Meine Freiheit ist betrunken und tanzt nackt
Kurz vor Neujahr bekam ich aus Schweden die Mitteilung, ich sei unter sechzig Literaten für ein Stipendium ausgewählt. Da war sie – die Freiheit! Ich genoss schon in Gedanken, wie ich an meinem neuen Buch über das Dorf Ažurajsci schreibe, über den Schriftsteller Adam Globus und hundert Gramm Wodka, über den Philosophen Ales Garbul und dessen wundertätige Weintrauben, über den Schriftsteller und Künstler Artur Klinaŭ und dessen Differenzen mit dem Provokateur Maksim Žbankoŭ, über die Holzbalken aus Lyntupy für das Dampfbad und über den Sanitärtechniker Sanja.
Beginn des Stipendiums sollte der 3. Januar 2022 sein, ein wirklich ungünstiger Zeitraum für eine Abfahrt. In Belarus wird am 1. und 2. Januar gefeiert, man trinkt Sekt und dazu gibt es Torte. Wie organisiere ich nur meine Abfahrt, ohne zu spät anzukommen? Keine leichte Aufgabe, ich mache mich mit Enthusiasmus ans Werk.
Ich höre mich bei ein paar Freunden um, sie geben mir den Rat, mir eine Dienstreise genehmigen zu lassen von dem Verlag, in dem ich arbeite, denn es könnte sein, dass den belarussischen Grenzbehörden meine Einladung zum Stipendium nicht ausreicht. Man muss wissen, wegen Covid haben die belarussischen Behörden die Ausreise aus dem Land eingeschränkt: Jetzt ist dies nur noch alle drei Monate möglich und man muss seine Reise rechtfertigen - mit einem Arbeitsvertrag oder als Geschäftsreise. Seltsame Geschichte, weil sie normalerweise die Einreise in das Land einschränken. Bestimmt eine politische Frage. So war es dann auch, mein Verdacht bestätigte sich - die Einladung haben sie sich nicht einmal angeschaut. Für die belarussischen Zollbeamten war eben die Dienstreise wichtig.
Ach, ja, was für ein wunderbares Wort – „Dienstreise“! Da bekommt man gleich Lust, es in Silben zu zerlegen: „Dienst-rei-se“. Es zischt wie billige postsowjetische Hotels oder eine lokale Limo, also Bier. Es verspricht schäbige Wände und seltene Tierchen - Kakerlaken. Träume von einer eigenen Dusche und Toilette. Worüber ich spreche? Du spazierst bis ans Ende des tunnelartigen Hotelkorridors und machst eine Entdeckung: Das ist der Ort, an dem deine Wasseranwendungen stattfinden werden. Und wage es bloß nicht, an einen schneeweißen Swimmingpool oder, Gott bewahre, an eine Badewanne zu denken - im besten Fall erwarten dich angegilbte, rissige Badfliesen. Aus irgendeinem Grund haben Zimmer in solchen Hotels altertümliche Deckenlampen, Spiegel und diese Nachtschränkchen mit den laut quietschenden Türchen aus der Zeit des real existierenden Sozialismus. Dienst-rei-se … Ja, solche Assoziationen habe ich. Was ich damit meine? Die belarussische Einöde und staatlich geführte Hotels. Aber ich will euch keine Angst einjagen, auch bei uns gibt es wunderschöne Landstriche.
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Belarus wollte die Impfstoffe aus dem Westen nicht, die die Europäische Union im Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ kostenfrei angeboten hat. Immerhin hat Lukaschenka erklärt, warum es keinen Sinn mache, Covid-Impfstoffe aus dem Westen nach Belarus zu importieren: „Die wollen, dass wir Pfizer, Johnson & Johnson, Moderna oder ähnliche Impfstoffe bei uns einführen. Wozu? Damit die [Oppositionellen] sich impfen lassen, einen Pass bekommen und dann – ab zu ihren Leuten! Sich vom Westen ‚impfen‘ lassen – dafür brauchen sie das! So ist es!“ Hm, nach diesen Worten fühlt man sich wie ein Verräter, der in das „feindliche Lager“ gewechselt ist. Ich wollte mich mit westlichen Vakzinen impfen lassen, aber es ging nicht. Und mit chinesischen Vakzinen oder mit dem russischen Sputnik wird man im Westen nicht reingelassen. Darum bin ich bis heute nicht geimpft.
