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Ajahs Kanal

Fatema Key (Pseudonym)
© Gazelle Samizay, Fotografie, Titel: Ravel (2014)

Es war noch sehr früh am Tag. Durch die Luke im Kuppeldach des Lehmhauses fiel spärliches Licht ins Zimmer. Ajah Ayub stand im Licht des dämmernden Tages vor ihrem mit Grasgeflecht dekorativ umrahmten Spiegel und kämmte sich. Sie teilte ihr schwarzes, in der Stirn schon ergrautes Haar in zwei Stränge, flocht vor der Brust zwei Zöpfe, verband die schmalen Enden miteinander und warf den Zopf wieder auf ihren Rücken. Sie setzte ihre schöne grün-gelbe Wollhaube auf, unter der ihr graues Stirnhaar hervorschaute, schlang ihr rotgeblümtes Baumwolltuch um Kopf und Schultern und ging nach draußen. Hahn und Hühner waren schon auf den Beinen, spazierten über den Hof und pickten neugierig an allem, was ihnen unter die Schnäbel kam.

Ajah ging in die Küche, nahm zwei Stück Brot aus dem Tuch, in das es eingeschlagen war, goss Wasser in einen Krug, verschloss ihn mit einem Stück Leder und stellte beides draußen bereit. Aus der Scheune holte sie ihre Schaufel und ihre Spitzhacke und platzierte beide neben ihrem Proviant. Dann ging sie in den Stall, holte ihr Maultier, band ihm die Packtasche um, verstaute Werkzeug und Wegzehrung darin und brach, das Tier am Zügel führend, auf. Unterdessen lag das Dorf noch schlafend. Oberhalb des Dorfs ermaß Ajah den vom Erdbeben verursachten Schaden. Sie seufzte. Zu beiden Seiten des Wegs eingestürzte Mauern, manche Häuser ganz fortgerissen. Einst hoch aufragende Bäume standen, halb entwurzelt, stark geneigt, die Äcker waren leergefegt.

Ajah hatte Khalils Stimme noch im Ohr. Der alte Dorfvorsteher hatte gewettert: „Bist du denn ganz bei Trost, Ajah? Wie kannst du von Hochwasser reden, von Flut? Vom Gräbenziehen? Ich bin hier alt und grau geworden und kann mich nicht erinnern, jemals eine Flut erlebt zu haben. Wo denkst du hin?“

Ajah hatte ihm seelenruhig geantwortet: „Als ich in den Albors-Bergen Heilpflanzen sammeln war, habe ich gesehen, was das Beben angerichtet hat. Es hat die Erde gespalten und Teile des Dorfs zerstört. Und wenn, Gott bewahre, der nächste Starkregen kommt oder die Schneeschmelze, dann fließt das Wasser durch diese Kluft direkt in unser Dorf. Wenn du meinen bei klarem Verstand gesprochenen Worten nicht glaubst, dann steig auf dein Maultier und schau dir mit eigenen Augen an, was passieren kann. Vielleicht glaubst du mir dann.“

„Und was sollen wir jetzt machen, deiner Ansicht nach?“

„Wir müssen Gräben anlegen, das Wasser umleiten.“

„Wer soll die Gräben denn ziehen? Es ist doch kein Mann mehr im Dorf. Du hast selbst gesehen, dass sie alle eingezogen wurden. Du glaubst doch nicht etwa, dass jetzt Kleinkinder und Greise zu Spitzhacke und Schaufel greifen?“

„Es gibt genug Frauen hier, die das übernehmen können.“

„Und wer macht die Feldarbeit, hütet die Kinder, wer kocht und wer backt Brot, wenn die Frauen Gräben ausheben?“

„Wir wechseln uns ab.“

„Ajah, bei Gott, du redest Unsinn. Können Frauen überhaupt mit Schaufel und Spitzhacke umgehen?“

***

Die Sonne stand hoch am Himmel. Ajah hatte das Dorf hinter sich gelassen und die Ebene am Fuß des Bergs erreicht. Alles Grün war vom Hochwasser fortgeschwemmt, nur eine Schlammwüste übriggeblieben. Ajah hielt ihr Maultier an und betrachtete die Kluft, die seit dem Beben im Berghang klaffte. Sie nahm dem Tier die Packtaschen ab, knotete ihr Kopftuch fester, krempelte die Ärmel hoch, ging ans Ende der Erdspalte und machte sich mit Schaufel und Spitzhacke ans Werk.

