Eine dreißigjährige Frau
Sie war doch von dieser Welt, wo die schönsten Dinge
das ärgste Los trifft,
und, Rose, war ihr zu leben, wie die Rosen leben,
ein kurzer Morgen nur vergönnt.
François Malherbe
Sie war nach Hause gekommen und stand nun vor dem angelaufenen Spiegel an der feuchten Wand des winzigen, kaum beleuchteten Badezimmers. Sie starrte auf das Bild ihr gegenüber und sah alles: Die Nase, die sich schmal von der Stirn zu den Nasenlöchern hin etwas verbreiterte, kam ihr nun gebogener vor als noch am Morgen. Der frühere Glanz ihrer kreisrunden Augen war nun stumpf, ihre vom exzessiven Alkoholgenuss hervorstehenden Wangen glänzten umso mehr. Nicht gesund und vor Wohlergehen strotzend, sondern eher wie bei einem Kind, das an Mangelernährung leidet.
Ihre sehr dunkle Haut war hart geworden. Sie dachte daran, wie sie als Kind immer geklagt hatte, die dunkelste der vier Schwestern zu sein, und wie ihr Vater, um sie zu trösten, ihr dann erzählte: Bevor die Europäer nach Afrika gekommen waren und sich weiße und schwarze Gene vermischt hatten, sei es hier genau umgekehrt gewesen – so wie in Europa, wo blonde Personen sich braun- oder rothaarigen überlegen fühlten, sei man in Afrika umso angesehener gewesen, je dunkler man war.
„Seidige, glänzende Haut“, hatte der Vater betont, „wie deine.“
Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge und winkte ab, als wolle sie diesen Spruch ihres Vaters zum Teufel jagen. Dann riss sie das Fenster auf, das den Blick auf den riesigen Müllhaufen hinter dem Haus freigab. Geblendet kniff sie ihre Augen zu, drehte sich wieder um und sah erneut in den Spiegel. Sie schnitt eine Grimasse, als hätte sie auf einmal etwas sehr Unangenehmes gesehen, und in dem Moment zeigten sich deutlich um ihre Augen herum etliche Falten. Sie bewegte ihr Gesicht noch näher an den Spiegel heran und entdeckte zwei Linien, die sich leicht geschwungen von der Nase bis zu den Mundwinkeln zogen.
„Nun bin ich also alt“, seufzte sie zu der Frau, die sie da aus dem Spiegel heraus ansah. „Dabei bin ich doch gerade einmal dreißig!“
Sie schloss die Augen und ließ innerlich noch einmal die Szene von vor ein paar Stunden vorbeiziehen. Josefina stand aufrecht, den Rücken gegen das Schaufenster des Ladens Nr. 36 im Shopping Center Luanda gelehnt. Sie wartete auf den Inhaber, um sich zu bewerben.
Es war Samstag und viel Betrieb. Nachdenklich beobachtete sie die Geschäftigkeit der Herren in Schlips und Kragen, andere wiederum nur in kurzen Hosen und T-Shirt, allein oder mit Frau und Kindern. Ihr fiel auf, wie sehr sie selbst von der feinen Umgebung dort abstach. Sie trug ein paar blaue Jeans, schon leicht verwaschen, eine enge, schon etwas verschlissene Nylonbluse. Ihre Turnschuhe waren staubig, denn als sie aus dem Haus gegangen war, hatte sie vergessen, ein feuchtes Tuch mitzunehmen, um sie später abzuwischen. Auch ihre nicht mehr ganz neuen eingeflochtenen Zöpfe hätten eine Auffrischung nötig gehabt.
Inzwischen war auch der Besitzer des Ladens gekommen. Er war an ihr vorbeigegangen, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Nach zwei Minuten hatte er dann von innen gegen die Glastür geklopft und sie hereingewinkt.
„Frau Josefina?“ hatte er gefragt, und sie hatte den Kopf gehoben. Ein junger Inder mit freundlichen Augen in einem eher länglichen Gesicht. Alles andere an ihm wirkte grobschlächtig. Seine riesige Nase und sein ebenso gigantischer Mund waren für sein Gesicht zu groß. Sein schwarzes, gelglänzendes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine überdimensionierten Ohren schmückten zwei winzige goldene Ohrringe. Nur sein Anzug passte wie angegossen zu seiner hochgewachsenen, schlanken Gestalt.
„Ja, Senhor Leonardo“, hatte Josefina nach ihrer minutiösen Betrachtung geantwortet.
Plötzlich hatte ihr Senhor Leonardo sanft mit dem Handrücken über die Wange gestrichen.