In Minsk führen, neben staatlichen Dienstleistern, auch kommerzielle Anbieter PCR-Tests durch. Pech gehabt, am 1. Januar machen auch die zu. Weil in der Nacht zuvor ein Feuerwerk und Sektkorken durch die Lüfte pfeifen. Der Salat Olivier gewinnt, wie es so schön heißt. Es ist leichter, Wichtel in der Nacht aufzustöbern, als diesen geheimen PCR. Dieser PCR war zu einer gefährlichen Waffe geworden, einer Art Panzerfaust, verboten für den Verkauf.
Was tun? Ich kratze mich am Hinterkopf. Dann rufe ich im staatlichen „Städtischen Zentrum für Hygiene und Epidemiologie“ an. Sie raten mir, ohne Anmeldung beim Labor am Busbahnhof vorbeizukommen: „Manchmal nehmen die dort jemanden auch ohne elektronische Voranmeldung dran, wir sind ja alle bloß Menschen.“ Vorbeikommen, dann eben vorbeikommen. Einen Versuch war es wert. Ich mache mich auf den Weg. Vor dem Labor hat sich schon eine Menschenmenge versammelt, die wie ein Bienenstock summt. Die eine Hälfte der Wartenden mit Anmeldung, die andere ohne, aber alle scheinen auf etwas zu hoffen. Endlich geht es los, eine Laborantin kommt, die wie eine Möwe aussieht – in weißer Kleidung mit Schnabelhaube. Sie verkündet, unangemeldete Personen werden nicht angenommen. Da wettern die alle los! Eine junge Frau jault, sie müsse gleich in den Bus nach Moskau steigen, von dort habe sie ein Flugticket nach Deutschland. Jemand jammert, er müsse zu einer Hochzeit. Ein junger Mann beruft sich auf seine Alkoholsucht. Auf all das Gejammer reagiert die Laborantin ruhig, sie versichert, sie könne leider mit nichts behilflich sein, die Wartemarken für Freitag und Samstag seien morgens immer innerhalb von fünf Minuten weg.
Das war‘s dann wohl – Reise verschieben. Ich bin durcheinander, unglücklich. Vollkommen platt. In meinem Kopf - Indianer mit Tomahawks und Feuerbrünste. Die Reise ist futsch. Ich steige in die Straßenbahn Nummer 1, fahre nach Hause. Ich sollte mir heute aus Kummer Trickfilme anschauen. Plötzlich ruft mich meine Frau an und verkündet freudig, es sei eine Wartemarke aufgetaucht im Labor am Bahnhof und sie habe mich auch schon angemeldet. Oh, mein Gott! Annahme in dreißig Minuten! Ich stürze aus der Straßenbahn. Winke ihr zum Abschied. Sie antwortet mir mit ratternden Rädern. Und es scheint, als lächele sie mir mit metallischen Zähnen zu. Ich halte ein Taxi an und sause zum Bahnhof.
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Der negative PCR-Test ist – in meiner Tasche. Am liebsten hätte ich ihn geküsst, als sei er ein Schmuckstück, als sei er mein Zaubertrank gegen alle Krankheiten. Ich war zufrieden und satt von Freiheit, atmete auf wie ein Mensch, der soeben freigekommen ist. Am liebsten hätte ich die Arme ausgebreitet und aus voller Kehle geschrien: „Uga-aga!!! Uga-aga!!! Heureka!!! PCR!!! Du mein einzigartiger, heißgeliebter PCR!!! Uga-aga!!!“ Am Abend erfahre ich … In Schweden hat man sich um mich gekümmert, daher gibt es neue Covid-Einreiseregeln. Habe ich mich etwa geirrt, war ich unaufmerksam? Also doch, ich brauche einen neuen PCR-Test. Ich gehe alle Varianten durch. Mit dem Test kann man wohl nach Litauen einreisen, dort am Flughafen in Kaunas einen neuen Test machen lassen und die Reise nach Schweden fortsetzen. Es stellt sich heraus, dieser Test würde mich fünfzig Euro kosten – aber wäre sein Ergebnis auch rechtzeitig fertig? Das war die Frage. Der PCR-Test hüpft vor meinen Augen wie ein verzaubertes Bonbon, du lutschst es einen Tag, den zweiten, den dritten, aber du kannst es nicht auflutschen. Schließlich klebt die Zunge daran fest.