,Ajah’ bedeutet Großmutter. Dem Brauch nach wird eine Großmutter nach ihrem ältesten Sohn benannt. Ajah aber hatte nie einen Sohn, nach dem man sie Ajah Ayub, Großmama Hiob, hätte nennen können. Sie war mit fünfunddreißig Jahren bereits ergraut. Die Leute im Dorf nannten sie Ajah Ayub, weil sie ein schweres Leben hatte. Auch Hiob war ja von Gott schwer geprüft worden, um seine Gottesfurcht unter Beweis zu stellen. Er nahm Gottes schwere Schicksalsschläge hin, ohne ihn zu verfluchen.

Ajah kam im Jahr 1284 – nach christlicher Zeitrechnung 1905 - zur Welt. Als sie sieben Jahre alt war, brach in der Provinz Balkh die Tuberkulose aus. Ajahs älterer Bruder und seine Frau erlagen der Krankheit schnell. Als auch ihre Eltern erkrankten, war niemand bereit, sich um sie zu kümmern. Die Angst vor Ansteckung war zu groß. Für Ajah war diese Zeit besonders schwer. Der Einzige, der ihr damals beistand, war der Mullah und Imam des Dorfs. Er half ihr, die Eltern zu pflegen, doch ohne Medikamente und angemessene Behandlung starben auch sie bald. Der Mullah nahm Ajah daraufhin in seine Obhut und sorgte zwei Jahre lang für sie. Weil er kaum Zeit hatte, auf Ajahs ererbten Äckern Landwirtschaft zu betreiben, pflanzte er Obstbäume und Ajah half ihm dabei. Leider war auch dem Mullah kein langes Leben vergönnt. Er starb in einem sehr kalten Winter, in dem der Schnee hüfthoch lag. Ajah war damals neun Jahre alt.

Nach des Mullahs Tod nahm Jussef, der Dorfvorsteher, Ajah bei sich auf. Er hatte drei Frauen und neun Söhne, aber keine Tochter. Ajah wuchs ihm so sehr ans Herz wie eine eigene Tochter. Er sorgte gut für sie, schenkte ihr Kleider, nahm sie mit auf Reisen und verbrachte so viel Zeit mit ihr, dass seine drei Ehefrauen bald eifersüchtig wurden. Sie zwangen Ajah, jung wie sie war, das ganze Haus und den Hof zu putzen. Als dem Dorfvorsteher eines Tages auffiel, dass Ajah tagein, tagaus beschäftigt war, rief er seine drei Frauen zu sich und befahl ihnen, das arme Waisenkind wie ihre eigene Tochter zu behandeln. Die Frauen fügten sich zum Schein und versprachen, Ajah keine Arbeit mehr aufzuhalsen. Wieder fiel dem Dorfvorsteher erst nach geraumer Zeit auf, dass er Ajah nur selten zu Gesicht bekam. Wann immer er nach ihr gefragt hatte, hatten die Frauen geantwortet, dass sie schlafe oder mit den Nachbarskindern spiele. Der Dorfchef hatte ihnen jedes Mal geglaubt und Ajah hatte sich nie über die strengen Frauen beklagt. Als Jussef Ajah eines Tages um Tee bat und sie ihm den Tee reichte, fiel sein Blick auf ihre stark geröteten Hände, die wundgescheuert waren und voller Schwielen. Er fragte sie, womit sie sich tagsüber die Zeit vertreibe, und sie sagte ihm das, was er auch von seinen Gattinnen stets hörte: „Ich schlafe oder spiele mit den Nachbarskindern.“ Weil er die Schwielen bedenklich fand, fragte er Ajah, was sie denn spiele, das ihre Hände so rot und wund machte? Aber Ajah mochte ihm nicht aufrichtig antworten, das erkannte der Dorfchef und drängte sie nicht.

