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Der Truthahn

Ameera Badawi
Weiter Schreiben, Bild zum Text von Ameara Badawi "Der Truthahn" © Abdelrahman Mahmoud
© Abdelrahman Mahmoud: Der heilige Truthan, Mixed Media, 20 × 27 cm (2022)

Seit drei Tagen zerrissen sich die Leute im Dorf das Maul, redeten von nichts anderem, machten einen großen Bogen um sie. Denn unrein, mit Blutfleck auf dem Kleid, war sie aufs Feld gegangen und hatte damit Verheerendes ausgelöst: verdorbene Auberginen und für den Landbesitzer eine Missernte. So wurde sie, die sich über Sitte und Anstand hinweggesetzt hatte, vom Acker gejagt. Als ihre älteste Tochter die Arbeit übernehmen wollte, vertrieb man auch sie, aus Angst, sie bringe Unglück.

Der Ehemann war noch in der Stadt, seit vierzig Tagen und Nächten. Na’ama und die Töchter hatten seine Mutter am Hals, die von einem Tag in den anderen lebte. Gestern hatte sie am Herd gesessen und Malvenblätter sämig gequirlt. Nachdem sie zum Schluss die Mischung aus gebratenem Koriander und Knoblauch hinzugegeben hatte, aßen sie gemeinsam, bis nichts mehr übrig war.

Als der heilige Hahn krähte, stieg Na’ama aus ihrem Nest, machte sich mit ihrer Ältesten auf ins Dorf, am Kanal entlang. Rechts und links Felder. Na’ama versuchte den Vorarbeiter umzustimmen, aber er ließ sich nicht erweichen, verwehrte ihr die Arbeit. Im Dorf angelangt, kamen ihnen Kinder entgegen, die Schiefertafel unter dem Arm, Träume und Rückschläge im Herzen. Sie liefen zur Schule, an ihnen vorbei trabte das Vieh auf die Weide und hinterließ seinen Mist mitten auf dem Weg. Na’ama schaute die Tochter an. Sie verstand und ging zu einem Haus. Indessen folgte die Mutter dem Dung, hob ihn auf und legte ihn auf den Plastikteller, den die Tochter besorgt hatte. Sichtlich angewidert nahm diese ein Maisblatt zur Hilfe und hielt sich die Nase zu. Als sie genug zusammen hatten, kehrten sie heim.

Hinter dem Haus knetete die Mutter den Mist mit Stroh zu Fladen und legte sie zum Trocknen in die Sonne. Damit wurde der Ofen geheizt, viel besser als mit Holz. „Das beste Brot wird auf Mist gebacken“, sagte die Großmutter.

Am nächsten Tag bot die Mutter die Fladen überall im Dorf zum Verkauf an. Keiner wollte sie haben, bis auf eine alte Frau. „Komm hoch, Na’ama!“, rief sie aus dem Fenster. Auf ihrem Dach, das war allgemein bekannt, thronte der heilige Truthahn und hielt Teufel und Raben fern. Na’ama und ihre Tochter folgten der Einladung. Im zweiten Stock gab es eine Terrasse, auf der drei kollernde Gockel herumliefen. Na’ama stellte sich schützend vor die Tochter, die mit ihrer roten Kleidung leicht zum Angriffsziel hätte werden können. Schnell huschte die Tochter ins Zimmer zu der Alten, küsste ihre Hand und setzte sich auf ein frisch gepolstertes Sofa. Na’ama stieg aufs Dach und sah ihn: den heiligen Truthahn mit seinem imposanten, blutroten Kamm auf dem Kopf. Er plusterte sich auf, der Wind strich über das Gefieder. Als er Na’ama sah, verstummte er, verharrte reglos auf der Brüstung, hoch über alten Mistfladen. Na’ama machte sich an die Arbeit, legte ihre Fladen auf der anderen Seite ab. Immer wieder schaute sie ehrfürchtig zu dem heiligen Truthahn, denn er verjagte die Teufel, trotzte dem Todesengel, der auf dem Friedhof gegenüber wohnte, und schüchterte die Raben ein. Er brauchte nur zu kollern und schon flatterten sie in dem riesigen Baum, wie aufgescheucht von Kindern, die ihnen Blindheit an den Hals wünschten. Sie stoben davon und nahmen das Unglück mit sich. Wie aus dem siebten Himmel meldete sich der Hahn jeden Morgen, Ansporn für die Dorfbewohner, Nester und Häuser zu verlassen und ihrem Tagewerk nachzugehen. All das war nur ihm zu verdanken.

Na’ama ging in den zweiten Stock hinunter. Die Alte bat sie, die Tochter da zu lassen, damit sie ihr Essen machte und die Medikamente gebe. Mutter und Tochter verständigten sich wortlos. Na’ama gab ihr Einverständnis und versprach der Alten, noch weitere Fladen zu holen. Zu Hause lieferte sie der Schwiegermutter die Münzen ab. Diese ging sofort ins Dorf, holte Muskraut und Rucola. Na’ama benetzte mit einem Schluck Wasser die ausgedörrte Kehle, die nichts als grüne Salatstängel und trocken Brot von den Nachbarn gekostet hatte, im Blick die hungrigen Töchter. Da meldete sich in ihrem Kopf der Teufel. Was mache ich hier eigentlich?, dachte sie. Von den Fladen werden meine Kinder nicht satt. Sie hassen Muskraut, aber ein Truthahn, das wär was. Der reicht für eine ganze Woche. Ich gehe da wieder hin. Die Große wird mir helfen, das Vieh zu fangen und zu schlachten. Dann kommt der Plastikteller in den Korb und der Hahn darauf. Den ganzen Teller wird er füllen und die Kinder werden endlich satt.