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Draußen gleicht der Schnee einem Spülschwamm, der nach Tränen dürstet. Ein Tag, der etwas verspricht. „Versprochen ist gebrochen.“ Am Ende - da bekommst du wieder dein Bonbon, bunt und köstlich. Die Online-Registrierung für PCR-Tests ist wieder verfügbar. Wieder – ins Taxi. Wieder – Freude. Endlich. Der Rucksack ist gepackt: Bücher, Notizblock, Kugelschreiber, Notebook, Talisman, Kleidung, Zahnbürste, Zahncreme, Brille, Shampoo, Bonbons, Servietten, Brote für unterwegs usw. Es kann losgehen. Was noch - eine Tasse Kaffee, ein Kuss von den Lieben, ein Lächeln vom Gemälde mit dem Insekt. Und los.
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Kurz vor der Abfahrt bekomme ich ein Papillom, ich gehe zur Apotheke und kaufe ein ukrainisches Präparat. Ich entferne es, woraufhin meine Frau meint, ich rieche widerwärtig nach Medizin und werde alle Mitreisenden im Bus verschrecken. „Mir doch egal“, entgegne ich und breche auf. „Pass auf!“, warnt sie mich geheimnisvoll. „Das könnte ein böses Omen sein!“
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Was ist das eigentlich – Freiheit? Vielleicht ist sie eine Art Beefsteak, das auf dem offenen Feuer gebraten werden muss? Pfeffern, salzen, eine Handvoll Worte, ein Dutzend Metaphern, Schmerz und Schreie darüber gestreut, etwas Wahrheitssoße aus dem Fläschchen? Ich weiß es nicht, ich erahne es nur. Vielleicht tanzt meine Freiheit, betrunken und nackt, mit bloßen Füßen in der heißen Pfanne? Immer wieder versuche ich sie zu verstehen, sie hin und her zu wenden, zu begreifen. Von Zeit zu Zeit scheint es mir, als habe ich meine eigene geheime Formel für die Freiheit gefunden. Im nächsten Moment merke ich, dass ich mitten im Nebel stand, der sich auch schon wieder verflüchtigt hat.
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Drei Uhr nachts. Weil mir die westeuropäische Impfung fehlt, muss ich an der litauischen Grenze aus dem Bus Richtung Flughafen raus.
Der litauische Grenzbeamte stellt klar: „Dafür sind wir doch da. Neulich waren hier Sportler zu uns auf dem Weg, die haben wir auch nicht reingelassen. Keine Sorge, Sie bekommen schon Ihren Stempel der Kategorie ‚I‘ in den Ausweis, damit können Sie uns wieder besuchen.“
Ich bekam meinen Ausweis mit dem Stempel „MEDININKAI” zurück, mit der Einreiseverweigerung und der Kopie einer Erklärung, die ich unterschrieb. Der Grenzbeamte führte mich nach draußen, wo es in Strömen regnete, und deutete in Richtung belarussische Grenze: „Sie müssen dorthin. Gehen Sie zum Licht. Aber Vorsicht, es ist ziemlich glatt.“ Ich dankte ihm für seine Fürsorge und erkundigte mich: „Vielleicht bringen Sie mich rüber?“ Der Grenzbeamte warf ein: „Würde ich ja gern, aber die Autos fahren nicht in die belarussische Richtung.“ Ich seufzte und lief durch das nächtliche Niemandsland zwischen zwei Ländern und fragte mich: „Sind denn wirklich alle Autos der litauischen Grenzer kaputt?“ Der Weg war eine einzige Eisbahn, der Regen hörte nicht auf. Allmählich wurde mir klar, ohne Abenteuer komme ich nicht an. Eine Zeit lang schaffte ich es, mich am Grenzzaun festzuhalten und nicht hinzufallen, aber manchmal verhinderten tiefe Pfützen, dass ich mich festhalten konnte. Im nächsten Moment rutschte ich aus, verlor das Gleichgewicht und krachte mit ganzer Wucht auf den Rücken. Während ich hinfiel, versuchte ich noch, wie die meisten Menschen, die nicht daran denken, dass sie sich ihre Knochen brechen könnten, mich mit den Händen abzustützen. Leider. Die linke Handwurzel durchfuhr ein verdächtiger Schmerz. Schon wieder - ein Bruch? Ausgerechnet, wie vor zwei Jahren, als ich mir die Hand an der derselben Stelle gebrochen hatte, auch damals war es glatt. Auf dem Rücken eben mein Schriftsteller-Notebook im Rucksack, ich war direkt darauf gestürzt. War es entzweigegangen, wie meine Hand? Ich lag im Dunkeln zwischen den litauischen und belarussischen Grenzsoldaten und schaute in den Himmel. Keine Sterne zu sehen, es regnete noch immer. Und in diesem Moment kam es mir so vor, als sei sie hier, die lang ersehnte Freiheit – hier, auf neutralem Territorium. Wassertropfen rannen mir über das Gesicht und mir war, als tasteten die unsichtbaren Hände des Grenzbeamten meine Haut nach Covid-Symptomen ab. Mühsam erhob ich mich, lachte dumpf in mich hinein und lief auf den belarussischen Grenzsoldaten zu – „weg vom vergammelten Westen – in das belarussische Paradies“.