Am nächsten Morgen ging er auf die Suche nach ihr, in der Speisekammer, in der Scheune, in der Küche. Dort fand er sie, die kleine Ajah, die unter großer Anstrengung Unmengen Brotteig knetete. Er nahm sie bei der Hand, führte sie in den Hof und rief seine drei Frauen zusammen. Die eilten aufgeschreckt herbei. Ihr Mann drohte ihnen im Zorn: „Wenn ihr dieses Kind weiterhin Teig in solch großen Mengen kneten lasst, dann lasse ich mich von euch scheiden.“ Als die Frauen in lautes Wehklagen ausbrachen, beschwichtigte Ajah den Dorfvorsteher: „Ich habe sie selbst darum gebeten, mir Arbeit zu geben, weil ich ein schlechtes Gewissen hätte, die Hände untätig in den Schoß zu legen.“

Dem Dorfchef war sehr wohl bewusst, dass Ajah seine Frauen vor der Scheidung bewahren wollte. Er tobte: „Die Frauen müssten von Gewissensbissen geplagt sein. Zu dritt halsen sie dir allein Schwerstarbeit auf.“

Die drei Frauen flehten um Nachsicht und der Dorfvorsteher verzieh ihnen, weil Ajah ihn darum bat. Nun schien alles wieder im Lot. Doch dem Dorfchef blieb nicht verborgen, dass seine drei Angetrauten von Tag zu Tag eifersüchtiger auf Ajah wurden und ihr das Leben beim kleinsten Anlass schwermachten. Also beschloss er, Ajah mit zwölf Jahren dem Sohn von Mirza Hakim zur Frau zu geben. Mirza Hakim war ein gebildeter Mann. Er hatte sechs Kinder, unter ihnen Mirza, seinen einzigen Sohn. Seine Töchter waren bereits alle verheiratet.

***

Als die jungen Hirten Ajah im Tal sahen, trieben sie ihre Herden zu ihr hin, und während sie näherkamen, rief einer von ihnen: „Bist du das, Ajah Ayub?“

Ajah setzte ihre Spitzhacke ab und rief lachend: „Wer denn sonst?“

Die jungen Hirten liefen ihr freudig entgegen. Als sie die Spitzhacke sahen, fragten sie: „Was machst du da? Wieso gräbst du den Boden um?“

Ajah deutete auf die durch das Erdbeben entstandene Kluft und sagte: „Ich ziehe einen Wassergraben, damit unser Dorf von der nächsten Regenflut verschont bleibt.“

„Im Ernst?“, fragten die Hirtenjungen gut gelaunt.

„Ja, im Ernst.“

Die Hirten sammelten trockene Zweige und Gesträuch, entzündeten ein Feuer und setzten einen Kessel mit Wasser auf. Der Tee war bald bereitet und sie luden Ajah ein, sich zu ihnen zu setzen. Sie legte ihre Spitzhacke beiseite, brachte ihren Krug Wasser und ihr Brot und breitete ihr Tischtuch aus. Der älteste der jungen Hirten nahm Ajahs Spitzhacke zur Hand und schlug sie in den Boden. Nach dem zweiten Hieb fragte er erstaunt: „Wieso ist die Erde hier so hart?“

Ajah lachte: „Wir sind an einem Berg. Hier ist die Erde steinhart.“

Die anderen Jungen setzten sich um Ajahs Tischtuch und teilten ihr Brot mit ihr. Einer wollte wissen:

„Wie lang wird’s dauern, bis dein Graben gezogen ist?“

Ajah zuckte mit den Schultern: „Das weiß ich nicht. Ich arbeite allein, das dauert sicher lang.“

„Wir helfen dir“, boten die Jungen an.

Das freute Ajah und sie trank erleichtert ihren Tee.

Sie war sehr beliebt im Dorf, weil sie die größten Gärten hatte und alle Dorfbewohner einlud, ihr bei der Obsternte zu helfen. Morgens spendierte sie ihnen dafür Suppe, abends durften sie Obst mit nach Hause nehmen.

***

Die Sonne war schon fast untergegangen, als Ajah ihre Sachen packte und sich auf den Heimweg machte. Als sie im Dorf ankam, war es dunkel. Sie hatte gerade die Packtasche geleert, da hörte sie jemanden das Hoftor öffnen. Sie wandte sich um und sah Schabirs Mutter.

„Guten Abend, Ajah, ich war schon zweimal hier, aber du warst nicht zu Hause.“

„Das stimmt“, nickte Ajah, „ich war unterwegs. Geht’s dir gut?“

Schabirs Mutter kam rasch auf Ajah zu und sagte: „Meine Schwiegertochter verlangt nach dir.“

Ohne ein Wort zu sagen, begleitete Ajah Schabirs Mutter nach Hause. Schabirs Mutter wies ihr den Weg in das Zimmer, in dem die Schwiegertochter lag. Ajah bat um saubere Tücher und warmes Wasser und schloss die Tür hinter sich. Die Schmerzensschreie der Schwangeren hallten durchs ganze Haus. Nach einer halben Stunde aber war wieder Ruhe eingekehrt.