„Welche Gesichtscreme benutzen Sie?“ Noch bevor sie antworten konnte, hatte der Mann weitergeredet. „Sie sollten Feuchtigkeitscreme nehmen. Ihre Haut ist sehr trocken. Und Ihre Augenbrauen? Lassen Sie Ihre Augenbrauen nicht zupfen?“
Josefina hatte nur auf die Finger gestarrt, die ihr nun über ihre Brauen strichen, als wollten sie den Staub, von dem sie wusste, dass er auf ihnen lag, wegwischen, und dachte bei sich, dass dieser Mann die weiblichsten und gepflegtesten Hände besaß, die sie je gesehen hatte.
Da sie nicht antwortete, fragte er noch einmal: „Nun, Frau Josefina?“
Sie schluckte. „Doch, schon, aber heute hatte ich es eilig und es war keine Zeit!“
Der Mann mit den deutlich femininen Bewegungen klopfte nun mit der Hand gegen ihren vom Genuss von zu viel Gerste entzündeten Bauch. Josefina zog ihn instinktiv ein und streckte so ihre großen Brüste vor.
Der Inder trat zwei Schritte zurück, wie um sie besser betrachten zu können.
„Welche Oberweite haben Sie?“
„Nun …“, murmelte sie, ohne sicher zu sein, dass der Mann sie gehört hatte.
„Zeigen Sie einmal Ihr Profil.“
Josefina schaute den Mann voller Unruhe an. Der Begriff „Profil“ war in ihrer Kultur nicht geläufig. Sie war verlegen.
Doch der Mann, der sich nun selbst so hinstellte, dass er sie von der Seite betrachten konnte, fuhr fort:
„Wissen Sie, Sie entsprechen genau dem Profil der Person, die wir suchen. Wir suchen eine schwarze Frau, die nicht nach den üblichen Vorgaben groß und schlank ist. Also eher … afrikanisch, rund und füllig.“
Josefina rang sich ein Lächeln ab, starrte auf seinen beim Reden auf und ab hüpfenden Adamsapfel.
„Sie können mit dem Computer umgehen und haben Erfahrung im Umgang mit Kunden, hat mir Herr Tadeu versichert, der Sie mir empfohlen hat. Aber Sie wissen, dass ich noch eine solche Empfehlung habe, von einer anderen Person, der ich auch einen Gefallen schulde. Das andere Mädchen ist heller und deutlich jünger als Sie, eigentlich fast noch ein Teenager. Die Arbeit hier ist recht anspruchsvoll und verlangt viel Verantwortungsbewusstsein.“
Er machte eine Pause und strich mit einer Hand über ihr eingeflochtenes Haar, wie um es zu glätten.
„Wie lange haben Sie schon diese Zöpfe?“ Er klatschte in die Hände, wie um sie von Staub zu befreien. „Insofern sind Sie natürlich im Vorteil gegenüber dem jungen Mädchen. Sie kommt sich morgen vorstellen.“ Er stellte sich hinter sie. „Was ist mit Ihren Beinen? Der Rock unserer Dienstkleidung ist sehr kurz.“
Josefina sah sich die Hosenbeine hochziehen, um zu zeigen, was sie für ihre besten Attribute hielt. Der Mann hielt sich lange damit auf, ihre Beine zu betrachten, fuhr dann mit einem Gesichtsausdruck fort, wie man ihn von vielen Frauen kennt, die sich verächtlich über etwas äußern, das sie selbst gerne hätten: „Nun, wie ich sagte, sie kommt sich morgen vorstellen.“ Jetzt nahm der Mann ihren Mittel- und Ringfinger: „Maniküre machen Sie nicht?“ Dann, nachdem sich die Falten auf seiner Stirn wieder geglättet hatten: „Wie ich schon sagte, erst wenn wir die junge Frau gesehen haben, werden wir Ihnen etwas sagen können. Gehen Sie also erst einmal nach Hause und warten Sie ab. Wir rufen Sie an.“
So war sie also nach Hause gekommen, mit einem Gefühl der Demütigung und der Unbrauchbarkeit, wie sie es nie zuvor gekannt hatte.
Und in diesem Moment, immer noch ihr Gesicht betrachtend, dachte sie:
„So also geht das zu Ende. So also verwelkt eine Frau. Aber mit dreißig schon?“
Sie hatte schon bessere Tage gesehen. Auch wenn sie über diese Zeit ihres Lebens nur mit ganz wenigen sprach, nun, da sie öfter in die Kirche ging. Bis zu ihrer ersten Schwangerschaft hatte sie nie eine Beziehung mit einem alleinstehenden Mann gehabt, nicht einmal mit einem Mann, der jünger war als zumindest vierzig. Feine Restaurants, Ausflüge in luxuriösen Autos, Reisen ins Ausland, Glamour, Feste und Diskotheken, all das war ihr Leben gewesen, von fünfzehn bis fünfundzwanzig. Sie rühmte sich, in diesen zehn Jahren nicht ein einziges Mal ein Taxi genommen zu haben. Sie hatte nur vor die Tür gehen und ein paar Schritte tun müssen, und schon hielt ein Auto an.