Die Zugvögel kehren aus dem Süden zurück … Hier ist es umgekehrt – sie ziehen weg. Statt mit den Wildgänsen zu fliegen, fülle ich weiße Formulare für Fahrkarten aus, verziert mit schwarzen Buchstaben. Sie haben sich heute auf eine weite Reise begeben, ohne mich. Sie winken mit Papierflügeln und fiepen wie Fledermäuse. Ich sehe, wie sie die wunderschönen Städte – Vilnius, Kaunas, Göteborg – überqueren und sich sanft auf den Wetterfahnen des alten Åmål niederlassen. Sie sind dort und ich bin hier in Minsk.
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Ich überlege: Vielleicht verwandle ich mich einfach in eine Malariamücke und fliege in ein tropisches Land? Das schont die Nerven, man braucht keinen Alkohol, keine Visa, PCR-Tests, Fahrkarten. Moment mal, und die Versicherung? Vielleicht bekomme ich sogar einen Ausgleich für die nicht stattgefunden habende Reise? „Ha-ha, was für ein Naivling!“, würden die Leute sagen.
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In Lettland war ich mehrmals. Besonders der Rigaer Markt hat sich mir eingeprägt, diese unglaubliche Vielfalt an Meeresfrüchten. Die schönsten Prachtstücke waren, wie ich finde, die zahlreichen Aale. Sie ringelten sich gleich Schlangen in den verschiedensten Schattierungen und Längen um die Tische der Marktstände. Dazu dieser unvergessliche Geruch nach fettem Fisch.
Vielleicht fahre ich über Lettland? Warum nicht? Würde mich freuen, Riga wieder zu sehen. Ich rufe in der lettischen Botschaft an, man teilt mir mit, dass ich keine Probleme mit einem PCR-Test bekäme, der achtundvierzig Stunden gültig sei, damit könne ich die Grenze passieren. Ich solle am besten die Grenzkontrolle vor Ort konsultieren und bekomme eine Telefonnummer. Ich wähle. Der Grenzwächter hört sich das Problem an, erkundigt sich nach der Kategorie des Visums, und als er erfährt, dass darin ein „C“ eingetragen ist, stellt sich heraus: Ich habe nicht das Recht, ihre lettische Grenze ohne ein zusätzliches Begleitdokument zu überqueren. Das Ausstellen des Dokuments nehme ungefähr dreißig Tage in Anspruch. Unglaublich! So ein Mist, was soll ich mit euren dreißig Tagen - da ist mein Aufenthalt in der Schriftstellerresidenz längst vorbei! Danke, Freunde. Vielleicht verwandle ich mich in einen Aal und schwimme die Flüsse hoch bis zum ersehnten Baltikum? Hmh?
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Ich höre mich bei ein paar schwedischen Freunden um, sie bestätigen, eine Garantie für meine Einreise nach Schweden gibt es nirgendwo. Selbst, wenn ich über Moskau fliege. Auch dann müsste ich vielleicht wieder raus, denn der schwedische Grenzschutz treffe die Entscheidung vor Ort. Zusätzlich müssten die Kuratoren der Schriftstellerresidenz in einem Schreiben zusichern, dass sie sich, im Falle schwerwiegender Probleme, kümmern würden. Ach, so war das! ... Und jetzt wie? Sollte ich etwa hinkriechen oder fliegen? Erst Kakerlake, dann Schmetterling? Davonschwirren auf der Fähre in einer Mandarinenstiege?
Meine Nerven sind heiße Drähte in einer Glühbirne und leuchten gleich einer Lichterkette zum Neujahrsfest.
Eine Sache war es, von der belarussisch-lettischen Grenze zurückgeschickt zu werden. Eine andere würde es sein, über Moskau zurückgeschickt zu werden. Dort sind die Tickets um ein Vielfaches teurer, der Reiseweg länger. Wer hier hinfällt, der bricht sich das Genick.