In einer Hand den Korb mit Fladen, in der anderen den Plastikteller machte sich Na’ama auf den Weg. „Ist das dein Ernst, Mama? Wir sollen den heiligen Truthahn essen?“, rief die Tochter entsetzt. „Dann holt uns der Teufel. Vielleicht ist der Gockel giftig?“ „Mach dir keine Gedanken“, sagte die Mutter, „der kann uns nichts anhaben, wir machen aus seiner Zunge eine leckere Suppe.“ „Einverstanden!“ Mit einem Messer stieg Na’ama aufs Dach und schnitt dem heiligen Truthahn die Kehle durch. Mutter und Tochter kehrten heim. Nachts, mit der Gaslampe auf dem Tisch, zerlegte die Großmutter das Tier und alle aßen sich satt. Muluchiya und trockenes Brot blieben unangerührt. Dann meldeten sich bei der Tochter Schuldgefühle, leise. Nicht wegen des Hahns oder der Alten, sondern wegen der Raben in dem riesigen Baum.

Am nächsten Morgen wollten Na’ama und die Tochter wieder Mist einsammeln, doch draußen war es menschenleer. Im riesigen Baum Rabe an Rabe. Der heilige Truthahn war wie vom Erdboden verschluckt, seit gestern hatte ihn keiner gehört, keiner gesehen. Niemand bot mehr dem Todesengel die Stirn. Im Dorf war alles zum Erliegen gekommen. Die Wasserkrüge waren leer, Groß und Klein hatten Hunger. Gottes Licht war verhängt. Nun standen dem Todesengel die Tore offen. Nachts patrouillierte er mit gehäuteten Füßen durch die Straßen. Jeder hörte ihn an seiner Schwelle und betete, dass er nicht an die Tür pinkelte.

Zwischen Na’ama und dem Dorf lagen der Kanal, ausgetrocknet oder leergetrunken vom Todesengel, und eine Palme, ausgehöhlt vom Blau seines Fingers. Doch er kam immer näher. Na’ama zog ihre Kinder schützend an sich. Sobald es dunkel wurde, bekam die Älteste Fieber. Sie sah einen Raben. „Mama, da ist er! Genau über dir!“, rief sie. Die Lampe erlosch. Angst machte sich breit. Na’ama wurde bewusst, was sie getan hatte. Der Teufel steckte hinter allem, auch hinter dem Blutfleck, der ihr Leben zerstört hatte.

In der folgenden Nacht kam Onkel Ali, der Mann der alten Frau, zurück aus der Stadt, wo er seine Kinder besucht hatte. Am Bahnhof war niemand, um ihn zu empfangen. Eine triste Heimkehr. Alleine lief er, auf seine Krücke gestützt, den weiten Weg ins Dorf und schimpfte über die verrückten Bewohner. Die Erde ächzte unter seinem Rollkoffer. Verärgert, weil Seyyed, der Barbier, ihn nicht mit dem Esel abgeholt hatte, pinkelte er auf seine Schwelle. Ein Blick auf die Taschenuhr verriet, dass es Zeit für das Abendgebet war, aber stattdessen hörte er das Gequake gläubiger Frösche und das Bellen gottgefälliger Hunde. Zu Hause empfing ihn seine Frau mit einer Schüssel warmem Wasser. Sie massierte seine Füße mit Salz und Zitrone und erzählte ihm, was im Dorf los war. Die Alte war im Bilde, wer es verbrochen hatte, hatte aber auf ihren Mann warten wollen. Er wusste, welche Bedeutung der Hahn für die Leute hatte. Englischroter Kamm, göttliche Federn, Inspiration für Schneider bei der Herstellung von Kleidern für Jungfrauen und alte Jungfern. Seiner Intuition folgte das ganze Dorf.

Onkel Ali ging zum riesigen Baum. Beim Anblick der Raben kam ihm eine Idee. Alles würde wieder gut. Er eilte nach Hause, setzte sich eine rote Mütze auf und ging mit seiner Frau zu den drei Hähnen. Sie wählten den mit dem größten Kamm und der lautesten Stimme aus. Allerdings war sein Kamm nicht englischrot. Deshalb halfen sie mit Lippenstift nach. Sie trainierten das Tier fünf Nächte lang im Wechsel, zu stolzieren wie der heilige Hahn und so sicher auf der Mauer zu stehen wie er. Sie ließen ihn aus dessen Napf fressen und in seinem Nest schlafen, bis er ganz in seiner neuen Rolle aufgegangen war. Am Morgen des achten Tages stieg Onkel Ali, begleitet von seiner Frau, auf das Dach. Er holte den Ersatzhahn aus dem Nest, flüsterte ihm etwas zu und stellte ihn auf die Brüstung. Der Hahn schaute die beiden mit großen Augen an, blickte dann in den Rabenbaum, kollerte und stolzierte erhaben auf der Brüstung. Auf der Stelle stoben die Raben davon, der Todesengel suchte das Weite. Und schon stiegen im Dorf alle aus Häusern und Nestern, Kinder eilten mit Schiefertafel zur Schule. Das Licht strahlte wieder.

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