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Sylvia Geist über Mariam Meetra

 

Ein Fenster nach Kabul

Als Afghanistan von den Taliban in dem Sturm, den sich der deutsche Außenminister nicht hatte vorstellen können oder wollen, eingenommen wurde und Tausende vergeblich versuchten, zum Flughafen in Kabul zu gelangen, hörte man in deutschen Medien oft von „Nicht-Darstellbarkeit“ reden. Gemeint war die Unfähigkeit europäischer Regierungen, Flugzeuge in ausreichender Zahl bereitzustellen, Visa auszufertigen, den Zufluchtsuchenden Schutz zu bieten. „Nicht darstellbar“ hieß hier schlicht: Nicht machbar, unmöglich. Es brauchte dieses Stutzen, das sich manchmal beim Betrachten von Vexierbildern einstellt, bis ich begriff, dass diese angebliche Nicht-Darstellbarkeit sich gar nicht auf das beziehen konnte, was ja durchaus gezeigt und kommentiert wird und auf diesem Weg zugleich kaum darstellbar ist: den Krieg.

„[…] wo immer ich mich verberge, | er tritt mir entgegen | und spricht mit mir“, schreibt Mariam Meetra. Ihr Gedicht „Frauen im Krieg“ könnte nicht gegenwärtiger sein, es liest sich, als wäre es erst im Sommer 2021 entstanden. Der Krieg ist allgegenwärtig, und wenn die fliehenden Frauen auch in ihm vergessen werden, so doch nicht von ihm. Das Gedicht macht sie sichtbar, befreit sie von den Klischees so manches Berichts, legt ihren Zorn frei, ihre Furcht, ihr Ausharren, in einer Sprache des Benennens, die von Erfahrung ebenso wie von Erinnern gespeist wird.

Erinnern, das ist viel mehr als die Gedächtnisleistung, die einen Vers zutage fördert. In Mariams Gedichten ist es immer wieder ein Nacherleben, das ins Physische reicht, ein Nach-, ein Weiterbeben. „[Während] eine Explosion [ihr] Haus erschüttert, selbst während [sie] diese Verse [schreibt], zittern die Wände dieses Hauses“, heißt es in ihrem Gedicht „Der Tonfall der Trauer“.

Wie können zwei Frauen mit so unvergleichbaren Erfahrungen ins Gespräch kommen – das frage ich mich, als wir uns an einem Herbstnachmittag zum ersten Mal in einem Café in Berlin treffen. Würden sie „wie durch Mauern miteinander [sprechen]“, die junge Frauenrechtlerin und Journalistin, die die Detonationen in ihrer Heimatstadt noch die Wände ihrer Berliner Wohnung erschüttern spürt, und eine, die ein solches Gefühl nicht hat kennenlernen müssen? Blätter, vollgeschrieben mit Fragen und Notizen liegen zwischen uns auf der rotkarierten Tischdecke, eine Brücke aus Wörtern, Satzteilen, Versen. „In welcher Sprache ich auch immer ein Gedicht verfasse, | der Tonfall deiner Trauer geht mir niemals aus dem Sinn, | fernes Kabul!“, schreibt Mariam.

Kabul: Für mich ein Unort aus den Fernsehbildern, gelbgrau, staubvernebelt, ununterscheidbar von anderen, immergleich dargestellten, ja: gezeigten verwüsteten Städten, von denen ich, die seit ihrer Geburt von Krieg und Flucht Verschonte, nicht einmal die Namen nennen könnte, erschienen sie nicht als Bildunterschriften der medialen Fata Morgana, in die sich fernes Unglück so leicht verwandelt. Bäume, Gärten, Lokale, Märkte, Musik, Menschen, unterwegs zur Arbeit, zu einem Treffen mit Freunden oder einer Veranstaltung, die alltägliche Rastlosigkeit einer großen Stadt kommen nicht vor in diesen Bildern. Dass es all das gegeben hat, gegeben haben muss, erfahre ich in Mariams Gedichten, ich erfahre von Kabul als der „traurigsten Stadt der Welt“, dessen „Straßen, […] sich leeren vom Duft der Menschen, von Lebensfarben“, ebenso wie vom „Land des Sonnenscheins“, wie Afghanistan in manchen der Gedichte auch genannt wird.