Der ist nicht nur ein weiches Ei, sondern wird zum weichgekochten Ei. Tja.
Was könnte mich erlösen? Einige Bekannte erzählten, sie hätten sich in der Ukraine impfen lassen. Aber das ginge erst in der Zukunft, im Moment war nicht daran zu denken.
Deshalb liegt meine Erlösung in meinen neuen Texten. Auch wenn mein Buch gerade nicht so vorankommt, wie für den Aufenthalt in der Künstlerresidenz geplant. Artur Klinaŭ steckt weiterhin im Künstlerdorf Kaptaruny fest, schlürft Kaffee und schreibt an seinem Werk „Lokisaŭ“, während Maksim Žbankoŭ in Minsk auf der Kinderbuchmesse Canapés reicht. In Gedanken gehe ich in das Jahr 2018 zurück. Der Sanitärtechniker Sanja ist noch immer nicht im Laden angekommen, um das Hauptrohr für die Leitung zu besorgen. Dafür wachsen im Manuskript täglich die Buchstaben, Wörter, Sätze – es geht voran. Bald ist hier ein Garten mit Apfelbäumen angelegt. Die reifen Äpfel werden wie kleine Bälle herabfallen. Und bald – wird ein großer Künstlerapfel, auch Globus genannt, ein Glas Wodka erheben, wie in den 1990er Jahren im Haus der Schriftsteller in Minsk. Und später wird der Geist des Künstlers Anatoli Sys mit einer Flasche Beerenwein in der Tasche auftauchen. Ganze Züge von Erinnerungen brechen immer neue Tunnel in meinen Kopf. Ich nehme vor dem Spiegel eine Boxerpose ein und versetze dem jungen Mann einen linken Haken.
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Wikipedia hält fest, dass Åmål unter der Regentschaft von Königin Kristina (1632–1654) gegründet wurde, am 1. April 1643 die Stadtrechte erhielt und sich zu einem wichtigen Umschlagplatz für den Handel von Westvärmlander Eisen und Holz entwickelte. In meinen Träumen sehe ich mich durch die Straßen der Stadt schlendern. Ich lausche der durchdringenden Stille. Der ideale Ort für die Arbeit von Schriftstellern und Künstlern … Vielleicht auch für Sanitärtechniker? Eine wunderbare Synthese von Natur und Stadtdschungel. Wie geschaffen zum Meditieren. Morgens gehe ich joggen. Auf dem Rückweg kehre ich in ein Kaffeehaus ein.
Wikipedia hält fest, Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Eisenbahnwerkstätten nach Åmål verlegt und die Stadt an die Eisenbahn (an die Bergslagsbanan) angeschlossen, wodurch sie sich zu einem industriellen Zentrum entwickelte. Heute ist Åmål eine bedeutende Industriestadt.
In meinen Träumen sehe ich aus Stein erbaute Brücken und Häuser. Die Schreie der Vögel zerreißen die Stille. Ich nehme einen Meißel und einen Hammer zur Hand, versuche aus den Steinen die Skulptur einer Schüssel herauszuschlagen – das Symbol der literarischen Künstlerbewegung Bum-Bam-Lit.
Das Internet grunzt vor sich hin, aktuell -1 Grad Celsius in Åmål, gefühlte Temperatur: -7.
Ich bin immer noch hier in Minsk, mit einer Bandage am linken Handgelenk (im Röntgenbild war zu erkennen, dass ich mir an der Grenze einen Bänderriss zugezogen hatte), und sauge an der Illusion der Freiheit. Was ist die Freiheit? Eine Zigarre? Ein Schluck Whiskey? Ein Glücksspiel? Tänze am Nacktbadestrand? Ein Spaziergang mit der Liebsten? Mit der Tochter zur Schule schlendern? Das Rauschen der Meereswellen? Wolfsgeheul? Eine Prügelei mit einem Polizisten? Herumlästern? Eine Rauferei? Gedichte vortragen vor dem Gebäude des KGB? Jeder von uns wird diese Frage auf seine Weise beantworten. Eine eindeutige Antwort habe auch ich nicht. Die Freiheit hat viele Gesichter. Heute jedenfalls denke ich über mein neues Buch nach und über die geheimnisvolle schwedische Stadt Åmål.
Werden wir uns jemals begegnen?
PS: Im Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen und die EU hat ihren Flugverkehr aus und nach Russland gesperrt. Ich bin hier und überlege, vielleicht sollte ich mich über Georgien nach Åmål durchschlagen?