch die ich im Süden Europas gegangen bin, und roch Essensdünste, Blumen, gemischt mit Abgasen und der mulchigen Kühle aus einem dunklen Hausflur, und den feinen, sonnenheißen Staub.
Doch das sind meine "alten Häuser“, an den Rändern beschnitten (wo ist zum Beispiel der Müll geblieben, nach dem es zweifellos auch gerochen hat, überall gibt es welchen, und in der Hitze riecht man ihn) und beileibe nicht nur aus einer Stadt, sondern zusammengeklebt aus den Resten der Erinnerung an viele Orte, überlagert von Vorstellung. So entsteht ein Bild, mehr noch: ein Gefühl, das sich ganz vorsichtig an etwas herantastet, das ich mitgehört habe, als du von den alten Häusern in Kabul sprachst: Sehnsucht.

Wenn du von den Sonnenblumen sprichst, die dein Vater in eurem Garten gesät hat, lässt du mich an deinem Heimweh teilhaben und an deinem Wunsch, diese Sonnenblumen wachsen zu sehen. Das macht solche scheinbar kleinen Offenbarungen so wichtig. Nachrichten werden zur Kenntnis genommen - und vergessen. Sie trennen zwischen "hier" und "dort".
Gedichte schaffen einen Raum, in dem die individuelle Erinnerung auf ein allgemeines Gedächtnis trifft. Einen Ort, an den die Dichterin die Leser:innen einlädt, um ihnen zu zeigen, worum sie trauert, wonach sie sich sehnt: die Sonnenblumen, die Gärten. Die alten Häuser in Kabul. Ich würde diese Häuser gern mit-sehen, nicht jene, die meine Vorstellung an die Leerstelle dessen, was ich nicht kenne, gesetzt hat. Wie sehen die wahren alten Häuser in Kabul aus, wie kühl oder warm ist es in ihnen, wie hell oder wie dunkel durch Fensterläden oder Vorhänge? Welche Farbe hat das Licht der Straßenlaternen? Werden sie von Mücken und Nachtfaltern umschwirrt? Mit jedem Detail öffnest du das Fenster deiner Erinnerung ein wenig weiter für jene, die nie dort waren, wo du gewesen bist, und die es dennoch wissen sollten, damit sie, was nicht vergessen werden darf, im Gedächtnis behalten.

Ich freue mich auf deinen nächsten Brief!
Alles Liebe,

Sylvia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kennen mich diese Straßen? - Berlin, 12. April 2023

Liebe Sylvia,

Viele Farben, Düfte und Geschmacksrichtungen kommen mir in den Sinn, die mich an Kabul erinnern, wann immer ich über Nostalgie und Heimweh schreibe. Wir können uns nicht aussuchen, was wir vermissen und was nicht. Aber ich weiß, was ich am meisten vermisse: Unser Haus in Kabul. Orte und unser Gefühl, an sie zu gehören, geben uns Stabilität und Sicherheit. Ein Teil meines Lebens gehört zu jenem Haus, und so wird es immer bleiben. Manchmal fühlst du, du hast dich selbst vergessen, die Person, die du woanders warst.

Nostalgie empfinde ich für die Dinge, die ich in Kabul geliebt habe, und von denen ich weiß, ich werde sie nicht so wiederfinden, wie ich sie verlassen habe. Die Vorstellung alter Häuser in Kabul hat verschiedene Bilder in deinem Kopf  hervorgerufen, Bilder von alten Häusern, die vertraut erscheinen. Ich frage mich, wie weit unser Geist schweifen kann, um etwas zu imaginieren, das wir nie gesehen haben. An dem Tag im Literaturhaus, als die Musik spielte, erzählte ich dir, dass sie mich an die alten Häuser in Kabul erinnerte. Sie erinnerte mich auch an die Straßen in der Altstadt, und ich reiste im Geiste dorthin. Die klangliche Ähnlichkeit des Instruments mit klassischer afghanischer Musik rief mir viele Einzelheiten in Erinnerung.