Ist es das, was jener Nicht-Darstellbarkeit zugrunde liegt, die Eindimensionalität, ja Eintönigkeit der Bilder, die wir von Afghanistan im Gedächtnis haben, geht sie auf ein Unvermögen zurück, uns an die Menschen dort – an die Leute, die Bürger in Afghanistan – anders als an Ausgelieferte oder Geflüchtete zu erinnern?

„Erinnere dich an mich“, verlangt ein Gedicht schon im Titel: „Als käme ich vom fernsten Punkt der Erde, | als würden meine Erinnerungen | weitab, unerreichbar | anderswo vergessen. | Das Gedächtnis der Welt wird bedrohlicher, | es ängstigt mich …“ heißt es dort, und: „Eine seltsame Vergesslichkeit hat die Welt erfasst.“

Doch wieviel kann nicht einmal vergessen werden von denen, die es nie gesehen haben, denke ich an unserem Cafétisch. Diesmal ist es Spätsommer in Berlin und es regnet wie in einem von Mariams Gedichten, in dem sie Kabul das Gesicht zuwendet wie eine Sonnenblume. Wir sprechen über die Ereignisse im fernen Kabul, über die Angst um die Angehörigen und Freunde dort, über das Chaos der Visabeantragung und die Hilfe aus Usbekistan – nicht aus Deutschland. Wir sprechen über das Viertel, in dem sie früher gewohnt hat, wo es Kaffeehäuser, Teestuben, Clubs und Galerien gab, doch bald wohl, vielleicht jetzt schon nicht mehr gibt.

Wie kann das Gedächtnis der Welt wachgehalten werden, frage ich mich später beim Lesen eines Briefs, in dem Mariam ihr Elternhaus beschreibt, dem sie nicht „Auf Wiedersehen“ sagen konnte und in dem sie ihre Ohrringe immer noch in demselben Schränkchen liegen sieht, die Sonnenblumen, die ihr Vater im Garten gesät hat und an die sie denkt, als hätte sie sie erst gestern gewässert: „Erinnerungen werden nicht obsolet. Menschen kommen zur Ruhe im Schatten ihrer Erinnerungen. Finden Zuflucht. Ein Gefühl von Sicherheit. […]. Die Vergangenheit und das Erinnern daran sind wie ein Fenster, durch das die Ereignisse von heute sichtbar werden.“, schreibt mir Mariam. Steht das im Widerspruch zu den Wänden, die von erinnerten Bombeneinschlägen beben? Oder geht es einfach um andere Erinnerungen? Weder noch. Es geht um das Erinnern als Bedingung für das Herstellen von Zusammenhang – und das Bewahren der eigenen Identität. „Bevor ich meine Einsamkeit in Koffer packte | und in diese Stadt mitbrachte, | war das Leben nicht eine unbehauste namenlose Frau.“: sich dessen, wie im Gedicht „Abschiedsbrief“, zu erinnern, ist überlebenswichtig.

Diese Erinnerungen sind keine Nostalgie, nichts Museales, sondern ein Prozess, etwas sehr Lebendiges, auch Forderndes. Sie „bewegen" uns, nicht nur emotional, sondern auch für oder gegen etwas. Der Blick auf das Gestern ist entscheidend für das, was heute geschieht, mit dem, mit der Einzelnen und durch sie.

„[...] als würden meine Erinnerungen | weitab, unerreichbar | anderswo vergessen.“ Dieser Vers von Mariam fordert meinen Widerspruch heraus, einen, so will es mir scheinen, auf den das Gedicht hofft: Nein, antworte ich in meiner jüngsten Mail, das werden sie nicht. Weil es zu den Wirkkräften von Gedichten gehört, das Erinnern nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, weil wir durch sie sogar etwas erinnern können, das wir nicht mit eigenen Augen gesehen haben und das uns dennoch sichtbar wird.

„[…] Als sei diese Stadt nicht | Geburtsort meiner Mutter, | dass ich ihre Straßen so sehr fürchte, | und ihre Bäume meine Einsamkeit nicht begreifen.“ Wann immer ich das jetzt lese, ist es, als öffnete sich für mich ein Fenster nach Kabul, „die traurigste Stadt der Welt“. Aber die Bäume dort werfen Schatten, raschelnde, vorstellbare Bäume in Kabul, das so mit einem Mal darstellbar wird, nicht nur zeigbar, sondern lebendig, wie jeder erinnerbare, jeder reale Ort.

 

 

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