Ajah hatte die Geburtshilfe von ihrer Schwiegermutter Hamira erlernt. Hamira war bisher die einzige Hebamme im Dorf. Sobald eine werdende Mutter kurz vor der Entbindung stand, wurde Hamira gerufen, zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Ajah begleitete sie oft und ging ihr zur Hand.

Es ließ Hamira keine Ruhe, dass Ajah nicht auch Mutter wurde. Sie sprach das Thema immer wieder an.

„Von morgens bis abends holst du anderer Leute Kinder auf die Welt, aber du selbst bekommst kein Kind?“

„Wieso kriegst du selbst nicht noch eins?“

„Gott hat mir einen Sohn geschenkt und ich hoffe, ich erlebe auch, dass er einen Erben bekommt, verstehst du?“

Und nach einer kurzen Pause sagte sie noch: „Frauen, die nach dir geheiratet haben, haben jetzt schon zwei Kinder. Weshalb machst du keine?“

„Woher eines nehmen, wenn Gott mir keines schenkt?“

Worauf Hamira jedes Mal erwiderte: „Wenn das so weitergeht, ich schwör’s bei Gott, dann such ich Hakim eine andere Frau.“

Hamiras ständige Sticheleien brachten Hakim schließlich dazu, sich von Ajah abzuwenden.

Jedes Kind, dem Ajah auf die Welt half, machte sie trübsinnig, doch sie ließ sich nichts anmerken. Ihre Schwiegermutter indes machte ihr die Hölle heiß. Und als Ajah zwei Jahre nach ihrer Hochzeit noch immer nicht guter Hoffnung war, beschaffte Hamira ihrem Sohn eine Zweitfrau. Leila war außerordentlich schön, aber auch überheblich. Sie ließ Ajah immer wieder spüren, dass sie mit Kinderlosigkeit geschlagen, überdies eine Waise war, ohne Verwandte, ohne Wurzeln. Sie nannte sie ,die Entwurzelte’. Ajah fühlte sich gekränkt, trug Leilas Anfeindungen aber mit Fassung und widersprach ihr nie. Zugleich betrübte es sie, dass Hakim sich von ihr abwandte und nur noch Zeit mit Leila verbrachte. Nicht selten hörte Ajah sogar, dass die beiden viel Spaß miteinander hatten. Wenn sie abends zu Bett ging, traurig und einsam, weinte Ajah sich leise in den Schlaf.

***

Am nächsten Tag nahm Ajah auch Mandeln und Rosinen mit zur Arbeit. Als die Hirtenjungen Tee bereiteten, gab sie ihre Mandeln und Rosinen aufs Tischtuch, für alle. Manche Jungen hatten getrocknete Molke mitgebracht. Die legten sie zu den Trockenfrüchten, nur für Ajah, so sagten sie, weil sie wussten, Ajah hatte kein Geld, und weil sie auch kein Vieh besaß, bekam sie Joghurt und Quark von ihren Nachbarn.

Ein Junge sah Ajah an und fragte mit vollem Mund: „Hast du wirklich keine Kinder?“

„Ihr seid meine Kinder“, antwortete sie ihm lächelnd. „Mindestens die Hälfte von euch habe ich auf die Welt geholt. Ich war eure Hebamme.“

„Nein, nicht nur unsere Hebamme“, lachten die Jungen. „Du bist unsere Ajah!“

***

Drei Jahre war Hakims zweite Hochzeit nun her. Doch auch diese Ehe blieb kinderlos. Nun stand zweifelsfrei fest, das Problem lag bei Mirzas Sohn. Was Hamira nicht wahrhaben mochte. Irgendwann geriet sie mit ihren Schwiegertöchtern in einen heftigen Streit. Mit ihrer Geduld am Ende, fragte sie Mirzas Ehefrauen: „Was habt ihr zwei eigentlich die ganze Zeit gemacht? Keine von euch hat Hakim ein Kind geschenkt. Nutzlos seid ihr, denkt nur ans Essen und Schlafen. Frauen seid ihr nicht geworden, sonst wärt ihr längst schwanger. Jetzt kann ich nur noch auf Neffen hoffen. Selbst Tiere bringen einem mehr! Wenn man ein Tier nicht mehr nutzen kann, kann man’s wenigstens schlachten und hat Fleisch zu essen.“