Verlust und Nostalgie sind manchmal dünne Vorhänge, die aufreißen, wenn du eine vertraute Stimme hörst. Als ich vor ein paar Tagen auf dem Weg nach Hause war, fing es an zu regnen. Ich stand unter einem Balkon an der Straßenecke und betrachtete die Häuser ringsum. Ich starrte auf die Farben der Gebäude, hörte das Geräusch des Regens, dachte wieder einmal über Zugehörigkeitsgefühl nach und fragte mich: Kennen mich diese Straßen? Zugehörigkeitsgefühl hatte immer zwei Seiten für mich. Ich bin ja nicht die Einzige, die sich fremd fühlt. Die Orte können mir ihrerseits erzählen, ob sie mich kennen oder nicht. So wie Menschen Städte fremd sein können, können Städten Menschen fremd sein. Wenn ich mich an einem Ort fremd und unvertraut fühle, habe ich das Gefühl, dass der Ort mich nicht wahrnimmt und mich ablehnt. Deshalb ist Kabul lebendig und gegenwärtig, nicht nur als ein physischer Ort, sondern auch als einer, zu dem ich eine spirituelle Beziehung habe. Kabul kennt mich, und meine Gefühle für es haben sich nach den vielen Jahren meiner Abwesenheit nicht geändert.

In den ersten Monaten, nachdem ich hierher gekommen war, dachte ich, alles in Kabul würde so bleiben wie es war, als ich es verließ. Aber im Lauf der Zeit fand ich meine Pespektive in Bezug auf viele Dinge verändert, und diese fundamentalen Veränderungen in meinem Blick und meiner Wahrnehmung riefen mir ins Gedächtnis, dass Kabul und die Dinge dort sich ebenfalls verändert haben. Genau das ist der Kipppunkt, an dem für mich Nostalgie beginnt. Wenn ich glaube, dass ich Orte und Dinge nicht mehr so sehen werde wie sie einmal waren und wie ich sie mochte. Ich bereite mich darauf vor, diesen schwerwiegenden Verlusten ins Gesicht zu sehen, und manchmal kann ich sie nicht begreifen.

Manchmal trägt der Duft von frischer Minze oder das Grün junger Blätter mich zurück in meine Kindheit und in den kleinen Garten unseres Hauses in Kabul. Und ich kann für Stunden zurückdenken und mir Einzelheiten in Erinnerung rufen. Nostalgie ist mitunter eine Art von Widerstand gegen das Vergessen. Wenn du die Ereignisse stundenlang Revue passieren lässt und dem Zeitstrahl folgst, verstehst du ihre Bedeutung und wie sie zusammenhängen mit Vergangenheit und Zukunft. Nostalgie bewohnt dich gegen das Vergessen der Erinnerungen, die du liebst.

Es tut mir sehr leid, dass ich diesen Brief so spät schreibe. Ein paar Monate sind vergangen, seit wir uns zuletzt getroffen haben. Ich habe oft versucht, dir zu schreiben, konnte aber nie mehr als ein paar Sätze zu Papier bringen. Ich weiß nicht, ob dir das auch passiert, aber bei manchen Texten es schwierig für mich, sie zu Ende zu bringen. Im Ernst, dieser Brief war einer davon.

Liebe Grüße,

Mariam

Sylvia Geist über Mariam Meetra

 

Ein Fenster nach Kabul

Als Afghanistan von den Taliban in dem Sturm, den sich der deutsche Außenminister nicht hatte vorstellen können oder wollen, eingenommen wurde und Tausende vergeblich versuchten, zum Flughafen in Kabul zu gelangen, hörte man in deutschen Medien oft von „Nicht-Darstellbarkeit“ reden. Gemeint war die Unfähigkeit europäischer Regierungen, Flugzeuge in ausreichender Zahl bereitzustellen, Visa auszufertigen, den Zufluchtsuchenden Schutz zu bieten. „Nicht darstellbar“ hieß hier schlicht: Nicht machbar, unmöglich. Es brauchte dieses Stutzen, das sich manchmal beim Betrachten von Vexierbildern einstellt, bis ich begriff, dass diese angebliche Nicht-Darstellbarkeit sich gar nicht auf das beziehen konnte, was ja durchaus gezeigt und kommentiert wird und auf diesem Weg zugleich kaum darstellbar ist: den Krieg.

„[…] wo immer ich mich verberge, | er tritt mir entgegen | und spricht mit mir“, schreibt Mariam Meetra. Ihr Gedicht „Frauen im Krieg“ könnte nicht gegenwärtiger sein, es liest sich, als wäre es erst im Sommer 2021 entstanden. Der Krieg ist allgegenwärtig, und wenn die fliehenden Frauen auch in ihm vergessen werden, so doch nicht von ihm. Das Gedicht macht sie sichtbar, befreit sie von den Klischees so manches Berichts, legt ihren Zorn frei, ihre Furcht, ihr Ausharren, in einer Sprache des Benennens, die von Erfahrung ebenso wie von Erinnern gespeist wird.

Erinnern, das ist viel mehr als die Gedächtnisleistung, die einen Vers zutage fördert.

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