Mit fünfundzwanzig hatte sie sich entschlossen, erstmals mit einem Mann zusammenzuziehen, einem einfachen jungen Mann, dreiundzwanzig Jahre alt, der sich mit dem zufriedengab, was ihre reichen Geliebten wie satte Hunde von ihr übrig gelassen hatten. Doch das bisschen Lebensfreude und Kraft, das ihr nach den Nächten in Diskotheken und ihrem promiskuitiven Sexualleben, den Alkohol- und Drogenexzessen geblieben war, erschöpfte sich bald im Alltag der Ehe, die immerhin drei Jahre hielt, doch geprägt war von täglichem Streit, durchwachten Nächten auf Krankenhausbänken, langen Fußmärschen und der ständigen Sorge um ihr Überleben.
Nun war sie da, wo sie war – mit dreißig am Ende! Ihr Bruder hatte schon recht gehabt, als er sagte, in zehn Jahren hätte Josefina bereits all das erlebt, wofür andere Mädchen zwanzig bräuchten. Wie jemand, der beim Spiel alles auf eine Karte setzt, hatte sie alles auf einmal gelebt. Und stand nun als Verliererin da!
Später, nachdem sie hinter dem Haus mit den Nachbarinnen ein paar Flaschen Cuca-Bier getrunken hatte, hatte sie übertrieben heiter von dem Vorstellungsgespräch erzählt und die exaltierten Gesten des Ladenbesitzers beschrieben.
Die Nachbarinnen hatten einander bei ihrer Erzählung still angeschaut und Blicke gewechselt, als wollten sie sagen „Die Ärmste!“ Da legte Josefina ihr Gesicht auf ihren Unterarm über den Knien und fing an zu weinen.
Sie ging früh schlafen. Zuvor hatte sie noch fast eine Stunde vor dem Spiegel verbracht, ihr Gesicht betrachtet, in dem jede Sekunde eine neue Falte hinzuzukommen schien.
Mitten in der Nacht schreckte sie auf. Sie setzte sich hin, die Füße auf dem Boden. Ihr Kopf schmerzte höllisch, sie hatte es wohl mit dem Bier übertrieben. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, um den Schlaf zu vertreiben, als sie spürte, dass in ihrem Gesicht etwas war, das da vor dem Schlafengehen noch nicht gewesen war. Hatte das auch mit dem Trinken zu tun? Noch einmal tastete sie sich übers Gesicht. Es war immer noch da. Sie sprang auf, dass die Bettfedern quietschten, und hüllte sich in ein Kitengue-Tuch vom Stuhl neben ihrem Bett. In der Dunkelheit folgten ihre Füße dem Weg, den sie auswendig kannten: Sie trat aus dem Zimmer, ging durch das düstere Wohnzimmer und von dort ins Bad. Hier endlich betätigte sie den Lichtschalter, aber es tat sich nichts. Erst jetzt merkte sie, dass der Strom abgestellt war. Nervös zündete sie die Kerze an, die immer im Badezimmerschrank lag, und führte das Licht und ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel heran.
Ein kalter Schauer überfuhr sie. Heftig schüttelte sie den Kopf. Mit zitternden Händen zündete sie noch eine Kerze an. In dem nun etwas helleren Licht betrachtete sie sich genauer. Es war wirklich so. Unzählige Falten, wahrhaftige Furchen, zogen sich kreuz und quer über ihr Mädchengesicht. Senkrecht tief von der Stirn, waagrecht unter den geröteten Augen, zwischen Nase und Mund und auch quer über die Stirn, über die schlaffen Wangen. Es war das älteste, hässlichste Gesicht, das sie je gesehen hatte.
Die Kerzen fielen ihr aus der Hand ins Waschbecken. Sie schlug ihre Hände vor das fremde Gesicht und schrie: „Nein! Nein! Neiiiin!“
Sie brach rücklings auf dem feuchten Zementboden zusammen. Dort fand sie am nächsten Morgen ihr jüngerer Bruder. Den Hinterkopf seiner toten Schwester im Schoß weinte er:
„Im Tod bist du noch schöner, Schwester.“