Als Leila das hörte, wurde sie wütend. Sie schrie Hamira an: „Hast du Verstand im Kopf, ja? Weißt du überhaupt, was du da sagst? Du vergleichst uns mit Tieren? Wenn du zwei Frauen im Haus hast und keine wird schwanger, dann muss dir klar sein, woran das liegt. Bei deinem Sohn ist der Ofen aus. Überhaupt hätte man sich ja denken können, was hier Sache ist, weil du nur ein Kind hast. Was ist mit dir? Wieso hast du nicht mehr Kinder? Mit deinem Sohn stimmt was nicht, aber uns bürdest du die Schuld dafür auf. Wenn du bei Verstand bist, gehst du und lässt deinen Sohn behandeln, damit er Vater werden kann. Du hast ihm zwei Frauen besorgt, aber selbst wenn du ihm tausend Frauen bringst, hilft ihm das nichts.“

Hamira machte wutentbrannt einen Schritt auf Leila zu, wollte sie ohrfeigen und stürzte zu Boden. Leila blieb ungerührt, während Ajah zu Hamira eilte und ihr aufhelfen wollte. Doch Hamira hauchte dort auf der Stelle ihr Leben aus.

Sie war noch kein Jahr tot, da beschloss Hakim, nach Tscharkint zu reisen. In dem Bezirk gab es einen Medizinkundigen, von dem es hieß, er könne jedes Problem lösen. Unterwegs in der zerklüfteten Bergregion stürzte Hakim, er brach sich das Genick und blieb fortan gelähmt. Als Leila erkannte, dass ihr Mann nicht wieder genesen würde, versammelte sie die Dorfgemeinde bei Hakims Vater und klagte: „Ihr Leute, mein Leben in diesem Haus steht unter keinem guten Stern. Jetzt ist mein zeugungsunfähiger Mann auch noch gelähmt. Womit habe ich in meinen jungen Jahren ein so schweres Leben verdient, mit einem gelähmten Mann, der keine Kinder zeugen kann? Ich könnte mir ein eigenes Leben aufbauen, Kinder bekommen, Kinder großziehen. Ich will die Scheidung! Auf keinen Fall vergeude ich den Rest meines Lebens an der Seite einer Leiche. Hier in diesem Haus habe ich meine besten Jahre ohnehin schon vertan.“

Mirza wurde sehr traurig, als er Leilas Worte hörte. Vor allen Leuten rügte er sie: „Dass du die Scheidung willst, hättest du mir doch unter vier Augen sagen können. Weshalb musstest du’s vor allen Leuten sagen und mich so in Verlegenheit bringen?“

Leila rechtfertigte sich: „Wenn ich’s dir allein gesagt hätte, hättet ihr vielleicht nur zum Schein eingewilligt und mir nachher jede Menge Ärger eingebrockt. Ich musste die Sache öffentlich machen, damit alle sehen können, dass ich einen Scheidungsgrund habe.“

Hakims Vater brachte Stift und Papier und setzte mit dem Einverständnis seines Sohnes unverzüglich die Scheidungsurkunde auf. Keine zwei Stunden später nahm Leila ihre längst gepackten Sachen, bestieg ein Fuhrwerk und entschwand. Die Dorfgemeinde hatte sich inzwischen zerstreut. Der Mirza ging ins Haus und sah Ajah in der Küche Essen zubereiten. „Komm“, bot er ihr an, „lass du dich auch scheiden. Auch du sollst deine jungen Jahre nicht an Hakims Seite vergeuden.“

Lachend sah Ajah ihn an: „Meine jungen Jahre sind doch längst vorbei. Siehst du nicht, wie grau mein Haar schon ist?“

„Du bist noch immer jung“, entgegnete der Mirza, „lass dich scheiden, du kannst jemand anderen heiraten und Kinder bekommen. Es wäre schade, dein Leben hier zu vertun.“

Als Ajah sah, dass es dem Mirza ernst war, fragte sie: „Was wird aus dir und Hakim, wenn ich gehe?“

„Ich bin ja noch da“, sagte der Mirza. „Ich kann mich um Hakim kümmern. Hier, schau, ich stelle dir eine Scheidungsurkunde aus, damit du ein neues Leben anfangen kannst.“

Ajah behielt den Topf auf der Feuerstelle im Blick und sagte: „Jahrelang wart ihr meine Familie, wieso soll ich euch jetzt einfach verlassen? Und wo soll ich überhaupt hingehen? Ich kann doch nirgendwo sonst hin. Ich bleibe hier. Ich habe keinen Grund, zu klagen. Mein Leben, so wie es jetzt ist, war sicher vorherbestimmt.“

Der Mirza war noch immer nicht überzeugt: „Du könntest dir ein neues Leben aufbauen, Ajah. Du könntest heiraten, Mutter werden, niemand zwingt dich, hier allein zu bleiben.“

Ajah ließ sich nicht umstimmen. Mit Tränen in den Augen beteuerte sie: „Nein, ich verlasse euch nicht. Ich habe nur euch, ich gehe nicht weg von hier. Ihr seid meine Familie. Wer lässt seine Verwandten in schlechten Zeiten einfach im Stich? Ich jedenfalls nicht.“

Ajah ließ sich nicht scheiden. Sie kümmerte sich um Hakim und erwartete weder von ihm noch von seinem Vater Dank dafür. Der Mirza teilte sein Vermögen und seine Ländereien unter seinen Kindern auf und schrieb Hakims Anteil Ajah zu.

Und da Ajah allein war und die Feldarbeit sie überfordert hätte, pflanzte sie auf ihren Feldern Obstbäume, Bäume aller in der Provinz wachsenden Sorten. Ajahs Obstplantagen waren die größten in ganz Balkh. Wer von den Albors-Bergen hinunter ins Tal schaute, der sah vor allem Ajahs Obstgärten.

***

Als Ajah nach Hause kam, warteten Leute aus dem Dorf vor ihrer Tür. Ajah begrüßte sie und band ihr Maultier an. Schabirs Mutter fragte: „Wo bist du in letzter Zeit, wenn du nicht zu Hause bist?“

Ajah setzte sich zu den anderen: „Ich gehe in die Berge, dort habe ich zu tun.“

Ein Dorfbewohner fragte sie direkt: „Legst du einen Wassergraben an?“

Ajah nickte, sagte jedoch nichts.

Ein anderer Dorfbewohner wollte wissen: „Wozu soll das gut sein?“

Ajah sagte: „Jedenfalls ist es besser, als die Hände in den Schoß zu legen.“

Schabirs Mutter reichte Ajah ein Glas Tee und sagte: „Ich begleite dich morgen.“

„Nein“, sagte Ajah, „ihr müsst euch um die Felder kümmern, müsst pflügen. Ich komme allein zurecht.“

„Wie willst du ganz allein so einen Graben anlegen?“, fragte Schabirs Mutter leise.

Ajah schwieg und schaute zur Kochstelle. Die Nachbarinnen hatten ihr Essen und Tee zubereitet.

Am nächsten Morgen brach Ajah früher auf als sonst. Während sie in ihre Arbeit vertieft war, hörte sie plötzlich Frauenstimmen, hob den Kopf und sah Schabirs Mutter und zwei weitere Frauen aus dem Dorf, die eine Karre vor sich herschoben. Von den Hirtenjungen war keine Spur. Als die Frauen bei Ajah angelangt waren, fragte Ajah sie: „Wo sind denn die Jungen?“

Schabirs Mutter lachte: „Die habe ich zum Pflügen geschickt.“

Sie hatte eine Spitzhacke mitgebracht, ging an Ajah vorbei und machte sich wenige Schritte entfernt von ihr an die Arbeit. So gelang es den Frauen binnen einer Woche, die vom Erdbeben aufgetane Kluft um fast einhundert Meter zu verlängern und bis zum Fluss zu führen.

Während Ajah kraftvoll ihre Spitzhacke schwang, fragte sie Schabirs Mutter: „Verstehen die Jungen überhaupt was vom Pflügen?“

Schabirs Mutter lachte verschmitzt: „Ich habe ihnen alte Weißbärte zur Seite gestellt, die können’s ihnen zeigen. Jetzt, wo die Männer weg sind, müssen die Jungen lernen, wie man’s macht. Jetzt übernehmen sie die Männerarbeit.“

***

Nach kaum einer Woche schlossen sich Ajah weitere fünfzehn Helferinnen aus dem Dorf an. Nun ging die Arbeit noch rascher voran und der Graben wurde sechshundert Meter länger. Ihr Frühstück und ihr Mittagessen nahmen die Arbeiterinnen gemeinsam ein. Auf dem großen Tuch in ihrer Mitte gab es Brot, Butterschmalz, Joghurt, Quark, gekochte Eier. Die Frauen saßen und aßen lachend, erzählten einander Geschichten und in der Freude der anderen lebte Ajah auf.

Eines Tages, Ende Oktober, kündigte sich Regen an, während Ajah und ihre Helferinnen bei der Arbeit waren. Als Ajah die dunklen Wolken heraufziehen sah, mahnte sie zur Rückkehr ins Dorf. Die Frauen packten rasch ihre Sachen zusammen, luden sie aufs Maultier und in Handkarren und brachen auf. Unterwegs trieb alle die bange Frage um: „Wird der Graben das viele Wasser fassen und umleiten?“

Ajah blieb gelassen: „Wir müssen auf Gott vertrauen und abwarten.“

Als die Frauen zu Hause ankamen, war der Regen heftiger und abends sogar zu einem Wolkenbruch geworden. Die Häuser der Dorfbewohner blieben diesmal verschont. Der Graben hatte zumindest einen Teil des Wassers auf die Felder geleitet. Trotzdem gab es für Ajah und ihre Helferinnen erneut viel zu tun, denn die Wassermassen hatten den Graben überflutet.

***

Das Hochwasser bewegte fast alle Dorfbewohner dazu, Ajah und den anderen zu helfen, den Graben noch breiter und länger zu machen und sich die übrige Arbeit zu teilen. Während die einen das Vieh hüteten und Kinder betreuten, waren andere für die Verpflegung zuständig, wieder andere gingen Ajah zur Hand. Jeder übernahm täglich wechselnde Aufgaben. Nur Ajah arbeitete ausschließlich am Graben und wies die, die ihr halfen, in die Arbeit ein.

***

Anfang November war es endlich soweit. Zur großen Freude der Gemeinde hatten es die Dorfbewohner tatsächlich geschafft, den Graben bis nach Tschemtal zu verlängern. Sie ließen sich am Ufer nieder und beglückwünschten einander zu ihrem großen Werk. Eine Dorfbewohnerin freute sich: „Was die Männer wohl sagen werden, wenn sie wiederkommen und sehen, dass wir diesen gewaltigen Graben gebaut haben?“

Schabirs Mutter scherzte: „Die werden uns nicht glauben. Sie werden sagen, da war Hexerei im Spiel, oder wir haben uns Bauarbeiter geholt.“

„Ob sie uns glauben oder nicht“, sagte Ajah lachend, „ihr habt den Graben angelegt.“

Schabirs Mutter klopfte ihr anerkennend auf die Schulter und umarmte sie.

***

Unterdessen war ein neues Jahr angebrochen, und die Bäume grünten wieder, als die Männer nach langer Abwesenheit ins Dorf zurückkehrten. Die Frauen empfingen sie vor Freude weinend und präsentierten ihnen stolz ihren Graben. Der hatte ihnen im vergangenen Jahr zwar viel Ärger und harte Arbeit beschert, doch er hatte auch mehr als eine Überflutung verhindert. Die Männer staunten nicht schlecht beim Anblick dieser großen Leistung. Drei Kilometer lang und fünfzehn Meter breit war der Graben geworden: ein richtiger Kanal. Und das Dorf benannte das Bauwerk nach Ajah Ayub. Sie genoss in der Region bald großen Respekt. Sobald schwierige Fragen auftraten, holten die Menschen sich Rat bei ihr – bei Ajah Ayub, die nie einen eigenen Sohn namens Ayoub hatte.

 

Das Projekt Untold – Weiter Schreiben Afghanistan ist eine Initiative der KfW Stiftung in Kooperation mit „Untold – Write Afghanistan“ und Weiter Schreiben. Dieser Text ist zuerst auf Englisch im Rahmen von „Untold – Write Afghanistan“ erschienen. 

Hier können Sie den Briefwechsel zwischen Fatema Key und der Schriftstellerin Svenja Leiber lesen.

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